Die drei Musketiere – Zwanzig Jahre danach – 7. – 10. Bändchen – Kapitel XXVI
Alexandre Dumas
Zwanzig Jahre danach
Siebentes bis zehntes Bändchen
Fortsetzung der drei Musketiere
Nach dem Französischen von August Zoller
Verlag der Frankh’schen Buchhandlung. Stuttgart. 1845.
XXVI. Die Lanzknecht-Partie
Es war in der Tat neun Uhr abends, die Posten waren um acht Uhr abgelöst worden und seit einer Stunde hatte die Wache des Capitain Groslow angefangen.
D’Artagnan und Porthos mit ihren Degen bewaffnet, Athos und Aramis, jeder einen Dolch in der Brust verborgen, begaben sich zu dem Haus, das diesen Abend Karl Stuart als Gefängnis diente. Die zwei Letzteren folgten ihren Sieger, demütig und scheinbar unbewaffnet, wie Gefangene.
»Meiner Treu!«, rief Groslow, als er sie erblickte, »ich zählte nicht mehr auf Euch.«
D’Artagnan näherte sich ihm und erwiderte leise: »Monsieur du Vallon und ich zögerten wirklich einen Augenblick, ob wir kommen sollten.«
»Warum?«, fragte Groslow.
D’Artagnan bezeichnete ihm mit dem Blick Athos und Aramis.
»Ah! Ah! Wegen der Gesinnung? Daran ist wenig gelegen«, sprach Groslow. »Im Gegenteil«, fügte er lachend bei, »wenn sie ihren Stuart sehen wollen, so werden sie ihn sehen.«
»Bringen wir die Nacht in dem Zimmer des Königs zu?«, fragte d’Artagnan.
»Nein, aber in dem angrenzenden Zimmer, und da die Tür offen bleiben wird, so ist es gerade, als ob wir in dem Zimmer selbst wären. Ihr habt Euch mit Geld versehen? Ich erkläre Euch, dass ich heute Abend ein Höllenspiel zu spielen gedenke.«
»Hört Ihr?«, sagte d’Artagnan und ließ das Gold in seinen Taschen klingen.
»Ah, gut!«, sprach Groslow. Er öffnete die Tür des Zimmers. »Ich will Euch den Weg zeigen«, sagte er und ging voraus.
D’Artagnan wandte sich nach seinen Freunden um: Porthos war sorglos, als ob es sich um eine gewöhnliche Partie handelte; Athos war bleich, aber entschlossen; Aramis wischte mit seinem Sacktuch seine von einem leichten Schweiß befeuchtete Stirn ab.
Die acht Wachen waren auf ihren Posten; vier befanden sich im Zimmer des Königs, zwei an der Verbindungstür, zwei an der Tür, durch welche die vier Freunde eintraten. Beim Anblick der Schwerter lächelte Athos: Es war also keine Schlächterei mehr, sondern ein Kampf.
Von diesem Augenblick an schien seine ganze gute Laune wiederbelebt.
Karl, den man durch die offene Tür erblickte, lag angekleidet auf seinem Bett; es war nur eine wollene Decke über ihn geworfen. Zu seinen Häupten saß Parry und las mit leiser Stimme, doch laut genug, dass es der König, der mit geschlossenen Augen zuhörte, vernahm, ein Kapitel aus einer katholischen Bibel.
Ein schlechtes Unschlittlicht, das auf einem schwarzen Tisch stand, beleuchtete das ergebene Antlitz des Königs und das unendlich weniger ruhige Gesicht seines treuen Dieners.
Von Zeit zu Zeit unterbrach sich der gute Parry, im Glauben, der König schliefe wirklich; dann öffnete dieser die Augen und sagte: »Fahre fort, mein guter Parry, ich höre.«
Groslow ging bis auf die Schwelle des Zimmers, setzte absichtlich den Hut auf, den er in der Hand gehalten hatte, um seine Gäste zu empfangen, betrachtete einen Augenblick das einfache, rührende Bild eines alten Dieners, der seinem gefangenen König aus der Bibel vorlas, versicherte sich, dass jeder Mann auf dem ihm bezeichneten Posten war, und schaute sodann, sich gegen d’Artagnan umwendend, mit triumphierender Miene den Franzosen an, als wollte er ein Lob über seine Taktik ernten.
