Nick Carter – Das Opfer eines Giftmischers – Kapitel 8
Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Das Opfer eines Giftmischers
Ein Detektivroman
Auf der richtigen Fährte
Als der Detektiv zu Hause eintraf, fand er zu seiner Überraschung Ida vor, welche kurz zuvor gekommen war und ungeduldig ihn erwartet hatte.
»Nun, was gibt es?«, begrüßte Nick Carter sie herzlich. »Allem Anschein nach hat sich Wichtiges zugetragen, denn sonst würdest du deinen Posten kaum verlassen haben!«
»Allerdings, Nick, ich erklärte, wegen meines Koffers rasch zum Expressagenten laufen zu wollen, so kam ich auf unverdächtige Weise los«, berichtete Ida, ihm gegenüber Platz nehmend.
»Doch höre, denn ich muss gleich wieder fort. Ich vergaß dir vorhin zu sagen, dass Atherson durch den Fernsprecher angerufen wurde und daraufhin ausgegangen war. Bald nachdem du dich entfernt hattest, läutete es, und ein Mann, der durchaus nicht der besseren Gesellschaft anzugehören schien, verlangte Mr. Atherson zu sprechen.«
»Aha, der von unserem Mann erwartete Besucher!«, schaltete Nick erwartungsvoll ein.
»Der Hausherr muss den Mann ganz entschieden erwartet haben«, bestätigte Ida, »denn er trat dicht hinter dem öffnenden Mädchen auf den Korridor und bedeutete ihr, es sei schon all right, und sie solle nur wieder zum Souterrain hinuntergehen; er selbst führte seinen Besucher in das Bibliothekszimmer, und du kannst dir denken, dass ich meine Gelegenheit wahrnahm und es fertigzubringen wusste, die Unterredung der beiden Männer unbemerkt etwas zu belauschen.«
»Kannst du mir diesen Besucher näher beschreiben?«, fragte Nick Carter dazwischen.
»Zuverlässig«, erklärte Ida und gab damit ihrem Vetter eine eingehende Beschreibung des ungeschlachten Burschen, der auf sie den Eindruck eines gewerbsmäßigen Preisboxers gemacht hatte.
»Es ist Stediger gewesen«, brummte Nick Carter.
»Ja, so nannte sich der Mann«, bestätigte Ida, um lebhaft fortzufahren: »Natürlich konnte ich nicht alles hören, was die beiden miteinander verhandelten, doch so viel wurde mir klar, dass es sich um eine Abmachung zwischen beiden handelte. Atherson sollte eine bestimmte Geldsumme nach einem nicht näher bezeichneten Platz bringen, und zwar heute Nacht um ein Uhr. Dann hörte ich, wie jener Stediger noch sagte: ›Sie werden mit einem Wagen zur Stelle sein und das Lösegeld zahlen, dann liefern wir ihnen das Mädchen aus!‹«
»Well, deine Nachricht ist höchst wichtig, und sie bringt zugleich auch deine Beschäftigung im Athersonschen Haus zum Abschluss«, versetzte Nickt Carter, sich zugleich rasch erhebend. »Es ist am besten, du kommst gleich mit mir – natürlich nicht in deiner jetzigen Kleidung. Weißt du was, du siehst allerliebst in Männerkleidung aus. Lege sie schnell an, dann wirst du der hübscheste junge Bengel von ganz New York sein.«
»Schmeichler!«, drohte seine Cousine lächelnd mit dem Finger.
Hurtig ging sie daran, ihre Verkleidung anzulegen, und als sie eine Viertelstunde später wieder ihre Aufwartung machte, da hatte sie sich wirklich in den übermütigsten jungen Burschen verwandelt, welcher je das Straßenpflaster der Weltstadt betreten hatte, und Nick Carter versicherte lachend, sie sähe zum Anbeißen aus.
Auf raschestem Wege begaben sich die beiden nun zum Athersonschen Wohnhaus.
Als sie sich diesem näherten, meinte der Detektiv: »Well, ich gäbe viel darum, wüsste ich, ob unser Mann daheim ist oder nicht.«
Er unterbrach sich, denn er gewahrte in diesem Augenblick auch schon einen Mann, der von der anderen Straßenseite her schnell dem Haus zustrebte, die Freitreppe erstieg und gleich darauf durch die Haustür verschwand.
»Da hast du deine Frage bereits beantwortet, Nick«, erklärte Ida lachend. »Es war Atherson selbst!«
»Umso besser – bleibe hier auf der Lauer, und ich werde um die Ecke laufen und einen Wagen besorgen.«
Wenige Minuten später kam der Detektiv schon wieder zurück und nickte Ida befriedigt zu.
