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Regel 6: Der Sammler versichert sich, dass die Zielperson alleine ist. Ihre Angst erkennt er am gesenkten Blick, am zögerlichen Schritt und dem Meiden von Menschenansammlungen.

Ich wähle das rotblonde Mädchen. Ihre Haare sind kurz geschnitten. Passen aber irgendwie nicht zu ihrem kantigem Gesicht. Die Sommersprossen, die über ihre Nase tanzen, lassen sie wie ein Kind aussehen. Dabei ist sie sicher über zwanzig.

Als sie lächelt, sehe ich, dass einer ihrer Schneidezähne schief ist. Das macht sie auf eine merkwürdige Weise hübsch.

Sie trägt Jeans, einen kohlschwarzen Rollkragenpullover und eine Lederjacke. Billiges Zeug.

Bei der ganzen Sache gibt es einen kritischen Punkt. Die Kapsel. Aber ich bin gut darin, die Kapsel an der Zielperson anzubringen.

Kurz spiegelt sich mein Gesicht in einem der Schaufenster. Dunkelbraune Haare fallen mir in die Stirn. Ist jetzt Mode so. Normalerweise mag ich meine Haare ganz kurz. Das fühlt sich dann gut an, wenn man mit der Hand darüber streichelt.

Auf meinem Kopf sitzt eine Baseballkappe. Etwas schräg. Dreckige Jeans und billige Turnschuhe machen meine Tarnung komplett. Wenn mich die Leute mustern, sehen sie nur irgendeinen Teenager.

Das rotblonde Mädchen biegt in die Anichstraße ab. Raus aus dem Getümmel der Maria-Theresien-Straße.

Ich synchronisiere. Passe meine Bewegungen den ihren an. Atme ihren Duft ein. Sie riecht nach Rosen und etwas Bitterem. Ich mag diesen Geruch.

Wenn mich meine Eltern bei dieser Beschäftigung sehen könnten, würde es keine Rolle mehr spielen, dass ich dieselbe Klasse zwei Mal wiederholt habe. Dass ich die falschen Freunde hatte. Dass ich ständig betrunken war. Dass sie sich einen anderen Sohn wünschten.

Jetzt wären sie stolz auf mich. Stolz, dass ich so eine Arbeit gefunden habe.

Es tut ihnen sicher leid, dass sie mich rausgeworfen haben. Aber sonst hätte ich die Ausbildung im Camp nicht bekommen.

Ein paar Schritte weiter vorne werde ich dem rotblonden Mädchen die Kapsel verpassen. Das ist die aufregendste Phase. Noch kann alles passieren.

 

Regel 5: Nachdem der Zielperson die Kapsel zugeführt wurde, ist der Prozess unumkehrbar.

Ich ziehe den Stift, in dem sich die Kapsel befindet.

 

Regel 4: Wird die Zielperson beim Zuführen der Kapsel verfehlt, besteht die Verpflichtung, alles zum Schutz der Organisation zu unternehmen.

Ein fetter Junge rollt auf das rotblonde Mädchen zu. Ich hebe meinen Arm. Im Winkel von 45°. Das entspricht genau der Regel. Ich stoße zu.

Der fette Junge kracht gegen die linke Schulter des rotblonden Mädchens. Der Winkel des Stifts zu dem rotblonden Mädchen verändert sich. Ich werde sie verfehlen.

Der fette Junge entschuldigt sich und zieht ab. Das rotblonde Mädchen lächelt. Wagt aber nicht ihn anzusehen.

In dem Augenblick trifft sie der Stift. Unterhalb des dritten Halswirbels.

Ich drücke den Knopf am Rand des Stifts. Die Kapsel sprüht ein paar Milliliter Flüssigkeit auf ihre Haut. Die zieht sofort ein.

Die Härchen in ihrem Nacken stellen sich auf. Ihre Muskeln spannen sich an. Dann passiert es.

Sie dreht sich um.

»Hey!«, sagt sie und ihre Hand nimmt meine. »Lust auf eine Tasse Kaffee?«

So verhalten sich alle Zielpersonen nach dem Eindringen der Kapsel.

»Klingt gut«, sage ich.

»Dann komm«, sagt sie.

Klingt ihre Stimme zu aufgeregt? Lächelt sie zu schüchtern? Etwas ist eigenartig an ihr. Besser ich bin vorsichtig.

Sie öffnet die Haustür des siebenstöckigen Wohnhauses. Wir steigen die Steinstufen hinauf in den dritten Stock.

Hier riecht es muffig, als wäre seit einer Ewigkeit nicht mehr gelüftet worden. An der Wand hängen bleiche Sonnenblumenbilder.

»Ich heiße Isabel«, sagt das rotblonde Mädchen, als sie die Wohnungstür aufschließt.

 

Regel 3: Es ist nicht gut, den Namen der Zielperson zu kennen.

Wenn schon. Kenne ich eben ihren Namen. Ändert nichts an dem, was ich gleich tun werde.

»Wie heißt du?«, fragt sie, als sie mich den Gang zum Wohnzimmer hinunter führt.

 

Regel 2: Dem Sammler ist es verboten, der Zielperson seinen Namen zu nennen.

»Karl«, flüstere ich.

