Das Gespensterbuch – Erste Geschichte
Das Gespensterbuch
Herausgegeben von Felix Schloemp
Mit einem Vorwort von Gustav Meyrink
München 1913
Vorwort
Armselig der Dichter, dessen Gebiet nicht größer ist als die sichtbare Natur.
Wirklich immer wieder müssen Gastwirte, Felder, Oberlehrer, Kühe und Kommerzienratstöchter geschildert werden? Als ob es noch nicht genug Gastwirte, Felder, Oberlehrer, Kühe und Kommerzienratstöchter gäbe! Überall hört man das Wort: Kampf gegen die Schundliteratur. Gibt es ein besseres Mittel gegen die Schundliteratur als Bücher unter das Volk bringen, die in künstlerischer Form das Gebiet behandeln, das von jeher das Volk anzog, anzieht und immer wieder anziehen wird: das Gebiet des Phantastischen? Wenn das heimliche Ideal der Menge nicht das Reich der Fantasie und des Romantischen ist, warum heißen denn dann zum Beispiel unsere Schiffe Klabautermann, Korsar, Pirat oder Störtebeker? Ich habe mein Lebtag nicht gehört, dass eins Bankdirektor oder Oberlandesgerichtsrat geheißen hätte.
»Es gibt keine Gespenster«, höre ich da einwenden. Weißt du das so ganz genau, vorgeneigter Leser? Warte nur, wenn du Glück hast – oder Unglück, wie man es nennen will, dann kommt auch für dich der Tag, wo ein Gespenst zu dir den Weg findet – ein wirkliches, sichtbares, greifbares, wägbares Gespenst, das Eindrücke hinterlässt, die du zeitlebens nicht mehr vergisst. Dann wird es dir für immer die Sprache verschlagen, wenn du erzählst, was du gesehen und gegriffen hast – und du merkst, wie dein Gegenüber mühsam das Lachen verbeißt. Dann wirst du am eigenen Leib verspüren, was es heißt, ein Einsamer zu sein.
Es ist kein liebenswürdiges Reich, das des gespenstischen – es hat so gar nichts Sentimentales an sich. Gerade darum scheint es mir unerschöpfliche, künstlerische Qualitäten zu bergen. Diese Wesen herauszuholen, dass sie ihren feinen schimmernden Staub, das Unfassbare, Eigentümliche, das ihnen anhaftet, nicht verlieren, bedingt beim Dichter vor allem die Fähigkeit, bei geschlossenen Augen mit unfehlbarer Sicherheit schauen zu können. Oft haben da ganz Große schauderhaft danebengehauen. Ein winziges Fehlgreifen und was sonst ein Kunstwerk hätte werden können, saust rettungslos hinab in den Abgrund des Schundes und der Hintertreppenromane. Hier Shakespeares Macbeth, dort sagen wir einmal: Der Müller und sein Kind.
Soll es nur mal einer probieren, unheimliche Geschichten schreiben. Eine Seite lang geht es herrlich, dann wird das Gespenst immer grobdrahtiger und verwandelt sich langsam, aber sicher in einen Fetzen Paketpapier. Und nicht einmal der Rahmen will zu dem Ganzen passen. Die sogenannte natürliche Erklärung wird unausbleiblich, ein Albdrücken muss die Ursache des ganzen Erlebnisses abgeben.
Ja, ja, so bloß vorlügen lässt sich eine Gespenstergeschichte nicht. Da muss man zumindest erst einmal selber dran glauben. E. T. A. Hoffmann zum Beispiel fürchtete sich vor den Gestalten, die er geschaffen hatte, derart, dass er es nachts in seinem Zimmer zuweilen vor Grauen kaum aushalten konnte.
Ich wünsche dem Buch, das Felix Schloemp so farbig zusammengestellt hat: Es möge seinen Eingang finden bei all denen, die noch etwas übrig haben für fantastische Kunst. Es soll ihm das Motto voranstehen, das Bulwer seinem Zanoni gab:
Lass dir raten:
Hab’ die Sonne nicht zu lieb,
Und nicht die Sterne!
Komm! Folge mir ins dunkle Reich hinab.
Starnberg, im September 1912
Gustav Meyrink.
Das Gespensterhaus
Ein eigenes Erlebnis und dessen Erklärung
Von Edward Lytton-Bulwer
Einer meiner Freunde, ein Schriftsteller und Philosoph, sagte eines Tages halb ernst, halb scherzhaft zu mir: »Denke dir, seit wir uns das letzte Mal sahen, habe ich im Mittelpunkt Londons ein Haus entdeckt, in dem Gespenster umgehen.«
»Wahrhaftig, spukt es darin? Und welche Sorte von Geistern?«
»Das kann ich dir nicht beantworten. Alles, was ich darüber weiß, ist Folgendes: Vor sechs Wochen suchten meine Frau und ich möblierte Zimmer. Wir schritten eine einsame Straße entlang und sahen an einem Fenster einen Zettel Möblierte Zimmer zu vermieten. Die Lage sagte uns zu, wir betraten das Haus, die Zimmer gefielen uns, wir mieteten sie auf wöchentliche Kündigung und verließen sie am dritten Tag. Keine Gewalt der Erde hätte meine Frau vermocht, länger darin zu bleiben, und ich wundere mich nicht darüber.«
»Was in aller Welt ist euch denn darin zugestoßen?«
»Entschuldige – aber ich habe durchaus keine Lust, als abergläubischer Träumer belächelt zu werden, noch kann ich andererseits verlangen, dass du auf meine Versicherung hin dich von etwas überzeugen ließest, was jeder anzweifelt, der es nicht mit eigenen Augen sah. Ich will dir nur eines sagen, es trieb uns weder Gehörtes noch Gesehenes hinweg; nein, es war ein unbeschreibliches Grauen, das uns beide befiel, so oft wir die Tür eines gewissen kleinen, leeren Zimmers zu passieren hatten, obwohl sich durchaus nichts Ungewöhnliches aus demselben vernehmen ließ.