»All right, nun können wir auf unseren Mann in aller Gemütsruhe warten!«, erklärte er.
»Wäre es nicht am besten, wir würden Atherson ruhig seine Schwester wieder zum Haus zurückbringen lassen?«, meinte Ida, nachdem sie von Nick Carter über die Abenteuer des verflossenen Abends verständigt worden war.
»Ein schöner Gedanke, aber es kommt in der Regel anders«, entgegnete Nick. »Atherson wird seine Schwester unter keinen Umständen zum Haus zurückbringen, sondern mit ihr in aller Eile den Staat zu verlassen suchen. Ist er einmal mit den Unglücklichen außerhalb der Grenzen des Staates New York, so ist ihr Schicksal so gut wie besiegelt. Wir dürfen nicht vergessen, dass der aalglatte Schurke, ebenso gut wie wir, ganz genau weiß, dass unser Verdacht nur aus Vermutungen besteht. Wir müssen deshalb unter allen Umständen ihm das Mädchen entreißen und dafür sorgen, dass es in richtige Behandlung kommt!«
Bald darauf kam ein Wagen die Straße herauf und hielt vor dem beobachteten Haus an.
»Atherson steht im Begriff, zu dem mit den Schurken vereinbarten Treffpunkt zu fahren«, flüsterte Nick Carter. »Begib dich um die Ecke, Ida, du wirst dicht vor Dr. Parkhursts Kirche den von mir gemieteten Wagen finden. Bedeute dem Kutscher, dass er weiter warten soll. Sobald du mein Pfeifen hörst, komme durch die Straße mit dem Wagen, denn Atherson wird dann in die andere Richtung fortgefahren sein.«
Kaum eine Minute später, als sich Ida kaum in dem Wagen zurechtgesetzt hatte, kam indessen Nick Carter schon nachgesprungen, bedeutete dem Kutscher, den hinter ihm kommenden Wagen nicht aus den Augen zu verlieren, und sprang selbst in die Kutsche, schnell den Schlag hinter sich schließend.
Fast in derselben Sekunde tauchte der andere Wagen auf; ihm nachzufolgen, war mit keiner besonderen Schwierigkeit verknüpft, denn er fuhr die Madison-Avenue bis zur 34th Street herunter, um dann in diese einzubiegen, wieder zur 5th Avenue zurückzufahren und diese bis zur 59th Street hinaufzurollen.
Dort nahm der Detektiv wahr, wie Atherson ausstieg, seinen Kutscher ablohnte und unmittelbar darauf einen anderen Wagen bestieg, welcher augenscheinlich schon längere Zeit auf ihn gewartet hatte. In dieser Kutsche fuhr Atherson bis zur 110th Street, rollte diese bis zur 7th Avenue entlang und durchfuhr dann die Letztere bis zur 125th Street.
Hier angelangt, verließ er den Wagen von Neuem, ohne indessen einen anderen vorzufinden.
»Well, unser Mann ist ein ganz schlauer«, bemerkte Nick Carter lächelnd. »Er fürchtet, verfolgt zu werden und sucht uns durch derartige Mätzchen abzuschütteln. Als ob wir nicht wüssten, dass er nach Inwood fährt!«
Nach kurzem Nachdenken beschloss Nick Carter, ebenfalls einen anderen Wagen zu nehmen.
Er konnte seine Absicht umso leichter ausführen, als Atherson unter einer Straßenlaterne stehen geblieben war und mit der Uhr in der Hand ungeduldig um sich schaute, augenscheinlich in Erwartung eines neuen von ihm bestellten Wagens.
Kaum hatte der Detektiv in einem benachbarten Leihstall sich ein neues Gefährt gesichert, als er von der 125th Street her ein Wagen herangerollt kam und unmittelbar vor dem Athersonschen Aufstellungsorte anhielt. Der Detektiv konnte genau beobachten, wie Atherson durch das herabgelassene Kutschfenster mit einer im Wagen befindlichen Person lebhaft verhandelte, um gleich darauf den Wagenschlag zu öffnen und sich gleichfalls in das Gefährt zu setzen. Nun fuhr dieses die 7th Avenue weiter hinauf.
Geschwind erteilte Nick Carter ihrem eigenen Kutscher die Weisung, den voranfahrenden Wagen nicht aus den Augen zu verlieren.
»Wetten wir, Ida, dass vor uns Atherson gemeinschaftlich mit Stediger nach Inwood fährt?«, meinte er frohgelaunt.
Nun ging es in langer Fahrt die Avenue hinauf, bis endlich Zentralbridge erreicht war, dort schwenkte der Athersonsche Wagen westlich ein, lenkte dann zum Boulevard hinüber und folgte diesem, bis schließlich der Vorort Inwood erreicht war.