Warum verstoße ich gegen die Regel? Nur weil ich mag, wie sie lächelt?

»Karl, was möchtest du?«, sagt sie. »Kaffee oder Bier? Oder selbst gemachten Holundersaft?«

»Saft wäre großartig«, sage ich.

Die Glasspitze in meiner Hosentasche fühlt sich eiskalt an. Ich bringe es hinter mich. Ohne von dem Saft zu trinken.

Isabel stellt zwei Halblitergläser mit hellgelbem Saft auf den gläsernen Couchtisch und lässt sich in das abgewetzte Ledersofa fallen.

Könnte ich nicht einfach eine Zeit lang neben ihr sitzen? Einfach ihre Wärme spüren … Ich muss es ja nicht gleich tun.

»Ich weiß, was du tun wirst«, sagt sie.

Hat sie die Glasspitze gesehen? Na und? Sie wird sich nicht daran erinnern. Die Kapsel sorgt dafür.

»Isokaton …«, sagt sie, »eliminiert die Wirkung der Kapsel.«

Ich starre sie an. Begreife nicht, was sie sagt.

»Du hast meine Hand genommen«, sage ich. »Mich gefragt, ob ich mitkommen will. Das zeigt, dass die Kapsel wirkt.«

»Ich hab dir was vorgespielt«, sagt sie.

Meine Finger umschließen die Glasspitze fester. Ich werde es hinter mich bringen. Sofort. Ohne zu zögern.

Ich packe sie an der Schulter. Spüre die Knochen unter dem Rollkragenpullover. Drücke sie zurück ins Sofa.

Sie sieht mich an wie ein verletztes Tier. Kaut mit dem schiefen Schneidezahn auf ihrer Lippe.

Ich fühle mich wie ein Stück Scheiße.

 

Regel 1: Das oberste Ziel des Sammlers ist das Wohl der Menschheit.

»Du wirst mir die Glasspitze durchs Auge rammen, bis sie meinen Hirnstamm erreicht«, sagt sie. »Dort sammelst du meine Angst ein. Ist doch so, oder?«

Ich lasse ihre Schulter los. Einen Augenblick lang glüht ihre Wärme noch auf meiner Handfläche.

»Richtig. Ich nehme den Menschen die Angst«, sage ich, »damit sie ein besseres Leben haben. Das ist doch was Gutes.«

»Was Gutes? Die Menschen sterben zwei Stunden, nachdem du ihnen die Glasspitze verabreicht hast“, sagt Isabel.

»Das ist nicht wahr!«, schreie ich. »Ich mache die Menschen glücklich, nicht tot!«

Schweiß brennt in meinen Augen. Aber ich wische ihn nicht weg.

»Wenn ein Mensch den Tod vor Augen hat«, erklärt Isabel, »blendet er alle anderen Gefühle aus. Er spürt nur noch Todesangst und die sammelst du mit dem Kästchen an deinem Gürtel ein. Und dann verwandelt das Kästchen die Angst in Strahlung.«

»Warum sollte ich das tun?“, sage ich.

»Jeder von uns besitzt ein Handy«, sagt Isabel. »Wir telefonieren. Surfen im Netz. Hören Musik. Und wann immer wir das tun, kriegen wir etwas von deiner gesammelten Todesangst ab.«

»Wozu?“, brülle ich. »Wem sollte das denn nützen?«

»Denen von oben«, sagt Isabel. »Die brauchen die Angst, um uns zu kontrollieren. Um uns zu lenken.«

Ihre Worte treffen mich wie Faustschläge. Etwas in mir heult auf. Es ist wahr, was sie sagt. Ich fühle es.

»Ist dir nicht aufgefallen, dass die Nachrichten ständig über die Wirtschaftskrise berichten?«, fragt Isabel. »Über die Inflation. Die Arbeitslosigkeit. Über Amokläufe. Die jetzt praktisch überall passieren.«

Ich zucke mit den Schultern.

»Diese Meldungen aktivieren die Todesangst, die über unsere Handys reinkommen«, sagt Isabel.

Ich mustere sie. Isabel lächelt vorsichtig. Dieses Lächeln hat etwas Warmes. Vielleicht sehne ich mich schon eine ganze Zeit lang nach so etwas.

»Was soll ich jetzt tun?«, flüstere ich.

»Kämpfe mit uns gegen sie. Du kennst die meisten der Angstsammler. Weißt, wie sie sich verhalten«, sagt Isabel. »Mit deinem Wissen könnten wir sie besiegen.«

»Wären wir beide dann zusammen?“, frage ich.

»Ja, das würde mir gefallen«, sagt Isabel. »Ich mag dich nämlich.«

»Gut, dann tue ich es“, sage ich und lächle.

Isabel lächelt zurück und wuchtet sich aus dem Sofa.

In dem Moment ramme ich ihr die Glasspitze ins Auge. Es zischt, als sich die Glasspitze durch ihr Gehirn durcharbeitet.

Isabel schreit. So wie sie alle schreien. Bald aber übertönt das Summen des Kästchens ihr Brüllen.

Sie bricht zusammen und neunzig Minuten später hört sie auf zu atmen.

Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird. Ich glaube, nicht lange. Dann werde ich der von oben sein und die Menschen lenken.

Copyright © 2012 by Peter Mair