Unserem Abkommen gemäß bezahlte ich der Haushälterin den Wochenpreis am vierten Tag, indem ich ihr sagte, dass uns die Zimmer nicht ganz genehm seien und dass wir den Rest der Woche nicht darin verbleiben würden. Sie antwortete trocken: ›Ich weiß weshalb, Sie sind bereits länger hiergeblieben als irgendeiner Ihrer Vorgänger.‹ Wenige brachten eine zweite Nacht hier zu, niemand eine dritte. Es scheint, sie haben sich gütig gegen Sie benommen.‹
›Sie? Wer?‹ fragte ich, indem ich gezwungen lächelte.
›Sie – je nun, ich meine diejenigen, die in diesem Haus umgehen; mögen sie sein, wer sie wollen, mich stören sie nicht. Ich entsinne mich ihrer Gegenwart Jahre und Jahre zurück, als ich dieses Haus nicht in dienender Stellung bewohnte, aber ich weiß sehr wohl, dass sie nicht die Ursache meines Todes sein werden. Mir ist das gleich, ich bin alt und muss sowieso sterben, und dann lebe ich doch in diesem Haus mit ihnen fort.‹
Die Frau sprach mit so schwermütiger Resignation, dass mich eine Art von Scheu abhielt, weiter mit ihr zu plaudern. Niemand war froher, so leichten Kaufs davonzukommen, als meine Frau und ich.«
»Du erregst meine Neugier aufs Höchste«, entgegnete ich, »ich könnte mir kaum etwas vorstellen, was mich mehr reizte, als in einem Haus zu nächtigen, in dem Gespenster umgehen. Bitte, gib mir die Adresse der Wohnung, die ihr so geflohen.«
Ich erhielt dieselbe und als wir schieden, wandte ich mich sofort dem bezeichneten Stadtviertel zu. Das Haus lag auf der nördlichen Seite von Orfordstreet, in einer düsteren, aber anständigen Straße. Es war verschlossen. Kein Vermietungszettel war zu entdecken, keine Antwort kam auf mein Klopfen. Eben wollte ich mich wegwenden, da trat ein Bierjunge, der leere Zinnkrüge aus den nachbarlichen Häusern eingesammelt hatte, auf mich zu und fragte höflich: »Suchen Sie jemand in diesem Haus, mein Herr?«
»Ia, ich hörte, es sei mietfrei.«
»Zu vermieten? Ah, das sollte mich wundern, die Hüterin desselben ist tot – seit drei Wochen tot und niemand findet sich, der Lust hätte, die vakante Stelle einzunehmen, obwohl Herr J. hohe Bezahlung dafür aussetzte. Er bot meiner Mutter, die seine Aufwärterin ist, ein Pfund pro Woche, nur um täglich die Fenster zu öffnen und zu schließen, jedoch sie mochte das Anerbieten nicht annehmen.«
»Sie mochte nicht? Und aus welchem Grund?«
»Weil es hier spukt; die Hüterin wurde mit weit aufgerissenen Augen in ihrem Bett tot aufgefunden. Sie sagen, der Satan habe sie erdrosselt.«
»Du nanntest eben Herrn J., den Bescher des Hauses. Wo wohnt der?«
Ich gab dem Bierjungen seine wohlverdiente Belohnung für seine bereitwillige Auskunft und ging meines Weges weiter zu Herrn J. in G-Street – ganz nahe der Straße, in der das Spukhaus stand. Ich war so glücklich, Herrn J., einen ältlichen Mann mit einem klugen Gesicht und einnehmendem Wesen, zu Hause zu treffen und teilte ihm mein Anliegen ohne Umschweife mit. Ich sagte, dass sein Haus als ein von unheimlichen Besuchern belästigtes bekannt sei, dass ich ein lebhaftes Verlangen hätte, Räume mit eigenen Augen zu sehen, die in jenem zweifelhaften Ruf stünden, und dass ich ihm zu größtem Dank verpflichtet sein würde, wenn er es mir mietweise nur für eine Nacht zur Verfügung stellen wolle. Ich wolle jeden Preis, den er irgend fordere, für diese Gefälligkeit zahlen.
»Mein Herr«, sagte Herr J. mit ausgesuchter Höflichkeit, »das Haus steht Ihnen ganz zur Verfügung, für so lange oder so kurze Zeit, wie es Ihnen irgend beliebt. Miete dafür anzunehmen, steht für mich völlig außer Frage – die Verpflichtung ist ganz auf meiner Seite, da es Ihnen ja möglicherweise gelingen kann, die Ursache der sonderbaren Erscheinungen zu entdecken, die das Haus augenblicklich gänzlich wertlos machen. Ich kann es nicht vermieten, denn ich finde nicht einmal jemand, der es in Ordnung halten und an der Tür Rede stehen will. Unglücklicherweise spukt es wahrhaftig darin (und das ist nicht einmal der rechte Ausdruck dafür), denn es geschieht dies nicht nur bei Nacht, sondern am hellerlichten Tag, obwohl die Ruhestörungen und Erscheinungen des Nachts unheimlicheren, ja manchmal geradezu erschreckenden Charakters sind.
