Der Detektiv – Band 24 – Der Einsiedler von Tristan de Cunha – Teil 5
Walter Kabel
Der Detektiv
Band 24
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der Einsiedler von Tristan de Cunha
Teil 5
Ich warne den verehrten Leser vor voreiligen Schlüssen, zu denen er vielleicht durch die Überschrift dieses Kapitels verführt wird. Er wird denken: »Aha – Schadlmeyer ist James Palperlon, das Verbrechergenie!«
Ein großer Irrtum, sehr geneigter Leser. Wäre Schadlmeyer James Palperlon gewesen, dann hätte derselbe Palperlon ja kaum zu derselben Zeit, als er auf Tristan da Cunha als Einsiedler wirkte, uns auch anderswo in Atem halten können, zum Beispiel in Kopenhagen und Stockholm, wie aus den vorhergehenden Bänden dieser Sammlung ersichtlich ist.
Nein, Palperlons Ende war insofern tragischer, als hier ein Verbrecher den anderen beseitigte. Nicht ein Diener der strafenden Gerechtigkeit erschoss Palperlon etwa in der Notwehr, nein, der Lebensfaden dieses außerordentlichen Menschen, hinter dem die Polizei aller Kulturstaaten her war, wurde auch entsprechend seiner Laufbahn als ungewöhnlicher Verbrecher auf ungewöhnliche Weise durchschnitten.
Ich glaube diese Vorbemerkung Palperlon schuldig zu sein. Ich bringe sie zu Anfang dieses Kapitels, da eine Einschaltung in die Schilderung der weiteren Ereignisse mir unzweckmäßig erscheint.
Als wir bei Molbotts Haus anlangten, war es kurz vor elf Uhr nachts. Der junge Molbott stand noch auf dem Hof und spannte bei Laternenlicht Robbenfelle zum Trocknen auf. Er hatte nachmittags fünfzehn Robben erlegt und erzählte uns ganz stolz von seinem Jagdglück. Dann meinte er plötzlich, etwas geheimnisvoll tuend: »Ich habe nachmittags etwas beobachtet, das mir sehr zu denken gibt. Ich bemerkte nämlich ein Segelboot, das auf die Nachbarinsel Inaccessible zuhielt. Als ich darauf zusteuerte, verschwand es in den hohen Klippen, zwischen denen es ja eine Unmenge Kanäle gibt. Das Segelboot war wie eine Jacht getakelt. Leider war die Entfernung zu groß. Wie viel Leute an Bord waren, konnte ich nicht feststellen. Vielleicht steht das Boot aber zu der Lichterscheinung irgendwie in Beziehung. Ich will morgen jedenfalls die Gestade der Nachbarinsel mal ganz genau absuchen.«
»Und uns nehmen Sie mit!«, bat Harst.
Dann gingen wir in unser Zimmer, blieben hier aber nur eine halbe Stunde, kletterten wieder zum Fenster hinaus und schlichen die Terrassen empor zu Ellen Sillings Hütte, die aus luftgetrockneten Ziegeln mit einem Dach aus Moos und Strauchwerk sehr sauber errichtet war. Es gab da nur ein Fenster. Es war erleuchtet. Der rote Leinenvorhang stand an der linken Seite etwas ab. Wir waren lautlos bis dicht an das Fenster gelangt, sahen nun Ellen Silling an einem Tisch dicht vor dem Fenster sitzen. Eine kleine Petroleumlampe brannte auf einer Kommode neben dem Tisch. Das Mädchen hatte die Arme aufgestützt, die Hände vor das Gesicht und weinte, weinte so sehr, dass ihr Körper unter diesen Ausbrüchen eines wilden Schmerzes förmlich bebte.
Wir zogen uns dann in ein nahes Gebüsch zurück. Kurz nach Mitternacht erlosch das Licht. Dann hörten wir die Tür der Hütte knarren. Ellen erschien, spähte erst mehrere Minuten argwöhnisch umher und begann nun den Vulkan zu ersteigen. Sie wählte einen Weg, der wohl nur ihr bekannt war.
Die Nacht, sternenklar, aber windig, erleichterte es uns, ziemlich dicht hinter ihr zu bleiben. Sie fühlte sich offenbar sicher. Ohne sich auch nur ein einziges Mal auszuruhen, klomm sie bergan. Für mich bedeutete dieser Marsch ein Schwitzbad. Harst war mir stets um einige zehn Schritt voraus. Der Wind, der in den Büschen und den hohen Rohrstauden rauschte und knisterte, verschlang alle verräterischen Geräusche unserer Füße.