»Vortrefflich!«, sagte der Gascogner, »bei Gott! Ihr wäret ein ausgezeichneter General.«
»Glaubt Ihr etwa«, versetzte Groslow, »der Stuart werde entweichen, solange ich auf der Wache bin?«
»Nein, gewiss nicht«, erwiderte d’Artagnan, »wenn es ihm nicht Freunde vom Himmel regnet.«
Das Gesicht von Groslow strahlte.
Da Karl während dieser Szene seine Augen beständig geschlossen hielt, so konnte man nicht sagen, ob er die Frechheit des puritanischen Capitains wahrgenommen hatte. Aber sobald er den Klang der Stimme von d’Artagnan hörte, öffneten sich unwillkürlich seine Augenlider.
Parry bebte und unterbrach sich im Lesen.
»Woran denkst du, dass du dich unterbrichst?«, sagte der König, »fahre fort, mein guter Parry, wenn du nicht müde bist.«
»Nein, Sire«, erwiderte der Kammerdiener.
Und er fuhr zu lesen fort.
Im ersten Zimmer war ein Tisch bereitet, und auf diesem mit einem Teppich bedeckten Tische befanden sich zwei brennende Lichter, Karten, zwei Becher und Würfel.
»Messieurs«, sagte Groslow, »ich bitte, setzt Euch: ich Stuart gegenüber, den ich so gerne sehe, besonders da, wo er ist, Ihr, Monsieur d’Artagnan, mir gegenüber.«
Athos wurde rot vor Zorn, d’Artagnan schaute ihn, die Stirn faltend, an.
»Gut«, sprach d’Artagnan« »Ihr, Monsieur Graf de la Fère, auf der Rechten von Monsieur Groslow, Ihr, Monsieur Chevalier d’Herblay, zu seiner Linken, Ihr, Monsieur du Vallon, neben mir. Ihr wettet auf mich und diese Messieurs auf Monsieur Groslow.
D’Artagnan hatte so Porthos neben sich und sprach mit ihm mit dem Knie, Athos und Aramis sich gegenüber und hielt sie unter seinem Blick.
Bei dem Namen des Grafen de la Fère und dem des Chevalier d’Herblay öffnete Karl seine Augen wieder, erhob unwillkürlich sein edles Haupt und umfasste mit einem Blick alle Personen dieser Szene.
In diesem Moment wandte Parry einige Blätter seiner Bibel um und las ganz laut folgenden Vers des Jeremias: »Der Herr spricht: Höret die Worte der Propheten, meiner Knechte, welche ich mit großer Sorge geschickt und zu Euch geführt habe.«
Die vier Freunde wechselten einen Blick. Die Worte, welche Parry gelesen hatte, deuteten ihnen an, dass ihre Anwesenheit vom König dem wahren Beweggrund zugeschrieben wurde.
Die Augen von d’Artagnan funkelten vor Freude.
»Ihr fragtet mich so eben, ob ich bei Geld wäre«, sagte d’Artagnan und legte zwanzig Pistolen auf den Tisch.
»Ja«, erwiderte Groslow.
»Nun wohl«, versetzte d’Artagnan, »ich aber sage Euch: Nehmt Euren Schatz in Acht, mein lieber Monsieur Groslow, denn ich stehe Euch dafür, wir gehen nicht von hinnen, ohne ihn Euch geraubt zu haben.«
»Das wird nicht geschehen, ohne dass ich ihn verteidige«, entgegnete Groslow.
»Desto besser«, rief d’Artagnan. »Schlacht, mein lieber Capitain, Schlacht! Ihr wisst oder wisst nicht, was wir verlangen.«
»Ah! Ja, ich weiß es wohl«, erwiderte Groslow, in sein plumpes Gelächter ausbrechend. »Ihr Franzosen sucht nur Wunden und Beulen.«
Karl hatte alles gehört, alles verstanden. Eine leichte Röte stieg ihm in das Gesicht, die Soldaten sahen ihn allmählich seine müden Glieder ausstrecken und unter dem Vorwand einer durch den glühenden Ofen erzeugten übermäßigen Hitze nach und nach die schottische Decke abwerfen, unter der er, wie gesagt, ganz angekleidet lag.
Athos und Aramis bebten vor Freude, als sie sahen, dass der König angekleidet war.
Die Partie begann. Diesen Abend wandte sich das Glück auf die Seite von Groslow; er hielt alles und gewann beständig. Hundert Pistolen gingen von der einen Seite des Tisches auf die andere über, Groslow war von einer tollen Heiterkeit.