Ich befreite die beklagenswerte Alte, die vor drei Wochen starb, einst aus dem Armenhaus. Sie war meiner Familie als Kind schon bekannt und hatte bessere Tage gesehen, befand sich sogar in so guten Verhältnissen, dass sie einst Abmieterin meines Oheims gewesen war. Sie hatte eine leidliche Erziehung genossen, besaß einen starken Geist und war das einzige Wesen, was ich je zu überreden vermochte, in jenem Hause auszuhalten. Ich muss sagen, seit ihrem plötzlichen Tod, dessen Art durch den Leichenbeschauer allgemein bekannt wurde, verzweifelte ich daran, ihre Stelle je wieder besetzt zu sehen, noch viel weniger einen Mieter zu finden. Ich überlasse das Haus mit Vergnügen jedem auf ein Jahr gratis, der sich verpflichtet, die Steuern dafür auf seine Schultern zu nehmen.«
»Seit wann hat denn Ihr Haus diesen unheimlichen Charakter!«
»Das bin ich kaum in der Lage, Ihnen beantworten zu können, es ist lange – sehr lange her.
Die alte Frau, die ich gleichfalls darüber befragte, meinte, es habe dreißig bis vierzig Jahre hindurch, ehe sie es mietete, darin gespukt. Ich meinerseits habe den größten Teil meines Lebens im ostindischen Zivildienst verbracht. Im vorigen Jahr kehrte ich nach England zurück, um die Erbschaft eines Onkels anzunehmen unter dessen Nachlass jenes fragliche Haus war. Ich fand es mit verschlossenen Fensterläden und Türen vor. Die Fama ging, es hausten Gespenster darin und es sei deshalb von allen lebenden Wesen gemieden. Ich belächelte dies unglaubliche Histörchen, gab Geld aus, sein Inneres und Äußeres zu renovieren, fügte dem altväterischen Ameublement neue hübsche Stücke hinzu, inserierte die Wohnung und bekam einen Mieter auf ein Jahr. Es war ein Oberst außer Dienst.
Er bezog das Haus mit seiner Familie, bestehend aus Tochter, Sohn und vier bis fünf Dienstboten – am nächsten Tage verließen sie es sämtlich. Jeder Einzelne beschwor, eine andere Erscheinung gehabt zu haben, doch alle erfüllte das gleiche Entsetzen.
Ich konnte es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, den Obersten wegen Kontraktbruches gerichtlich belangen zu lassen – ja, ich konnte ihn nicht einmal tadeln.
Darauf wies ich der besagten Alten ihre Stellung als Hüterin an und autorisierte sie, das ganze Grundstück, in kleine möblierte Wohnungen parzelliert, zu vermieten. Ich hatte nie einen Mieter, der über zwei Tage geblieben wäre.
Es würde zu weit führen, Ihnen die Erlebnisse der einzelnen zu erzählen – nicht zwei davon haben die gleiche Erscheinung gehabt. Jedoch – urteilen Sie lieber selbst, anstatt mit beeinflusster Fantasie jene Schwelle zu überschreiten. Bereiten Sie aber Ihren Geist vor, Ungewöhnliches zu sehen und zu hören, und wappnen Sie sich mit jeder Vorsichtsmaßregel, die Ihnen irgend zu Gebote steht.«
»Haben Sie selbst nie den Versuch gemacht, einmal eine Nacht in jenem Haus zuzubringen?«
»Gewiss. Ich verblieb zwar keine Nacht darin, hingegen drei Stunden bei strahlender Tageshelle. Meine Neugier ist nicht befriedigt, aber sie ist gedämpft. Ich empfinde keinerlei Verlangen, das Experiment je zu wiederholen. Sie sehen, mein Herr, ich gehe Ihnen gegenüber sehr offenherzig zu Werke und rate Ihnen wohlmeinend, wenn Ihr Verlangen nicht ganz besonders dringend und Ihre Nerven nicht ganz besonders stark sind, stehen Sie ab davon, eine Nacht in jenem Haus zu verbringen.«
»Mein Interesse ist ein nicht zurückdrängendes,« sagte ich, »nur ein Feigling verkriecht sich hinter seine zarten Nerven, sobald es gilt, einer ungewöhnlichen Situation die Stirn zu bieten, auch sind die meinen durch Gefahren jeder Art gestählt. Ich kann mich mit vollem Recht auf sie verlassen – sogar Geistern gegenüber!«
Herrn J.’s Gegenargumente schienen erschöpft. Er nahm aus seinem Schreibpult die Schlüssel des verhängnisvollen Hauses, gab sie mir, und ihm aufrichtig für seine Offenheit und freundliche Erfüllung meines Wunsches dankend, trug ich meine Beute im Triumph davon. Brennend vor Ungeduld nahm ich, zu Hause angelangt, meinen treuen Diener vor. Es war ein junger Mensch von sprudelndem Temperament, furchtlosem Charakter und freier von abergläubischen Vorurteilen als irgendjemand.
»Frank,« sagte ich, »du erinnerst dich, wie enttäuscht wir waren, als wir in Deutschland in jenem alten Schloss übernachteten, wo das Gespenst ohne Kopf, das darin umgehen sollte, uns nicht erschien. Soeben höre ich von einem Haus hier in London, in dem die Geister sich weniger zurückhaltend benehmen. Ich beabsichtige eine Nacht daselbst zuzubringen. Nach allem, was ich höre, bleibt jeder Zweifel ausgeschlossen, dass wir es nicht verlassen werden, ohne Absonderliches gehört oder gesehen zu haben, im Gegenteil – vielleicht sogar Haarsträubendes. Kann ich, wenn ich dich mit mir nehme, mich felsenfest auf deine Geistesgegenwart verlassen, es ereigne sich, was da wolle?«
»O Herr, bitte, verlassen Sie sich auf mich«, antwortete Frank, indem er vor Vergnügen strahlte.
