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Die drei Musketiere – Zwanzig Jahre danach – 11. – 14. Bändchen – Kapitel II

Alexandre Dumas
Zwanzig Jahre danach
Elftes bis vierzehntes Bändchen
Fortsetzung der drei Musketiere
Nach dem Französischen von August Zoller
Verlag der Frankh’schen Buchhandlung. Stuttgart. 1845.

II. Der Prozess

Am anderen Tag führte eine zahlreiche Wache Karl I. vor den hohen Gerichtshof, der sein Urteil fällen sollte.

Das Volk belagerte die Straßen und füllte die Häuser in der Nähe des Palastes. Die vier Freunde wurden daher bei den ersten Schritten, die sie machten, durch das beinahe unüberwindliche Hindernis lebendiger Mauern aufgehalten. Einige stießen sogar Aramis so heftig zurück, dass Porthos seine furchtbare Hand aufhob und auf das mehlige Gesicht eines Bäckers fallen ließ, das, zerquetscht wie eine reife Weintraube, sogleich die Farbe veränderte und sich mit Blut bedeckte. Die Sache machte großen Lärm. Drei Männer wollten sich auf Porthos stürzen, aber Athos beseitigte den einen, d’Artagnan den anderen, und Porthos warf den Dritten über seinen Kopf. Einige englische Liebhaber des Faustkampfes würdigten die rasche und leichte Weise, wie dieses Manöver ausgeführt wurde, und klatschten Beifall. Es fehlte nicht viel, so wären Porthos und seine Freunde, statt niedergeschlagen zu werden, wie sie zu fürchten anfingen, im Triumph umhergetragen worden. Jedenfalls gewannen sie eins bei dieser herkulischen Kundgebung: Die Menge öffnete sich vor ihnen, und sie konnten bis zum Palast vordringen. Ganz London drängte sich an den Türen der Tribünen. Als die vier Freunde aber endlich Eintritt erlangten, fanden sie daher die ersten Bänke bereits besetzt. Das war nicht schlimm für Menschen, die nicht erkannt sein wollten. Zufrieden setzten sie sich daher auf ihre Plätze, mit Ausnahme von Porthos, der sein rotes Wams und seine grünen Beinkleider zeigen wollte und sehr bedauerte, dass er nicht in der ersten Reihe erscheinen konnte.

Die Bänke waren amphitheatralisch geordnet, und die vier Freunde übersahen von ihrem Platz aus die ganze Versammlung. Der Zufall hatte es gefügt, dass sie auf der mittleren Galerie eingetreten waren und sich gerade dem für Karl I. bestimmten Lehnstuhl gegenüber befanden.

Gegen elf Uhr morgens erschien der König auf der Schwelle des Saales. Er trat, umgeben von Wachen, aber mit bedecktem Haupt und mit ruhiger Miene ein und ließ in allen Richtungen einen Blick voll Sicherheit umherschweifen, als sollte er bei einer Versammlung ergebener, demütiger Untertanen den Vorsitz führen, nicht aber auf die Anklagen eines meuterischen Gerichtshofes antworten.

Parry, der ihn begleitete, stand hinter ihm.

Währenddessen betrachtete d’Artagnan seinen Freund Athos, auf dessen Antlitz sich alle Gemütsbewegungen ausprägten, die der König durch Selbstbeherrschung von dem seinen zu verbannen vermochte. Diese Aufregung des so kalten und ruhigen Mannes erschreckte ihn.

»Ich hoffe«, sagte er ihm ins Ohr, »Ihr werdet ein Beispiel an Seiner Majestät nehmen und Euch nicht alberner Weise in diesem Käfig umbringen lassen.«

»Seid unbesorgt«, erwiderte Athos.

»Ah! Ah!«, fuhr d’Artagnan fort, »es scheint, man fürchtet irgendetwas, denn seht, die Posten verdoppeln sich und tragen jetzt nicht nur Partisanen, sondern auch Musketen.«

»Dreißig, vierzig, fünfzig, siebzig Mann«, sagte Porthos, die Ankommenden zählend.