»Well, hier in der Nachbarschaft wird der Handel wohl perfekt werden!«, sprach Nick Carter fröhlich. Doch er fühlte sich beim Arm ergriffen und sah, wie Ida durch das Fenster deutete.
»Schau dorthin, Nick! Ist das dort nicht Patsy?«
Nick Carter beugte sich vor und spähte durch die Finsternis. Er nahm eine schlanke Gestalt wahr, welche sich gerade hinter einem Bretterzaun duckte und augenscheinlich jemanden auf der anderen Straßenseite beobachtete. Augenblicklich ließ er die Kutsche anhalten, denn er glaubte deutlich, Patsy erkannt zu haben.
»Das nenne ich Glück!«, versetzte er erfreut.
»Nick Carters Glück!«, meinte seine Cousine lächelnd.
»Eile zu ihm, Ida, und verständige ihn!«, gebot der Detektiv unverzüglich.
Im Nu war Ida aus der Kutsche und näherte sich behände ihrem jungen Kollegen, während der Detektiv selbst nur eben lange genug im Wagen zurückblieb, um den Kutscher anzuweisen, sich in der nächsten Nachbarschaft mit dem Wagen außer Sicht zu halten und seine Rückkehr abzuwarten.
Inzwischen hatte die Athersonsche Kutsche ihre Fahrt immer mehr verlangsamt. Ida hatte recht gesehen, es war wirklich Patsy, der sich vor Vergnügen darüber kaum zu fassen vermochte, das schöne Mädchen in Männerkleidung vor sich zu erblicken.
»Wo ist Chick?«, fragte der Detektiv, der sich inzwischen mit den beiden wieder vereinigt hatte.
»Er folgt dem vorausfahrenden Wagen.«
»Chick hat doch ein angeborenes Spürtalent, er trifft immer das Richtige!«, flüsterte der Detektiv erfreut. »Well, wir folgen der Kutsche ebenfalls!«
Sie nahmen wahr, wie der Wagen plötzlich zur Seite bog und aus ihrem Gesichtskreis verschwand. Doch beim grellen Schein einer elektrischen Bogenlampe vermochten sie deutlich zu erspähen, wie eine Gestalt quer über die Straße eilte und dem Wagen nachfolgte.
Es war Chick. Als sie jedoch die nächste Ecke erreichten, vermochten sie weder diesen noch den Wagen zu erblicken. Als sie indessen an der darauffolgenden Straßenecke anlangten, tauchte Chick plötzlich vor ihnen auf.
»Pst! Es ist hier einsam, und man könnte unsere Stimmen hören!«, wisperte Chick ihnen zu. »Unser Wagen ist über den Bürgersteig gefahren und hält in jenem Block, wo die Bäume stehen!«
Nach der angegebenen Richtung ausspähend, nahm Nick Carter eine geringe, mit Bäumen bestandene Bodenerhöhung wahr. Die Gegend war vollständig häuserleer und zu einem derart verschwiegenen Rendezvous wie geschaffen. Dem Gehölz gegenüber zogen sich endlose, in vernachlässigtem Zustand befindliche Bauzäune entlang.
»Bleibt hier im Versteck zurück«, gebot Nick Carter. »Ich selbst will voranschreiten!«
»Tu das, Nick, doch behalte die andere Straßenecke im Auge, denn dort möchte sich jemand verborgen halten!«, warnte Chick eindringlich.
»Wie kommst du darauf?«, erkundigte sich der Detektiv.
»Well, Patsy und ich hatten Glück. Wir trafen die beiden Kerle, welche in der 52th Street auf dem Kutschbock gesessen hatten, und verfolgten sie bis hierher. Aus diesem Grund kamen wir auch noch hierher nach Inwood. Wir nahmen wahr, wie sie schräg gegenüber an einer schadhaften Zaunstelle innehielten und einer von ihnen meinte, das sei ein gutes Versteck.«
»Well, dann wirst du nach diesen beiden Männern sehen, während ich die Kutsche aufzufinden gehe«, entschied der Detektiv.
Damit machten sich die beiden auch schon auf den Weg, während Patsy mit Ida zurückblieb, jederzeit bereit, auf ein gegebenes Signal hin einzugreifen.
Auf Händen und Füßen krochen die Detektive zu beiden Wegseiten voran, stets darauf bedacht, sich in tiefer Finsternis verborgen zu halten.
Als Nick Carter die Öffnung, durch welche die Kutsche verschwunden war, erreichte, drang plötzlich raues Stimmengewirr an sein Ohr, und zugleich hörte er auch ein Pferd wiehern.