»Nun gut – hier sind Adresse und Schlüssel des Hauses. Geh, wähle mir ein Schlafzimmer nach deinem Geschmack, und da seit Monaten keine Seele diese Räume betrat, lüfte das Bett, mache ein behagliches Feuer und vergewissere dich hinreichend, ob Lichter und Brennmaterial vorhanden sind. Nimm meine Pistole und meinen Degen an dich – damit wäre mein Teil erledigt. Nun rüste auch du dich wohl aus, und wenn wir alsdann nicht einem halben Dutzend Gespenster gewachsen sind, erkläre ich uns für ein paar erbärmliche Wichte.«
Ich meinesteils war für den Rest des Abends durch Geschäfte so dringender Natur in Anspruch genommen, dass mir keine Muße blieb, über das nächtliche Abenteuer, dem ich förmlich meine Ehre verpfändet hatte, nachzugrübeln.
Ich speiste sehr spät und allein, meiner Gewohnheit nach beim Essen lesend. Meine Lektüre waren Macaulays Essays. Ich beschloss, das Buch mitzunehmen. Es war ein so kerniger Stil, so viel praktische Lebenswahrheit darin, dass es mir wie ein Gegengift gegen die Einflüsse einer überreizten Fantasie vorkam. Gegen halb zehn Uhr steckte ich das Buch ein und schlenderte gemächlich dem Geisterhaus zu. Ich nahm meinen Lieblingshund mit mir, einen außergewöhnlich schneidigen Bullterrier – einen Hund, der nachts in den unheimlichsten Schlupfwinkeln und Durchgängen auf Rattenfang herumstrolchte – ein kapitaler Hund einem Gespenst gegenüber.
Es war eine kühle Sommernacht. Leichte Wolkengebilde überzogen den Himmel. Dennoch war der Mond sichtbar, jedoch sein Licht war fahl verblassend. Aber es war doch ein Mond; und wenn es die Wolken gestatteten, so konnte er gegen Mitternacht mit intensiverem Licht leuchten. Ich erreichte das Haus, klopfte, und mein Diener öffnete mir mit einer vergnügten Grimasse.
»Herr, es ist alles in bester Ordnung und sehr gemütlich hier.«
»Oh«, erwiderte ich enttäuscht, »ist dir denn gar nichts Verdächtiges begegnet?«
»Doch, Herr, ich will offen sein, ich hörte etwas Sonderbares.«
»Was denn? Sprich?«
»Das Geräusch von Fußtritten trappelte hinter mir her und ein- bis zweimal hörte ich ein leises Geflüster dicht an meinem Ohr – sonst weiter nichts.«
»Du bist also nicht im Geringsten furchtsam?«
»Ich? Herr, durchaus nicht«, und des Burschen kühner Blick bürgte mir von Neuem dafür, dass – möge kommen, was da wolle – er mich nicht verlassen würde.
Wir standen im Vestibül, die Haustür war geschlossen, und meine Aufmerksamkeit lenkte sich auf den Hund.
Dieser lief zuerst fidel hinein, kroch aber bald zur Ausgangstür zurück und kratzte und winselte, um hinausgelassen zu werden. Ich streichelte seinen Kopf, ermutigte ihn freundlich und der Hund schien sich mit seiner Lage auszusöhnen. Er folgte mir und Frank an die Fersen geheftet durch das Haus, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, vorauszulaufen, um schnuppernd das fremde Terrain zu rekognoszieren.
Wir untersuchten zuerst die Souterrain–Räume, Küche, Speisegewölbe und besonders die Keller. Zwei bis drei völlig mit Spinnweben überzogene Flaschen Wein lagerten dort, augenscheinlich seit vielen Jahren in ungestörter Ruhe. Zechbrüder waren die Geister also nicht. Im Übrigen entdeckten wir nichts Bemerkenswertes. Es war dort ein kleiner düsterer, von hohen Mauern rings umschlossener Hinterhof. Die Steinplatten auf dem Fußboden waren feucht und mit Staub, Ruß und Nässe bedeckt; daher hinterließen unsere Fußtritte leichte Spuren. Nun zeigte sich in dieser sonderbaren Umgebung die erste Außergewöhnlichkeit, deren Augenzeuge ich war.
Plötzlich vor mir, auf dem feuchten Gestein, formte sich von selbst eine fremde Fußspur. Ich blieb stehen, fasste meinen Diener am Arm und deutete zu der Stelle hin; soeben formte sich die zweite. Ich trat rasch darauf zu, aber die fremde Spur blieb immer auf einen Schritt mir voraus. Es war eine kleine Spur, wie vom Fuß eines Kindes, indessen war der Eindruck zu schwach, um die Form vollständig beurteilen zu können. Im Augenblick hatten wir beide den Gedanken, dass sie der Abdruck eines nackten Kinderfußes sei. Das Phänomen verschwand, als wir an der gegenüberliegenden Mauer ankamen, und wiederholte sich auch auf dem Rückweg nicht. Wir stiegen die Treppen wieder hinauf und betraten die Zimmer zu ebener Erde, das Speisezimmer, ein kleines Wohnzimmer und einen dritten winzigen Raum, der mutmaßlich als Bedientenzimmer benutzt worden war, alle still wie das Grab. Dann gingen wir in die Salons, die neu eingerichtet schienen. Im Vorderzimmer angelangt, setzte ich mich auf einen Armstuhl.
Frank stellte das Licht, mit dem er geleuchtet hatte, auf den Tisch. Ich befahl ihm, die Tür zu schließen. Als er sich umwandte, meinen Befehl auszuführen, begann ein mir gegenüber an der Wand stehender Stuhl sich schnell und geräuschlos vorwärtszubewegen und blieb einen Meter entfernt mir gegenüber stehen.
