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Der Wildschütz – Kapitel 2

Th. Neumeister
Der Wildschütz
oder: Die Verbrechen im Böhmerwald
Raub- und Wilddiebgeschichten
Dresden, ca. 1875
Zweites Kapitel

Die Schänke Zum schwarzen Bären

Etwa eine Stunde von dem Schloss entfernt, lagen auf einer fahlen, sandigen Ebene die Häuser und Hütten eines armseligen Dorfes zerstreut umher, welches unter die Insassenschaft des Grafen Praßlin gehörte. In geringer Entfernung von den dürftigen Wohnungen stand eine ebenfalls alte baufällige Hütte von geringem Umfang und hier wohnte zu ebener Erde Meister Martin, während etwa eine Feldlänge weiter nach dem Wald zu sich die einzige Schänke des Ortes befand, welche den Namen Zum schwarzen Bären führte.

Nachdem der Wildschütz aus dem Wald herausgetreten war und die Fläche erreicht hatte, auf welcher die Häuser umherstanden, warf er seine Last von den kräftigen Schultern und verbarg sie in einem sandigen Hohlweg, welcher sich eine ziemliche Strecke am Saum des Waldes hinzog, streute dann einige vom Wind abgebrochene Tannenreiser darüber und ging schnell dem Dorf zu.

Um diese Zeit saß der Besitzer des schwarzen Bären, ein alter Mann von beinahe siebzig Jahren, hinter dem Ofen seiner düsteren Stube. Er hatte sein Pfeifchen in Brand gesteckt und ließ gemächlich ein Wölkchen nach dem anderen zur dunklen Decke emporwallen. Der Greis war ein alter, gutmütiger Mann. Das schneeweiße Haar, welches unter seiner Samtmütze spärlich hervorragte, gab ihm ein ehrwürdiges, Vertrauen erweckendes Ansehen.

Bald darauf wurde die Tür geöffnet und der Wildschütz trat herein.

Das Erscheinen des Gastes schien auf den Alten keinen günstigen Eindruck zu machen. Er erwiderte den Abendgruß mit einer Gleichgültigkeit, welche an Geringschätzung grenzte.

»Nun, Vater Leonhard, wie geht es Euch?«, fragte der Eingetretene, dessen jugendliche Gestalt vollkommen geeignet war, Zutrauen zu erwecken. »Gebt mir einen Schoppen, es ist raues Wetter und man kann sehr gut einen Schluck vertragen. Ihr scheint üble Laune zu haben«, fügte er hinzu, sich neben dem Alten niedersetzend, welcher noch immer schwieg. »Vater Leonhard«, fuhr dann der junge Mann fort, seine Hand ergreifend, »es ist nicht hübsch von Euch, wegen übler Laune mit mir zu schmollen.«

»Das würde mir auch viel nützen«, versetzte der Alte, »du bist auch so einer, bei dem Hopfen und Malz verloren ist, und bei dem alles Predigen so viel wie nichts hilft. Umherschlendern und die Hände in die leeren Taschen stecken, wenn du gerade nicht verbotenen Handel treibst, das ist die angenehmste Beschäftigung für dich, anstatt fleißig zu arbeiten, wie es sich für einen jungen Burschen, wie du bist, ziemt.« »Ha, ha, Alter, Ihr seid sehr hitzig in der Anwendung Eurer Moral gegen mich, während Ihr denjenigen unbeachtet seinen Weg gehen lasst, der Euch auf der Welt am nächsten steht«, rief der Wild­schütz gereizt. »Ich stehe in keiner Beziehung zu Euch, denkt hingegen an Euren Sohn. Gehört er nicht derselben Zunft an, zu welcher Ihr mich zählt, zur Klasse der Tagediebe? Sprecht, was treibt Georg den Tag, die Woche, den Monat über, und was hat er getan, wenn das Jahr um ist? Nichts, was Ihr als ehrlicher Mann loben könntet! Ist es nicht so? Vater Leonhard, ich glaube, Euer Sohn ist auf keinem ehrlichen Weg! Das Merkwürdigste dabei aber ist, dass er im Gegenteil zu mir die Taschen immer mit Geld gespickt hat«, fuhr der Sprecher fort, »ich will verdammt sein, wenn er mit gutem Gewissen sagen kann, dass es rechtlich verdient wurde.«

Der alte Bärenwirt schien durch diese Worte schwer getroffen worden zu sein. »Es ist wahr«, sagte er nach einer Pause, »die Sache kommt mir eigentümlich vor, ich selbst denke manchmal darüber nach. Mein Georg will mir gar nicht mehr gefallen. Gebe Gott, dass er nicht auf schlechten Wegen wandelt.«