Porthos, der die fünfzig Pistolen, die er am Tage vorher gewonnen, wieder verloren hatte, und noch über dreißig von den seinen dazu, war sehr verdrießlich und stieß d’Artagnan mit dem Knie, als wollte er ihn fragen, ob es noch nicht bald Zeit wäre, zu einem anderen Spiel überzugehen; Athos und Aramis schauten ihn auch von Zeit zu Zeit mit einem forschenden Blick an, aber d’Artagnan blieb unempfindlich.
Es schlug zehn Uhr. Man hörte die Runde vorüberkommen.
»Wie viel solche Runden macht Ihr?«, sagte d’Artagnan, neue Pistolen aus der Tasche ziehend.
»Fünf«, erwiderte Groslow, »alle zwei Stunden eine.«
»Das ist klug«, versetzte d’Artagnan. Und nun warf er Athos und Aramis einen Blick zu. Man hörte die Tritte der Patrouillen, welche sich entfernten.
D’Artagnan erwiderte zum ersten Mal die Kniestöße von Porthos mit einem ähnlichen Stoß.
Angelockt durch den Reiz des Spieles und durch den auf alle Menschen so mächtig wirkenden Anblick des Goldes, näherten sich die Soldaten, welche ihrem Befehl gemäß in dem Zimmer des Königs bleiben sollten, allmählich der Tür, erhoben sich auf den Fußspitzen und schauten d’Artagnan und Porthos über die Schultern; die von der Tür näherten sich ebenfalls und unterstützten auf diese Art die Wünsche der vier Freunde, welche sie lieber alle unter der Hand haben, als genötigt sein wollten, ihnen in alle vier Ecken des Zimmers nachzulaufen. Die zwei Wachen an der Tür hatten beständig das Schwert entblößt, nur stützten sie sich auf die Spitze und schauten den Spielern zu.
Athos schien immer ruhiger zu werden, je mehr der Augenblick herannahte. Seine weißen, aristokratischen Hände spielten mit den Louis d’or, die er mit einer Leichtigkeit krümmte und wieder geradebog, als wären sie von Zinn gewesen; weniger seiner Herr, wühlte Aramis beständig in seiner Brust; ungeduldig, weil er immer verlor, ließ Porthos sein Knie mit aller Gewalt arbeiten.
D’Artagnan wandte sich um, schaute maschinenmäßig zurück und sah, wie Parry zwischen zwei Soldaten stand und Karl, auf seinen Ellbogen gestützt, die Hände faltete und ein glühendes Gebet an Gott zu richten schien. D’Artagnan begriff, dass der Augenblick gekommen war, dass sich jeder an seinem Posten befand und dass man nur das Wort Endlich erwartete, welches, wie man sich erinnern wird, als Signal dienen sollte.
Er schleuderte Athos und Aramis einen vorbereitenden Blick zu und beide rückten ihren Stuhl leicht zurück, um sich frei bewegen zu können.
Er gab Porthos einen zweiten Kniestoß. Dieser stand halb auf, als wollte er seine steifen Beine wieder gelenkig machen, und versicherte sich beim Aufstehen, dass sein Degen leicht aus der Scheide gehen würde.
»Sacrebleu!,« rief d’Artagnan, »abermals zwanzig Pistolen verloren. In der Tat, Capitain Groslow, Ihr habt zu viel Glück, das kann nicht so fortdauern.«
Und er zog noch zwanzig Pistolen aus seiner Tasche.
»Noch einen Coup, Capitain. Diese zwanzig Pistolen auf einen Satz, auf einen einzigen, den letzten.«
»Es gilt, zwanzig Pistolen«, versetzte Groslow.
Und er schlug, wie dies gebräuchlich ist, zwei Karten um, einen König für d’Artagnan, ein As für sich.
»Einen König«, sprach d’Artagnan, »das ist ein gutes Vorzeichen. Meister Groslow«, fügte er bei, »gebt auf den König Acht!«
Trotz seiner Selbstbeherrschung vibrierte die Stimme von d’Artagnan auf eine so seltsame Weise, dass sein Partner bebte.
Groslow fing an, die Karten eine nach der anderen umzuschlagen. Schlug er zuerst ein As um, so hatte er gewonnen, schlug er einen König um, so hatte er verloren.
Er schlug einen König um.
»Endlich!«, sagte d’Artagnan.
Bei diesen Worten erhoben sich Athos und Aramis, Porthos wich einen Schritt zurück. Dolche und Schwerter glänzten. Aber plötzlich öffnete sich die Tür und Harrison erschien auf der Schwelle, begleitet von einem in einen Mantel gehüllten Mann.