»Nun, wenn es weiter nichts ist«, sagte ich mit einem halben Lachen, »es ist mir lieber als Tischrücken!«
Als ich lachte, warf aber mein Hund den Kopf zurück und heulte. Frank war, indem er sich wegwandte, die Wanderschaft des Stuhles entgangen. Er beschäftigte sich damit, den Hund zu beschwichtigen. Ich hatte ununterbrochen den Stuhl im Blick und glaubte darauf, wie aus bläulichem Dunst gewoben, die Umrisse einer menschlichen Gestalt zu erkennen. Die Linien waren jedoch so unklar, dass ich meiner eigenen Fantasie zu misstrauen anfing. Der Hund hatte sich wieder beruhigt.
»Stell diesen Stuhl mir hier gegenüber an die Wand zurück«, sagte ich zu Frank. Er gehorchte.
»Waren Sie das, Herr?«, fragte er, sich kurz umdrehend.
»Ich – was?«
»Ich bekam eben einen Schlag. Ich fühle denselben schmerzhaft hier an der Schulter.«
»Nein«, sagte ich. »Aber wir haben es mit Taschenspielern zu tun, und wenn wir auch ihren Kunststückchen nicht auf die Spur kommen, so werden wir sie doch fangen, ehe sie uns verblüffen.«
Wir hielten uns nicht weiter in den Salons auf, sie waren so feucht und kalt, dass ich mich freute, hinauf in mein Zimmer und an das Feuer zu kommen. Wir verschlossen die Tür. Eine Vorsichtsmaßregel, die wir überhaupt durchgängig beobachteten. Das von meinem Diener für mich gewählte Schlafzimmer war das beste in der ganzen Etage. Höchst geräumig, hatte es zwei Fenster Front nach der Straße zu. Ein viersäuliges Bettgestell, das dem Kamin gegenüberstand, in dem ein helles Feuer prasselte, nahm keinen bedeutenden Raum ein. Zwischen Fenster und Bett befand sich die Tür des Kabinetts, worin sich mein Diener etabliert hatte. Es war dies sehr klein und enthielt nichts außer einem Schlafsofa. Keine Verbindungstür führte zum Treppenhaus – auch existierte sonst keine Tür, außer dieser, die zu meinem Zimmer führte. Zu beiden Seiten meines Kamins waren Wandschränke ohne Schlösser angebracht und mit derselben melancholischen Tapete wie die Wand überklebt. Wir untersuchten die Schränke genau – sie enthielten nur einige Haken zum Aufhängen weiblicher Kleidungsstücke, sowie auch die äußeren Wände. Alles erwies sich massiv. Nachdem ich mein Zimmer so inspiziert hatte, wärmte ich mich ein wenig, zündete mir eine Zigarre an und ging dann, von Frank begleitet, meine Rekognoszierung zu vollenden.
Auf dem Treppenabsatz vor unseren Gemächern war eine zweite Tür – sie war fest verschlossen.
»Herr«, sagte mein Diener überrascht, »ich schloss bei meinem Kommen diese Tür so gut wie alle Übrigen auf, auch kann sie nicht von innen verriegelt worden sein, denn es ist …« Ehe er den begonnenen Satz vollendete, ging besagte Tür, ohne dass sie einer von uns berührt hätte, langsam von selbst auf. Wir sahen uns gegenseitig einen Augenblick verblüfft an. Ein und derselbe Gedanke beschlich uns – irgendeine menschliche Einwirkung mussten wir hier entdecken? Ich schritt voran, mein Diener folgte. Wir befanden uns in einem kleinen, öden, düsteren Zimmer ohne festliches Ameublement, einige leere Koffer und Körbe in einer Ecke. Die Läden des einzigen kleinen Fensters waren geschlossen, nicht einmal ein Kamin fand sich vor, keine andere Tür als die, durch die wir eingetreten waren, kein Teppich auf dem Fußboden, obwohl derselbe alt, uneben und wurmstichig war, was die hellen, ausgebesserten Flecke deutlich bekundeten. Kein lebendiges Wesen war sichtbar, kein Platz, wo sich eines hätte verbergen können. Während wir noch dastanden und rundum blickten, schloss sich die Tür langsam von selbst, genauso, wie sie sich zuvor geöffnet hatte. Wir waren Gefangene.
Zum ersten Mal überkam mich ein unaussprechliches Grauen – nicht so meinen Diener.
»Ich glaube gar, Herr, die denken uns fangen zu können – ich sage Ihnen, mit einem Stoß meines Fußes fliegt die verwitterte Tür auf.«
»Sieh zuvor, ob sie nicht deiner Hand weicht«, sagte ich und versuchte meine Furcht abzuschütteln, während ich die Läden öffnete, um mich zu überzeugen, wie es außerhalb aussah. Ich schob die Riegel zurück. Das Fenster ging auf den kleinen zuvor beschriebenen Hof hinaus. Ich konnte keinen Vorsprung außerhalb entdecken, es ging senkrecht hinab. Niemand hätte, um durch dieses Fenster zu entfliehen, irgendwo festen Fuß fassen können, ehe er hinab auf die Steinplatten kam.
Frank hatte die ganze Zeit über erfolglose Versuche gemacht, die Tür zu öffnen. Er wandte sich nun um und bat um die Erlaubnis, Kraft anwenden zu dürfen.
Ich muss, um diesem Menschen volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, hier nochmals konstatieren, wie völlig frei von jeglicher Furcht er war.