»Hol der Teufel die Pferde, kannst du sie nicht ruhig halten, Jim?«, murrte eine Stimme, deren Klang dem Detektiv unbekannt vorkam.
»Wie lange sollen wir hier eigentlich noch warten?«, machte sich bald darauf eine andere Stimme vernehmlich – und diesmal erkannte der Detektiv als ihren Besitzer – Mr. Atherson.
Er wartete die Antwort nicht ab, sondern schlich sich ebenso geräuschlos wieder zurück, denn er hatte alles in Erfahrung gebracht, was er zu wissen wünschte. Auf der anderen Straßenseite nahm er Chick wahr, und da er diesem nicht zuzurufen wagte, so machte er einen mächtigen, jedoch völlig lautlosen Luftsprung.
Er sah sich in seiner Erwartung nicht enttäuscht, Chick hatte seine Bewegung wahrgenommen und kroch nun vorsichtig über die Straße.
»Bist du es, Nick?«
»Jawohl, ich habe den Halteplatz des Wagens ausfindig gemacht. Hast du etwas gesehen?«
»Gewiss, hinter dem Bauzaun stecken zwei Männer. Ich hörte sie sprechen und weiß, dass sie auf jemanden warten, der wiederum jemand anderes mit sich bringen soll.«
»Natürlich Myrtle«, wisperte der Detektiv.
»Ganz meine Meinung; sie wissen, dass der Wagen auf der anderen Straßenseite hält.«
»Geh zurück, Chick, und bringe Ida mit Patsy hierher!«
»Nicht nötig, ich lasse unseren Schrei hören, der fällt den Burschen nicht auf!«
»All right, so mach voran!«
Gleich darauf ließ sich ein Käuzchen hören, und sein wiederholter klagender Schrei hatte zur Folge, dass Ida und Patsy schnell herangeschlichen kamen.
»Nun soll es mich wundern«, flüsterte Nick, »ob das Mädchen zum Wagen gebracht oder auf dieser Straßenseite in Empfang genommen wird!«
Statt jeder Antwort wies Ida mit der Hand die Straße hinauf. Deutlich konnten sie nun wahrnehmen, wie aus der Finsternis zwei weibliche Gestalten auftauchten.
»Voran, unsere Stunde ist gekommen!«, flüsterte Nick Carter entschlossen. »Folgt mir und richtet euch nach mir – und vor allen Dingen macht keinerlei Geräusch!«
»Wir haben es mit fünf Kerlen zu tun«, gab Chick zu verstehen. »Zwei hinter dem Zaun und drei bei der betreffenden Kutsche!«
»Dann zieht die Revolver erst, wenn wir den Wagen erreicht haben«, gebot Nick Carter. »Bringen sie das Mädchen herüber, dann müsst ihr beide, Chick und Patsy, euch Stediger, Atherson und den Kutscher vornehmen. Doch seid auf eurer Hut, denn Stediger ist ein Preisboxer, und auch Atherson ist kein Feigling. Ihr müsst ihnen die Hölle von Beginn an heiß machen!«
Er wendete sich an Ida.
»Du bekommst das Mädchen zu packen, und ich falle über die beiden Kerle her, welche sie herbringen werden«, schloss er dann.
Damit warf sich der Detektiv wieder auf die Erde und begann, sich durch die Finsternis so behutsam und rasch wie möglich voranzuschlängeln. Die anderen folgten seinem Beispiel.
Auf diese Weise vermochten sie sich bis auf wenige Fuß Entfernung an den haltenden Wagen heranzupirschen, ohne dass die davorstehenden Männer etwas von deren Annäherung gewahrten.
Es war für Nick Carter und dessen Getreuen zu dunkel, um viel erkennen zu können; sie sahen eben gerade noch scharf genug, um die unbestimmten Umrisse der wenige Schritte von der Kutsche entfernt stehenden Männer zu erkennen.
Während sie noch warteten, durchgellte ein schriller Pfiff die Nacht, und einer aus dem Kleeblatt meinte: »Sie kommen. Nun gebt mir das Geld!«
»Das Geld werdet Ihr bekommen, sobald ich das Mädchen gesehen habe«, gab Atherson zurück.
Rasche Schritte näherten sich. Von seinem Versteck aus vermochte Patsy wahrzunehmen, wie zwei Männer herankamen, welche in ihrer Mitte ein Mädchen führten.
Nick Carter hatte die Herankommenden gleichfalls bemerkt und flüsterte seinen Gehilfen den Befehl zu, so lange zu warten, bis die von ihnen anzugreifenden Personen sich in ihrer unmittelbaren Nähe befinden würden.