Der junge Mann zuckte die Achseln. »Man kann weder Gutes noch Schlechtes von ihm sagen«, bemerkte er, »und ich will ihn durchaus nicht bei Euch verdächtigen. Ihr seid ein ­alter, braver Mann und ich werde Euch niemals mit Willen das geringste Leid zufügen.«

»Nein, nein, das wirst du niemals«, unterbrach ihn hastig der alte Mann. »Du meinst es gut mit mir und ich würde es bedauern, wenn man dir einmal übel mitspielen sollte, dafür, dass – du weißt schon, was ich meine.«

»Es geht schon«, erwiderte Curt, »ich habe dort oben in dem alten verwitterten Schloss einen treuen Verbündeten. Mein liebes Käthchen, welche bei dem brummigen Grafen in Diensten steht, unter­richtet mich von den ewigen Maßregeln gegen mich und es ist eine Lust, wenn ich dem stolzen Volk einmal eine Nase drehen kann.«

»Sieh dich vor, dass sie dir nicht einst einen Strick dafür drehen!«, warnte Vater Leonhard. »Graf Praßlin ist ein finsterer, harter und einflussreicher Mann und mag wenig Spaß daran haben, wenn er erfährt, dass du sein Revier plünderst und seine Jäger neckst. Du kannst einmal unrecht ankommen und dann würde es um dich geschehen sein.«

Der Wildschütz senkte den Blick zur Erde. Die Warnung des greisen Freundes schien ihn betroffen zu machen. Bald nahmen jedoch seine Züge den Ausdruck bitterer Entrüstung an. »Es ist wahr, was Ihr gesagt habt; sie denken darauf, mich zu fangen, um den Stab über mich zu brechen, und bald ist es so weit gekommen, dass ich wie ein Mörder verfolgt werde und in der erstbesten Höhle über­nachten muss. Es ist ein verwünschtes Leben, doch was kann das alles helfen, mag es gehen, wie es will, solange ich frei bin und mein Arm die Büchse spannen kann, so lange wird mich nichts be­wegen, dieselbe aufzugeben. Es wäre schade, wenn das hübsche Ding hinter dem Ofen rosten sollte. Doch«, fuhr er leichter fort, »brechen wir ab, es ist noch Zeit, sich mit Grillen umherzuschlagen, wenn sie mich eingesperrt haben, und es taugt nicht, sich schon jetzt darüber zu grämen. Wo ist Georg?«, fragte er nach einem langen Zug aus der Kanne, »der Junge lässt sich jetzt so selten blicken, er scheint wichtige Geschäfte zu haben, denn man findet ihn keinen Abend zu Hause.«

Der Bärenwirt räusperte sich und erwiderte dann: »Er ist mit den beiden jungen Männern fortgegangen, die sich seit einigen Tagen zu Besuch bei uns befinden.«

»Und wer sind denn eigentlich die Herren?«, fragte Curt mit einiger Neugierde. »Sie scheinen von guter Herkunft zu sein.«

»Ja, ja«, entgegnete Leonhard, »ich glaube das auch; mein Sohn lernte sie während seines zweijährigen Aufenthalts in der Residenz kennen, und dies ist die Ursache, weshalb sie zu uns ge­kommen sind.«

»Es sind demnach alte Freunde von Georg?«

»Jawohl, alte Freunde«, entgegnete der Alte zerstreut, »aber offen gestanden«, fuhr er fort, »ich kann sie trotz ihren feinen Manieren, besonders den Jüngeren, nicht gut leiden, denn derselbe hat ein wahres Galgengesicht und er kann einem, wie man zu sagen pflegt, nicht so recht frei ins Auge hineinschauen. Wenn ich jedoch eine Äußerung laut werden lasse, so lacht mich Georg aus, und will ich ihn nicht aufbringen, so muss ich das Maul halten.«

»Wann werden sie zurückkommen?«, fragte Curt weiter.

»Diese Nacht wohl kaum«, versetzte der Alte. »Sie wollten zu einem entfernten Ort gehen, um dort einen anderen Freund auf­zusuchen. Mein Sohn hat sie dorthin begleitet.«

Der Frager schien befriedigt, denn er drang nicht weiter in den Alten, sondern nahm seinen Hut und entfernte sich nach einem kurzen Abschied.