Seine Kaltblütigkeit, seine ganze Haltung, ja sogar Heiterkeit unter so außergewöhnlichen Verhältnissen zwangen mir Bewunderung ab. Ich beglückwünschte mich innerlich zu diesem Genossen, welcher der Situation so ganz gewachsen war, und gab ihm willig die verlangte Zustimmung. Obwohl er ein außergewöhnlich starker Mann war, erwies sich doch seine Kraft hier ebenso machtlos wie seine mäßigeren Anstrengungen – die Tür rührte sich nicht unter seinen Stößen. Nun versuchte auch ich mich an der Tür, alles umsonst. Als ich meine Versuche aufgeben musste, kam wieder jene namenlose Angst über mich. Diesmal war sie anhaltender – unbezwinglicher. Ich hatte das Gefühl, als stiege ein geisterhaftes Wehen aus den Ritzen des holprigen Fußbodens auf und füllte die Atmosphäre mit giftigem, der menschlichen Existenz feindseligem Dunst. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür wieder langsam und geräuschlos, ganz von selbst. Rasch sprangen wir auf den Treppenabsatz hinaus. Nun sahen wir ein großes bleiches Licht vor uns herschweben, so groß wie eine menschliche Gestalt, jedoch form- und masselos. Es bewegte sich die Treppe hinauf, die zu den Böden führte. Ich folgte dem Licht und mein Diener folgte mir. Die Erscheinung schlüpfte in eine zur Rechten gelegene Dachkammer, deren Tür offen stand. Ich trat sofort auch ein. Da schrumpfte das große Licht zu einer kleinen Kugel zusammen, die strahlend und lebhaft leuchtend einen Augenblick über einem Bett in der Ecke schwebte, flackerte und verschwand. Wir näherten uns dem Bett und untersuchten es genau. Es hatte ein eisernes Gestell, wie man es oft auf Böden als Schlafstätte für die Dienerschaft findet.
Auf der Kommode dicht daneben lag ein altes, verblasstes, seidenes Tuch. Eine Nadel steckte noch in dem halb reparierten Riss. Das Tuch war dick mit Staub bedeckt, jedenfalls gehörte es der alten letztverstorbenen Haushüterin, und dies mochte ihr Schlafraum gewesen sein. Meine Neugier stieg. Ich öffnete die Fächer. Allerlei Überreste weiblicher Kleidungsstücke nebst zwei mit einem gelben Band umbundene Briefe lagen darin. Ich war so frei, dieselben an mich zu nehmen. Außerdem fanden wir nichts Bemerkenswertes in dem Zimmer vor, noch tauchte das Licht wieder auf, wohl aber vernahmen wir beide genau leise, trippelnde Schritte dicht vor uns. Die Inspizierung der vier bis fünf anderen Böden ergaben nichts – doch waren und blieben die Fußtritte uns stets voraus. Nichts war zu sehen – absolut nichts, aber der trippelnde Schritt war desto mehr zu hören. Meine Hand umschloss fest die beiden Briefe. Als ich die Treppe hinabstieg, fühlte ich deutlich mein Handgelenk umklammert und einen schwachen Versuch, mir die Briefe zu entwinden. Ich schloss meine Hand fester, und der Druck am Gelenk ließ nach.
In mein Schlafzimmer zurückgekehrt, fiel es mir erst jetzt auf, dass mein Hund uns nicht gefolgt war, als wir es verließen, sondern sich zitternd an das Feuer drängte. Ungeduldig faltete ich die Briefe auseinander, und während ich las, nahm mein Diener die Waffen, die ich ihm befohlen hatte, mitzunehmen, aus ihren Futteralen. Er platzierte sie auf meinen Nachttisch und bemühte sich dann vergebens, den Hund zu beschwichtigen.
Die Briefe waren kurz, sie waren datiert und die Daten fünfunddreißig Jahre alt. Offenbar waren es Billetts eines Liebhabers an seine Erwählte oder eines Gatten an seine junge Frau. Nicht allein die Ausdrücke, sondern auch ganz bestimmte Anspielungen auf eine frühere Seereise charakterisierten den Seemann. Orthografie und Handschrift waren die eines nur mittelmäßig gebildeten Menschen, dennoch war die Sprache an sich mächtig. Durch alle liebkosenden Ausdrücke hindurch klang eine Art von wilder Leidenschaft, und hier und da fanden sich Andeutungen über ein Geheimnis, das sich jedoch auf keine Liebesaffäre bezog, sondern auf ein Verbrechen.
»Wir sollten uns lieben«, so lautete, wie ich mich deutlich erinnere, die eine Stelle, »denn wie würde die Welt uns fluchen, wüsste sie darum.« Und weiter: »Teile dein Schlafgemach nie mit jemand, denn du sprichst im Schlaf.« Ferner wiederum: »Geschehenes ist unabänderlich und ich sage dir, kein Zeuge steht gegen uns auf, es sei denn, die Toten kehrten wieder.« Hier war mit einer besseren, und zwar weiblichen Handschrift geschrieben und unterstrichen: »Sie stehen wieder auf?« Am Schluss des Briefes jüngsten Datums endlich hatte dieselbe weibliche Hand weiter geschrieben: »Gestorben auf dem Meer am 4. Juni, an demselben Tag, als …«
Ich ließ die Hand sinken und verlor mich in Sinnen über das Gelesene. Indessen fürchtete ich, der Gedankengang in diese Richtung hin möchte meine Nerven aufregen. Ich war fest entschlossen, meinen Geist in der nötigen Spannkraft zu erhalten, um gegen alles Wunderbare gewappnet zu sein, es kommst was da wolle.