Da, als wir uns noch etwa fünfzig Meter unterhalb des eigentlichen Vulkankraters befanden, ertönte oben ein Schuss, gleich darauf noch einer.
Ellen hatte Halt gemacht. Ich sah an ihrer Körperhaltung, dass sie lauschte. Dann stieg sie hastiger bergan, lief beinahe.
Inzwischen war der Mond aus dem Meer aufgetaucht. Es wurde so hell, dass Harst aus Vorsicht weiter zurückblieb. Wir mussten warten, bis das Mädchen oben auf dem Kraterrand verschwunden war.
Nach fünf Minuten setzten wir uns wieder in Bewegung.
Plötzlich über uns von dem Felskoloss her eine blendende Lichtbahn. Diesmal aber nicht in Richtung auf die Oberfläche des Kraters, sondern genau hinab auf die Ansiedlung, bis zu der die Scheinwerferstrahlen freilich nicht reichten. Immerhin war nun ein Teil der Terrassen klar erleuchtet, was ein Bild von eigenem Reiz abgab. Ich starrte wie gebannt auf dieses Bild. Jeden Augenblick musste der Scheinwerfer die Richtung ändern. Aber es geschah nicht!
Harst umklammerte meinen Arm.
»Du, hier ist etwas Besonderes im Gange!,« flüsterte er. »Ohne Grund lässt Schadlmeyer den Lichtkegel nicht auf die Ansiedlung fallen! Vorwärts – nimm deine Pistole zur Hand. Ich ahne, was der Schuft vorhat. Er will Tristan da Cunha verlassen. Der Lichtkegel ist der höhnische Abschiedsgruß für die Kolonisten!«
Er sprang in langen Sätzen aufwärts. Ich keuchte hinterdrein. Oben auf dem ringförmigen Kraterplateau war es jetzt so hell, dass wir sofort Ellen Silling gewahrten, die unweit des riesigen Felsblockes am Boden neben einem lang ausgestreckt daliegenden Manne kniete.
Als sie uns hörte, fuhr sie empor, schrie entsetzt auf. wollte fliehen. Harst vertrat ihr den Weg.
»Bleiben Sie, Miss Silling!« sagte er befehlend. »Ich weiß alles. Sie haben Schadlmeyer hier beim Absuchen des Seegrundes geholfen.«
Sie stand jetzt regungslos da. Harst winkte mir, auf sie achtzugeben, beugte sich dann über den Fremden, dessen Mütze zwei Schritt weiter auf den Felsen lag. Nach einer Weile richtete er sich wieder auf.
»Miss Silling, kennen Sie diesen Mann?«, fragte er.
Sie schüttelte wie geistesabwesend den Kopf. »Der Mann hat einen Schuss quer durch die Brust«, fuhr Harst fort. »Dass Schadlmeyer ihn niedergeschossen hat, unterliegt keinem Zweifel.«
Der Scheinwerfer erstrahlte noch immer. Er war oben auf der Felskanzel aufgestellt.
»Wissen Sie, Miss Silling, weshalb Schadlmeyer heute dem Lichtkegel diese Richtung gegeben hat?«, meinte Harst jetzt freundlicher.
Wieder nur das Kopfschütteln.
»Weil er fliehen will!«, sagte Harst laut. »Weil er jetzt ein Boot zur Verfügung hat – das dieses Mannes, seines Opfers!«
Ellen Silling trat auf Harst zu. »Ich will alles gestehen!«, flüsterte sie unter Tränen. »Schadlmeyer hat mich zu umgarnen gewusst. Er … er hatte in den Diamantgruben von Waterkool Diamanten gestohlen. Er flüchtete hierher. Als dann eines Tages der Regierungsdampfer hier eintraf, glaubte er, dass Polizeibeamte an Bord seien. Da hat er die Diamanten … es waren gegen zweihundert in allen Größen … in den Kratersee geworfen … lose … hat sie über die ganze Seefläche ausgestreut. Sie sollten niemals mehr gefunden werden. Nachher, als er erkannte, dass er sich unnötig gefürchtet hatte, wollte er sie wieder herausholen. Ich half ihm dabei. Ich habe die Luftpumpe seiner …«
»Das ist mir bekannt«, meinte Harst. »Nicht wahr, es zieht sich eine Höhle vom Steilufer des Sees bis zu dem Felskoloss hin?«
»Ja, so ist es. Der Scheinwerfer musste auf dem Felsvorsprung dort aufgestellt werden, weil er sonst nicht die ganze Oberfläche des Sees beleuchtet hätte. Die Diamanten waren zum Teil in Spalten und Risse des Kraterbodens gefallen. Das Suchen war sehr mühsam. Ich liebte Schadlmeyer. Aber wir haben uns jetzt entzweit, weil er Sie beide und Draaken beinahe getötet hätte. Diesen Unglücklichen da kenne ich nicht.« Sie schluchzte laut auf und sank in die Knie, hob den Kopf des Fremden etwas an. »O mein Gott, retten Sie den Ärmsten, doch helfen Sie ihm!«, flehte sie. »Sie sind doch Harald Harst, der Detektiv! Sie werden …«
Da hatte der Bewusstlose die Augen geöffnet, stützte sich mit den Händen auf das Gestein, schaute erst das Mädchen, dann uns an.