Im Freien angekommen, schlug er einen Fußweg ein, welcher ihn zu Martins Wohnung führte, aus deren kleinen Fenstern noch der Schein eines Lämpchens in die Nacht hinaus schimmerte. Der nächtliche Wanderer blieb in der Nähe des Hauses nachdenkend stehen. Endlich trat er an eins der trüben Fenster, durch welches er unbe­merkt das Innere des niedrigen Zimmers übersehen konnte. Hier stellte sich dem Auge eine Szene dar, die den jungen Mann heftig zu ergreifen schien. Im Hintergrund der Stube, deren Raum dürftig erhellt war, stand ein Bett, worin die kranke Gattin Martins lag und zu schlummern schien. Am Tisch, dem Fenster zunächst, wo der Wildschütz stand, saßen vier Kinder von 7 bis 11 Jahren und bei ihnen erblickte man das Haupt der Familie, den Vater, einen noch jungen Mann. Auf seiner Stirn lagen tiefe Furchen, gezogen von Mangel und Kummer, seine Kleidung war abgenutzt und schäbig und er selbst stand soeben im Begriff, das Abendessen für seine Familie anzurichten, eine Beschäftigung, deren er sich zu unterziehen genötigt sah, seitdem seine Gattin krank darniederlag. Die Kinder saßen schwei­gend um den Tisch herum, ihre Blicke folgten prüfend der Hand des Vaters, der mit einem großen hölzernen Löffel die Portionen einer nicht geschmalzten Brotsuppe austeilte. Sie wachten mit Argusaugen darüber, dass nicht etwa eines oder das andere mehr erhalte, als ihm nach ihrem Ermessen zukomme.

Eine elende Blechlampe, welche über dem Tisch hing, beleuchtete den Ort dieses traurigen Familienlebens. Es würde den herzlosesten Geizhals zum Mitleid bewegt haben, wenn er gesehen hätte, wie der Vater den eigenen Teil der Speise unter die seinen verteilte, um den nagenden Hunger derselben zu stillen und selbst ungesättigt das ärmliche Lager zu suchen. Ein verzweifelter Blick in den Augen des Mannes sagte in jenem Moment mehr, als es durch Worte hätte geschehen können.

»Still, Kinder«, flüsterte er nach einiger Zeit, als es unter der kleinen Schar unruhig zu werden begann, »stört die Mutter nicht, sie ist eingeschlummert, nachdem sie drei Nächte lang kein Auge ge­schlossen hat.«

Die Worte des Vaters bewirkten eine tiefe Stille unter der kleinen Versammlung. Alle blickten mit dem Ausdruck banger Sorge zu der Kranken hinüber und verhielten sich mäuschenstill, bis nach dem Essen, worauf sie dem Vater geräuschlos zur Kammer folgten und die kranke Mutter allein in dem Zimmer zurückließen.

»Armer, guter Martin«, seufzte die Letztere, »wie besorgt bist du um mich! Du wolltest meinen Schlaf nicht stören, doch ich habe nicht geschlummert. Es war der schmerzliche Kummer über unsere Lage, der mich stumm gemacht hatte. Lieber guter Gott«, fuhr sie fort, die abgezehrten Hände ineinanderlegend, »du sorgst ja für die Vögel unter dem Himmel, du wirst daher auch uns nicht verderben lassen in unserem Elend.«

Die Rückkehr des Gatten veranlasste die Kranke zu ihrem früheren Schweigen. Sie legte den Kopf auf das Kissen zurück und schloss die müden Augen. Martin setzte sich nun neben das Schmerzenslager seiner Gattin. Das Haupt in die Hände gestützt, überließ er sich den Gedanken an seine traurige Lage, die ihn so schwer auf dem Herzen drückte.

Der arme Mann von rechtschaffenem Charakter war ein treuer Pfleger seiner Familie. Er war von Profession Graveur und hatte durch unverschuldete Unglücksfälle das seine größtenteils zusetzen müssen. Auch wollte es ihm durchaus nicht gelingen, seine schlimmen Verhältnisse auf eine bessere Stufe zu bringen, denn was er unternahm, missglückte. Der Mangel haftete beständig wie ein böser Dämon an seiner Schwelle. Was ihm bisher noch geblieben war, das zehrte nun die Krankheit seiner Frau vollends auf. Oftmals erfasste ihn die Ungeduld und riss ihn fast bis zur Verzweiflung hin, doch half dies alles nichts. Sein Geschick führte ihn auf der dornenvollen Bahn weiter, zu deren Verfolgung es ihm fast an Mut zu gebrechen begann.

Plötzlich deuchte es ihm, als vernähme er Fußtritte unter den Fenstern. Er fuhr erschrocken auf und horchte. Ein leises Klopfen überzeugte ihn, dass er sich nicht getäuscht habe. Er nahm hierauf die Lampe in die Hand und ging hinaus, um die Tür zu öffnen.