Bereits rückte die Nacht bedeutend vor. Ich sprang empor, legte die Briefe auf einen Tisch, schürte das Feuer, das lustig knisterte, und öffnete meinen Band Macaulay. Mit leidlicher Gemütsruhe las ich bis halb zwölf Uhr, dann warf ich mich auf mein Bett, hieß meinen Diener sich zurückziehen, jedoch sich wachhalten und die Verbindungstür unserer Zimmer nicht zu verschließen. Ungefähr zwanzig Minuten später war mir, als streife ein außerordentlich kalter Luftzug meine Wange. Die Tür rechts, zum Flur, schien aufgegangen zu sein, aber nein, sie war zu. Ich wandte mich links und sah, wie die Flamme meines Lichtes, wie vom Luftzug bewegt, heftig hin und her flackerte. Im selben Augenblick glitt meine dicht neben dem Revolver liegende Uhr sachte vom Tisch, leise, wie von unsichtbarer Hand gezogen, sie war verschwunden. Ich schnellte empor, ergriff mit einer Hand den Revolver, mit der anderen den Degen, denn ich verspürte keine Lust, meine Waffen das Schicksal meiner Uhr teilen zu lassen. So bewaffnet, spähte ich auf dem Fußboden herum, aber keine Spur von meiner Uhr. Nun begann es dreimal langsam am Kopfende meines Bettes zu klopfen.
»Sind Sie das, Herr?«, rief mein Diener.
»Nein, sei auf deiner Hut.«
Nun sprang der Hund auf, setzte sich aufrecht, spitzte die Ohren und bewegte sich rasch nach rückwärts und vorwärts. Er sah mich dabei mit sonderbar beredtem Blick an, sodass sich meine volle Aufmerksamkeit auf mein Tier konzentrierte. Plötzlich erhob dasselbe sich langsam, jedes Haar an ihm sträubte sich, es stand starr und festgebannt da und hatte einen wilden Blick. Es blieb mir jedoch keine Zeit, den Hund länger zu beobachten. Mein Diener stürzte aus seinem Zimmer heraus.
Wenn ich je das Entsetzen in einem menschlichen Antlitz sah, so war es in dieser Stunde. Ich hätte den Mann nicht erkannt, wenn er mir auf der Straße begegnet wäre, so verzerrt waren seine Züge. Er flog an mir vorüber und raunte in einem Ton, der kaum von seinen Lippen zu kommen schien. »Laufen Sie, was Sie können – er ist hinter mir.«
Er erreichte die Tür zum Korridor, riss sie auf und raste fort. Ich folgte ihm unwillkürlich, wollte ihn zurückrufen, aber ohne mich zu beachten, schwang er sich, krampfhaft das Treppengeländer fassend, hinab, riss die Haustür auf und ich hörte nur noch, wie sie zuschlug – ich war allein im Geisterhaus. Ich gestehe, ich schwankte einen Augenblick, ob ich meinem Diener folgen sollte oder nicht, allein Stolz und Neugier hielten mich von feiger Flucht zurück. Ich trat wieder in mein Zimmer, schloss die Tür und schritt vorsichtig zu dem kleinen Kabinett, fand aber keinerlei Erklärung für meines Dieners Entsetzen. Nochmals die Wände prüfend, tastete ich, nach einer geheimen Tür suchend, umher, aber es fand sich keine Spur davon, auch nicht das kleinste Risschen in der Tapete. Wie in aller Welt hatte dasjenige, was ihn verscheucht, möge es heißen, wie es wolle, Zutritt gefunden, außer durch mein Zimmer. Ich verfügte mich zurück in dasselbe, schloss und verriegelte die Tür zum Kabinett und stellte mich an den Kamin, in Erwartung der Dinge, die da kommen sollten. Nun bemerkte ich, dass mein Hund in die Ecke des Zimmers kroch und sich derartig dagegen drückte, als wolle er sich buchstäblich den Weg in die Wand erzwingen. Ich näherte mich dem armen Tier und sprach ihm zu, es war außer sich vor Furcht, fletschte die Zähne, geiferte und hätte mich sicher gebissen, dafern ich es berührte. Er schien mich nicht zu erkennen. Wer jemals in einem zoologischen Garten ein Kaninchen durch den Blick der Schlange gebannt in einem Winkel hocken sah, der nur kann sich die Todesqual ausmalen, die der Hund ausstand. Als alle Versuche scheiterten, das Tier zu besänftigen, fürchtend, dass sein Speichel wie bei der Tollwut giftig sein könnte, überließ ich es sich selbst, legte meine Waffen auf den Tisch zurück, setzte mich und nahm Macaulay wieder auf. Nach kurzer Zeit gewahrte ich, dass sich etwas zwischen Licht und Buch stellte, denn es fiel ein Schatten auf das Blatt. Ich sah auf und sah, was mir schwer, vielleicht nie glücken wird, zu beschreiben. Es war ein dunkles Etwas vor mir, das sich wie aus Luft von selbst bildete und sehr unentschiedene Konturen zeigte. Ich kann nicht sagen, dass es eine menschliche Gestalt war, und doch hatte es eine große Ähnlichkeit mit einer solchen oder wenigstens mit dem Schatten derselben. Je länger ich hinsah, desto mehr lösten sich Licht und Schatten voneinander los und die Größenverhältnisse der Erscheinung schienen mir enorm, denn das oberste Ende berührte fast die Decke. Während ich unablässig darauf hinstarrte, empfand ich einen Hauch von eisiger Kälte. Ein Eisberg direkt vor mir hätte mich nicht mehr zusammenschauern machen können, noch hätte er eine so intensive Kälte auszuströmen vermocht. Als ich fortfuhr, das Ungeheuerliche anzustieren, kam es mir vor (jedoch das kann ich nicht einmal bestimmt behaupten), als unterscheide ich ein paar Augen, die aus der Höhe auf mich herabsahen. Einen Augenblick schien mir ihre Existenz zweifellos, den anderen waren sie wieder verschwunden, jedoch zwei Strahlen bläulichen Lichtes schossen durch das Dunkel, und zwar gingen sie von jener Stelle aus, wo ich glaubte, dass mir vorhin Augen begegnet waren. Ich versuchte zu sprechen – meine Stimme versagte vollständig.