»Ei!«, versetzte Aramis, »Ihr vergesst den Offizier, Porthos; es lohnt sich jedoch, scheint mir, wohl der Mühe, ihn mitzuzählen.«

»Ho! Ho!«, sprach d’Artagnan und wurde bleich vor Zorn, denn er erkannte Mordaunt, der mit entblößtem Degen die Musketiere hinter den König, das heißt, den Tribünen gegenüber, führte.

Der Präsident Bradshaw ergriff nun das Wort und sagte zu dem erhabenen Angeklagten: »Stuart, hört die Verlesung der Namen Eurer Richter und sagt dem Tribunal, was Ihr etwa zu bemerken habt.«

Der König wandte, als wären diese Worte nicht an ihn gerichtet, seinen Kopf zur anderen Seite.

»Ich schreite zum Aufruf«, sagte Bradshaw, ohne dass er die Abwesenheit von 88 unter 161 Mitgliedern, das heißt von drei Fünfteln der Versammlung zu beachten schien.

Die Anwesenden antworteten mit starker oder schwacher Stimme, je nachdem sie den Mut ihrer Meinung besaßen oder nicht besaßen. Ein kurzes Schweigen folgte stets auf die zweimal wiederholten Namen der Abwesenden.

Als die Reihe an den Namen des Obersten Fairfax kam, rief eine spöttische Stimme, an deren Silberklang man eine Frau erkannte: »Fairfax, er ist zu gescheit, um hier zu sein.«

Ein ungeheures Gelächter empfing diese Worte, die mit jener Kühnheit ausgesprochen wurden, welche die Frauen aus ihrer Schwäche schöpfen, die sie vor jeder Rache sichert.

»Es ist Lady Fairfax«, versetzte d’Artagnan, »Ihr erinnert Euch, Porthos? Wir haben sie mit ihrem Gatten bei General Cromwell gesehen.«

Nach einem Augenblick war die durch diese sonderbare Episode gestörte Ruhe wiederhergestellt, und der Aufruf dauerte fort. Als er endlich beendet war, gab der Präsident Befehl, zur Verlesung der Anklageakte überzugehen.

Athos erbleichte; er sah sich abermals in seiner Erwartung getäuscht. Obwohl die Zahl der Richter unzulänglich war, sollte gegen seine Erwartung der Prozess dennoch vor sich gehen. Der König war also im Voraus verurteilt.

»Ich habe es Euch gesagt, Athos«, sprach d’Artagnan, die Achseln zuckend, »aber Ihr zweifelt immer. Nun fasst Euren Mut in beide Hände und hört, ohne Euer Blut zu sehr in Aufwallung geraten zu lassen, die Abscheulichkeiten an, die jener Herr im schwarzen Gewand seinem rechtmäßigen König ins Gesicht sagen wird.«

Karl I. hörte die Rede des Anklägers mit besonderer Aufmerksamkeit, ließ die schändlichen Beleidigungen über sich ergehen, beschwerte sich nicht und lächelte verächtlich, wenn der Hass zu sehr überströmte und der Ankläger sich im Voraus zum Henker machte. Es war eine furchtbare Anklage, die alle Unklugheiten des Königs als heimtückische Streiche, all seine Irrtümer als Verbrechen darstellte.

Feuer im Gesicht, mit geballten Fäusten und blutig gebissenen Lippen, schäumte Athos auf seiner Bank. Die Erbitterung und Wut über das empörende Vorgehen des Parlaments, über diese unerhörte Langmut des Königs hatten diesen unbeugsamen Arm, dieses unerschütterliche Herz in eine zitternde Hand, in einen bebenden Körper verwandelt.

In diesem Augenblick endete der Ankläger mit den Worten: »Gegenwärtige Anklage wird von uns im Namen des englischen Volkes vorgebracht.«

Auf diese Worte folgte ein Gemurmel auf den Tribünen, und eine andere Stimme, keine Frauenstimme, sondern eine wütende Männerstimme, donnerte hinter d’Artagnan.

»Du lügst!«, rief diese Stimme, »neun Zehntel des englischen Volkes verabscheuen, was du sagst!«

Diese Stimme kam von Athos, der, außer sich, hoch aufgerichtet, mit ausgestrecktem Arm, dem öffentlichen Ankläger so entgegentrat.