Nachdem er den Riegel zurückgeschoben und aufgemacht hatte, erblickte er beim Schein der Lampe die hohe Gestalt eines Mannes, welcher sich die Kopfbedeckung tief über die Stirn herabgezogen hatte, und dies wahrscheinlich aus Vorsicht, um nicht erkannt zu werden. Im nächsten Augenblick löschte jedoch ein ungestümer Wind das schwache Flämmchen aus und beide standen, verhüllt von der Nacht einander gegenüber.

»Was ist Euer Begehr?«, fragte Martin endlich mit zagender Stimme den Fremden, welcher unbeweglich stehen blieb, ohne ein Wort zu sprechen.

»Ich verlange nichts von Euch«, entgegnete endlich der Letztere, »hingegen glaube ich eine angenehme Nachricht zu überbringen. Draußen, hart am Rand des Waldes in dem Hohlweg, liegt ein er­legter Rehbock. Holt ihn noch diese Nacht herein, wenn Ihr ihn haben wollt, denn morgen könnte es zu spät sein. Es ist ein fetter Bissen für Eure hungernden Rangen.«

Martin starrte zweifelnd nach der Gestalt, deren Umrisse er nun deutlicher zu erkennen vermochte. »Wisst Ihr nicht«, sagte er dann, »dass eine strenge Strafe darauf haftet, ein Wild, sei es lebendig oder tot, an sich zu bringen, ohne besondere Erlaubnis zu haben?«

»Du bist ein Feigling, eine Memme«, erwiderte der Unbekannte hastig und im Ton des Unwillens. »Der Teufel wird etwas davon gewahren, oder glaubst du, Graf Praßlin zählt die Scharen seiner Hirsche und Rehe, welche dem armen Landmann die Hoffnung der Ernte oft in einer Nacht zerstören? Geh und zögere nicht, der Gang wird dich nicht reuen. Er verschafft dir und deiner Familie auf längere Zeit Nahrung.«

Martin stand noch immer unentschlossen in der Tür. Die Furcht schreckte ihn zurück, doch die Versuchung war zu stark und der Ge­danke an seine Frau, an seine Kinder, dazu der Kummer des nächsten Morgens, welcher keinen Bissen Brot in der Hütte fand, trieb ihn an, den Gang zu wagen.

»Es sei!«, sagte er nach kurzem Besinnen, »ich will mir ein Herz fassen und hinausgehen; doch sagt mir zuvor, was bewegt Euch dazu, gerade mir ein solches Anerbieten zu machen und von dem damit verbundenen Gewinn abzustehen?« »Wie, du kannst deshalb noch fragen? Deine Armut, dein Elend war es, was mich dazu bewegt, da du der Hilfe mehr denn jeder andere bedürftig bist«, sagte der Unbekannte.

»Und wer seid Ihr?«

»Der Name tut nichts zur Sache«, entgegnete jener, »geh hinein und mach dich fertig, aber eile, damit du zurück bist, wenn die Jäger die mitternächtliche Runde machen.« Mit diesen Worten war der Fremde in der Finsternis ver­schwunden.

Martin stand wie angewurzelt, endlich kehrte er ins Zimmer zurück; die Kranke schien zu schlummern. Um sie nicht zu stören, schlich er leise wieder hinaus und in den Hausflur, wo er sich mit einem Beil und mehreren Stricken versah, die er sich um den Leib schlang. Dann verschloss er eilig die Hütte.

Der Wind hauste noch mit gleicher Heftigkeit und dem armen Martin fuhr es wie Fieberschauer durch die Glieder. Es war das erste Mal, dass er in Begriff stand, einen verbotenen Gang zu gehen.

»Mut gefasst«, murmelte er bei sich selbst, »das Wetter ist dazu geeignet, um ein Unternehmen wie das meine zu begünstigen.«

Mit rüstigen Schritten trat er darauf die Wanderung zum Wald an. Ohne sich vor der Gewalt der tobenden Elemente zurückschrecken zu lassen, folgte Martin den beschwerlichen Pfad zum Walde und kam endlich glücklich bei dem von dem Wildschützen bezeich­neten Hohlweg an. Der Ort, wo er das Wild zu finden hoffte, war ihm jedoch von dem Fremden nicht so genau angegeben worden. Er ging daher eine weite Strecke den Saum des Waldes ent­lang hinab, worauf er endlich auch wirklich auf die erlegte Beute stieß. Erfreut über den Fund, schickte er sich sogleich an, den Rehbock auf die Schulter zu laden. Die Last war beinahe zu schwer für den ausgehungerten, kraftlosen Mann, welcher vor Angst und Kälte wie Espenlaub zitterte. Doch gelang es ihm endlich, das Wild aufzuheben.