»Harst!« Wie ein geröchelter Hauch klang es nur. »Harst … ich bin … James Palperlon. Ich … fühle … es geht zu Ende mit mir. Ich … hatte Sie in Kapstadt … im Hotel Atlantik … belauscht. Ich … wollte auch … das Geheimnis hier … aufklären, … kam gestern Nachmittag mit einer kleinen Jacht allein …«
Ein Blutstrom schoss ihm aus dem Mund. Er sank zurück.
Aber noch einmal erholte er sich für Sekunden.
Auch wir knieten nun neben ihm.
Sein Blick suchte Harsts Gesicht.
»Ich … möchte … gutmachen, was ich … gefehlt. Sie … sollen … mein … Testamentsvollstrecker sein …«
Das Folgende vernahm nur noch Harst, der sich ganz tief über den Sterbenden gebeugt hatte.
Dann ging es wie ein krampfhaftes Zucken durch Palperlons Leib.
Dann war alles vorüber.
James Palperlon war tot.
Wir ließen die Leiche, wo sie lag, hasteten den Berg hinab, alarmierten die Kolonisten, damit Schadlmeyer mithilfe des der Ansiedlung gehörigen Motorkutters sofort verfolgt würde.
Ich will diese Verfolgung nicht näher schildern. Wir machten sie auf dem Kutter mit. Die mondhelle Nacht gestattete uns, mit Fernrohren das Meer abzusuchen. Der Windrichtung nach musste Schadlmeyer einen westlichen Kurs eingeschlagen haben, wenn er schnell aus der Nähe der Inseln fortkommen wollte.
Als der Morgen zu grauen begann, schlief die leichte Brise völlig ein. Um halb 7 hatten wir den Flüchtling auf 500 Meter vor uns.
Wir sollten seiner nie habhaft werden. Wir wurden Zeugen, wie er, auf dem Kajütendach der kleinen Jacht stehend, die Edelsteine hoch in die Luft warf, wie sie ins Meer fielen, versanken.
Dann schoss er sich eine Revolverkugel in die Schläfe, taumelte über Bord, ging unter, tauchte nicht mehr auf.
Am folgenden Tag wurde Palperlon beerdigt. Kurz vorher begaben wir uns in das Vorratshaus, wo der Sarg aufgestellt war. Harst zog dem Toten den linken Schuh aus, schraubte mit der Messerklinge von dem Absatz das Hufeisen ab und hob so eine Lederplatte ab, unter der in dem hohlen Absatz ein ganz eng zusammengefaltetes Papier lag.
Harst steckte es zu sich, brachte den Schuh wieder in Ordnung und zog ihn dem Toten wieder an.
Das Papier war Palperlons Testament. Er hatte gewünscht, dass Harst von diesem Schriftstück zunächst niemandem, nur mir, Mitteilung machte. So geschah es auch.
Auf dem weltfernen Tristan da Cunha liegt der große Verbrecher unter einer Palme begraben. Die Kolonisten haben auf den Hügel eine aus gebranntem Ton hergestellte Tafel mit der Aufschrift gesetzt, die auf Deutsch lautet: Das friedliche Eiland gab dir Frieden.
Ellen Silling ist nun Pieter Draakens Frau. Harst hat von Draaken verschiedentlich Briefe erhalten und diese auch stets beantwortet.
Und Palperlons Testament?
Ich will über dessen Inhalt und über das, was es uns und der Welt eintrug, im nächsten Band berichten in:
James Palperlons Vermächtnis