König, Richter, Zuschauer, alle wandten bei diesem kühnen Wort die Augen zu der Tribüne, auf der sich die vier Freunde befanden.

Mordaunt machte es wie die Übrigen und erkannte den Edelmann, um den sich die drei anderen Franzosen bleich und drohend erhoben hatten. Seine Augen flammten vor Freude. Er hatte die wiedergefunden, deren Aufsuchung und Tod er sein Leben weihte. Eine wütende Bewegung rief rasch zwanzig von seinen Musketieren in seine Reihe, und mit dem Finger auf die Tribüne deutend, wo seine Feinde waren, rief er: »Feuer! Feuer auf diese Tribüne!«

Aber schnell wie der Gedanke fasste d’Artagnan Athos um den Leib, Porthos packte Aramis, und sie sprangen von den Stufen hinab, stürzten in die Korridore, eilten über die Treppen und verloren sich in der Menge, während im Inneren des Saales die angeschlagenen Musketen dreitausend Zuschauer bedrohten, deren Angstgeschrei und Hilferuf der bereits entfachten Mordlust Einhalt taten.

Karl hatte die vier Franzosen ebenfalls erkannt. Er legte eine Hand auf sein Herz, um die Schläge zurückzudrängen, die andere auf seine Augen, um seine treuen Freunde nicht erwürgen zu sehen.

Bleich und zitternd vor Wut stürzte Mordaunt, den bloßen Degen in der Faust, mit zehn Hellebardieren aus dem Saal, durchwühlte fragend und keuchend die Menge und kehrte sodann zurück, ohne etwas gefunden zu haben.

Es herrschte eine unbeschreibliche Bewegung, und es verging mehr als eine halbe Stunde, bis die Ruhe wiederhergestellt war.

»Was habt Ihr zu Eurer Verteidigung zu sagen?«, fragte Bradshaw den König.

Das Haupt beständig bedeckt, erhob sich der König, nicht aus Demut, sondern im Bewusstsein seiner Herrscherwürde, und sprach mit dem Ton eines Richters, nicht eines Angeklagten: »Ehe Ihr mich fragt, antwortet mir. Ich war frei in Newcastle, ich schloss einen Vertrag mit den zwei Kammern. Statt Eurerseits diesen Vertrag zu erfüllen, den ich meinerseits erfüllte, habt Ihr mich den Schotten abgekauft, ich weiß, um keinen hohen Preis, und das macht der Sparsamkeit Eurer Verwaltung Ehre. Hofft Ihr aber, dass ich aufgehört habe, Euer König zu sein, weil Ihr den Preis eines Sklaven für mich bezahltet? Euch antworten, hieße die Königswürde vergessen; ich werde Euch also nicht eher antworten, bis Ihr das Recht, mich zu befragen, nachgewiesen habt. Euch antworten, hieße Euch als meine Richter anerkennen, und ich erkenne in Euch nur meine Henker.«

Mitten unter einer Todesstille setzte sich Karl ruhig, stolz und stets bedeckten Hauptes wieder in seinen Lehnstuhl.

»Nun wohl«, sprach der Präsident, als er Karl zu einem unüberwindlichen Schweigen entschlossen sah, »es sei, wir werden Euch trotz Eures Schweigens richten. Ihr seid des Verrats, des Missbrauchs der Gewalt und des Mordes angeklagt. Die Zeugen werden diese Anklage beglaubigen. Geht, und eine nächste Sitzung mag in Erfüllung bringen, was Ihr in dieser zu tun verweigert.«

Karl stand auf und entfernte sich, seinen Wachen folgend, mit Parry, der entsetzlich bleich hinter ihm ging.

Links von der Tür glänzte in düsterem Schimmer auf einem roten Teppich das weiße Beil mit dem langen, von der Hand des Nachrichters geglätteten Stiele das die Henker des Königs in unglaublicher grausamer Rohheit und um sich an des Königs erwarteter Angst zu weiden, dort hatten hinlegen lassen.