Hinter diesem Mann sah man die Musketen von fünf bis sechs Mann glänzen.
Groslow schämte sich, mitten unter Weinflaschen, Karten und Würfeln ertappt zu werden, und stand rasch auf. Harrison schenkte ihm aber keine Aufmerksamkeit, trat, gefolgt von seinem Gefährten, in das Zimmer des Königs und sprach:
»Karl Stuart, es ist der Befehl eingetroffen, Euch ohne den geringsten Aufenthalt bei Tag ober bei Nacht nach London zu führen. Bereitet Euch vor, sogleich aufzubrechen.«
»Von wem ist der Befehl?«, fragte der König.
»Von General Oliver Cromwell«, antwortete Harrison, »und hier ist Monsieur Mordaunt, der ihn überbracht hat und beauftragt ist, denselben vollziehen zu lassen.«
»Mordaunt«, murmelten die vier Freunde, sich gegenseitig anschauend.
D’Artagnan raffte alles Geld zusammen, das er und Porthos verloren hatten, und steckte es in seine weite Tasche; Athos und Aramis stellten sich hinter ihn. Bei dieser Bewegung wandte sich Mordaunt um, erkannte sie und stieß einen Schrei wilder Freude aus.
»Ich glaube, wir sind gefangen«, sagte d’Artagnan ganz leise zu seinen Freunden.
»Noch nicht«, erwiderte Porthos.
»Oberster!«, rief Mordaunt, »lasst dieses Haus umzingeln, Ihr seid verraten. Diese vier Franzosen haben sich aus Newcastle geflüchtet und wollen ohne Zweifel den König entführen. Man verhafte sie.«
»Oh! Junger Mann«, sprach d’Artagnan, den Degen ziehend, »das ist ein Befehl, der sich leichter sagen, als vollstrecken lässt.« Dann beschrieb er mit seinem Schwert einen, furchtbaren Kreis und rief: »Abgezogen, Freunde! Abgezogen!«
Zu gleicher Zeit stürzte er zur Tür und warf zwei Soldaten nieder, welche dieselbe bewachten, ehe sie ihre Musketen anzuschlagen vermochten; Athos und Aramis folgten ihm; Porthos bildete die Nachhut, und bevor Oberster, Offiziere, Soldaten sich zu erkennen Zeit gehabt hatten, waren alle vier auf der Straße.
»Feuer!«, rief Mordaunt, »schießt auf sie!«
Zwei oder drei Musketen wurden wirklich abgefeuert, jedoch ohne einen anderen Erfolg, als dass sie die vier Flüchtlinge zeigten, welche sich unversehrt um die Straßenecke wandten.
Die Pferde waren am bezeichneten Ort, die Bedienten hatten nur ihren Messieurs die Zügel zuzuwerfen, und diese schwangen sich mit der Leichtigkeit vollendeter Reiter in den Sattel.
»Vorwärts!«, rief d’Artagnan, »die Sporen gegeben, festgehalten!«
Und sie sprengten, d’Artagnan folgend, fort und schlugen den Weg ein, den sie bereits am Tage gemacht hatten, das heißt, den Weg nach Schottland. Der Flecken hatte weder Tor noch Mauern und sie kamen folglich ohne Schwierigkeiten hinaus.
Fünfzig Schritte vor dem letzten Haus hielt d’Artagnan an und rief: »Halt!«
»Wie, Halt?«, sprach Porthos, »mit verhängten Zügeln, wollt Ihr sagen?«
»Keineswegs«, versetzte d’Artagnan, »diesmal wird man uns verfolgen; wir wollen sie aus dem Flecken ziehen und uns auf der Straße nach Schottland nachreiten lassen. Haben wir sie im Galopp vorüberkommen sehen, so schlagen wir die entgegengesetzte Straße ein.«
Einige Schritte von dieser Stelle floss ein Bach, über den eine Brücke gebaut war. D’Artagnan führte sein Pferd unter den Bogen dieser Brücke, seine Freunde folgten ihm.
Sie waren kaum zehn Minuten hier, als sie den raschen Galopp einer Reitertruppe vernahmen. Fünf Minuten danach zog diese Truppe über ihren Köpfen hin, weit entfernt, zu vermuten, diejenigen, welche sie suchten, wären nur durch die Dicke eines Brückengewölbe von ihnen getrennt.