Als Karl sich dem Tisch gegenüber befand, blieb er stehen, wandte sich um und sagte lächelnd: »Ah! Ah! Das Beil! O wie geistreich und ganz würdig der Menschen, die nicht wissen, was ein Edelmann ist. Du machst mir nicht Bange, Henkerbeil«, fügte er bei und schlug darauf mit dem dünnen, biegsamen Rohr, das er in der Hand hielt, »und ich schlage dich, in christlicher Geduld wartend, bis du es mir zurückgibst.«

Mit königlicher Verachtung die Achseln zuckend, setzte er sodann seinen Weg fort und verließ die verdutzte Masse, die sich um den Tisch gedrängt hatte, um das Gesicht des Königs zu sehen, wenn er dieses Beil erblicken würde, das seinen Kopf von seinem Leib trennen sollte.

Als der König zur Tür kam, sah er dort eine Volksmasse zusammengedrängt, die, da sie keinen Platz auf den Tribünen fand, wenigstens das Ende des Schauspiels genießen wollte, dessen interessantester Teil ihr entgangen war. Der Anblick dieser zahllosen Menge, in deren Reihen man nur drohende Gesichter erblickte, entriss dem König einen leichten Seufzer.

Wie viele Menschen, dachte er, und nicht ein ergebener Freund!

Als er aber diese Worte der Entmutigung und des Zweifels in seinem Inneren sprach, antwortete eine Stimme in seiner Nähe: »Heil der gefallenen Majestät!«

Der König wandte sich mit Tränen in den Augen und im Herzen rasch um.

Es war ein alter Soldat von seinen Leibwachen, welcher den König nicht wollte vorübergehen lassen, ohne ihm diese letzte Huldigung darzubringen. Aber sofort musste er sehen, wie man den Unglücklichen mit Schwertknopfschlägen bearbeitete.

»Ach!«, sprach Karl, »das ist eine schwere Strafe für einen sehr kleinen Fehler.«

Mit beklommenem Herzen ging er weiter, hatte aber noch nicht hundert Schritte gemacht, als ein Wütender, sich zwischen zwei Soldaten vorbeugend, dem König ins Gesicht spuckte, wie einst ein schändlicher, verfluchter Jude dem Herrn Jesus von Nazareth ins Gesicht gespien hatte.

Karl wischte sich das Gesicht ab und sagte mit einem traurigen Lächeln:

»Der Unglückliche! Für eine halbe Krone würde er dasselbe seinem Vater antun.«

Gewaltiges Gelächter und finsteres Gemurmel erschollen gleichzeitig; die Menge zog sich zurück, drängte sich wieder herbei, wogte wie ein stürmisches Meer, und es war dem König, als sähe er mitten in der lebendigen Welle Athos’ funkelnde Augen glänzen.

Der König hatte sich nicht getäuscht, er hatte wirklich Athos und seine Freunde gesehen, die mitten unter der Volksmenge den königlichen Märtyrer mit einem letzten Blick geleiteten.

Als der Soldat Karl begrüßte, zerschmolz Athos’ Herz vor Freude, und der Unglückliche fand, als er wieder zu sich kam, in seiner Tasche zehn Guineen, die der französische Edelmann hatte hineingleiten lassen. Als jedoch der feige Beleidiger dem gefangenen König in das Gesicht spie, fuhr Athos mit der Hand an den Dolch.

Aber d’Artagnan hielt diese Hand zurück und sprach mit rauem Ton: »Warte!« Und Athos hielt inne.

Sie folgten darauf dem Frechen, der ein Fleischergeselle zu sein schien, durch mehrere Gassen, worauf sie ihn stellten und Athos ihm in entsetzlichem Ton zurief: »Du bist feige gewesen, du hast einen wehrlosen Mann beschimpft, du hast das Gesicht deines Königs befleckt, du musst sterben!«

Porthos hob hierauf seinen furchtbaren Arm, ließ ihn wie den Stiel einer Schleuder durch die Luft pfeifen, und die gewichtige Masse fiel mit einem dumpfen Geräusch auf den Schädel des Feiglings, den sie zerschmetterte.

Der Kerl stürzte nieder wie der Ochse unter dem Hammer.