Ist das Furcht?, dachte ich bei mir. O nein, die kenne ich nicht. Ich wollte aufstehen – umsonst – eine unsichtbare Gewalt hielt mich nieder. Ein fremder Wille lehnte sich gegen den meinen auf, ein unendlich überlegener, ungefähr so, wie Sturm und Feuer der Menschenhand gegenüber. Und nun, da dieser Gedanke mehr und mehr in mir zur Überzeugung reifte – kam ein Entsetzen über mich, das jeder Beschreibung spottete. Nur mein Stolz hielt mich aufrecht – nicht mein Mut. Entsetzen ist das, sagte ich mir, und keine Furcht. So lange ich aber diese banne, wird mich nichts anfechten, weil meine Vernunft all dies für ein Gebilde der Fantasie hält. Mit einer heftigen Bewegung gelang es mir, meine Hand nach meinen Waffen auszustrecken, als ich es aber tat, bekam ich einen eigentümlichen Ruck und mein Arm sank kraftlos an meiner Seite nieder. Und nun, um das Maß des Grauens voll zu machen, nahm der Glanz der Lichter mehr und mehr ab, sie verlöschten nicht, aber ihre Flamme schien wie langsam zurückgezogen zu werden. Genau so geschah es mit dem Feuer im Kamin und in wenigen Augenblicken lag das Zimmer im tiefsten Dunkel. Die Angst, bei der Idee, mit dem dunklen Etwas, dessen Macht ich vorhin so intensiv gefühlt hatte, im Finstern allein zu sein, brachte eine Gegenwirkung in mein Nervensystem. Das Entsetzen in mir hatte jenes Stadium erreicht, dass mich entweder meine Sinne verlassen hätten oder ich den Zauber brechen musste. Ich brach ihn, fand meine Stimme wieder, obwohl sie mehr wie ein Aufschrei klang. Ich erinnere mich, dass ich Worte herausstieß wie: »Ich fürchte mich nicht, meine Seele ist frei von Schuld.« Zu gleicher Zeit fand ich die Kraft zum Aufstehen. Von tiefem, tiefem Dunkel umgeben, eilte ich zu der Fensterseite hin – riss den Vorhang zurück und stieß die Läden auf – mein einziger Gedanke war Licht!
Und wie ich den Mond so ruhig, hoch und klar über mir sah, empfand ich eine Freude, die mich für alle Schrecknisse entschädigte. Da stand der Mond, da waren die Gasflammen in der öden, menschenleeren Straße. Ich wandte mich zu dem Zimmer zurück. Der Mond durchdrang dessen dunkle Schatten nur spärlich und teilweise – aber es war eben doch Licht darin. Das dunkle Etwas war verschwunden, nur einen düsteren Reflex, als wäre er der Schatten der Schattengestalt, nahm ich an der gegenüberliegenden Wand wahr. Mein Blick fiel nun auf den alten, runden Mahagonitisch, der ohne Decke dastand. Da erhob sich eine Hand bis zum Handgelenk sichtbar. Sie schien von Fleisch und Blut wie meine eigene zu sein, aber es war die einer älteren Person – dürr, runzlig und klein dazu – eine Frauenhand. Diese Hand umschloss sanft die beiden Briefe auf dem Tisch – Hand und Briefe verschwanden. Nun folgten erneut die drei abgemessenen Stöße gegen die Bettwand zu Häupten, die ich vor Beginn des wunderbaren Dramas bereits vernommen hatte. Als dieser Lärm vorüber war, erbebte das Zimmer fühlbar, und von nah und fern tauchten Kügelchen, wie erleuchtete Wasserblasen in allerlei Farben, grün, gelb, feuerrot und himmelblau, auf. Hinauf und herunter, herüber, hinüber, hierhin, dorthin, winzigen Irrlichtern gleich, bewegten sich die Funken, langsam und schnell, je nach Laune. Ein Stuhl (wie zuvor im Salon unten) rückte langsam von der Wand aus vorwärts, ohne sichtbare Aktion und postierte sich mir gegenüber am Tisch. Plötzlich, wie von dem Stuhl empor, wuchs ein Schatten weiblicher Form. Er war so deutlich sichtbar, wie eine lebende Gestalt und doch totenbleich, wie eine Leiche. Das Gesicht war jugendlich, von sonderbar melancholischer Schönheit. Hals und Schultern waren entblößt und das Übrige der Erscheinung in ein langes weißes Gewand gehüllt. Die Gestalt glättete ihr langes, gelbliches, über die Schultern fallendes Haar. Ihr Blick war unverwandt auf die Tür geheftet, sie schien lauschend, spähend zu warten. Der Schatten der Schattengestalt im Hintergrund wurde tiefer und abermals schien es mir, als funkelten Augen aus der Höhe nieder, den weiblichen Schatten beobachtend. Aus der Tür, obwohl sie sich nicht öffnete, wuchs eine andere Gestalt heraus, gleich deutlich, gleich aschfahl, die eines jungen Mannes. Er war in der Tracht des vorigen Jahrhunderts oder wenigstens in einer ganz jener Ähnlichen. Die männliche sowie die weibliche Gestalt, wenngleich sehr deutlich, waren unbedingt masselos, nicht greifbar, sondern Gespenster, und zwar war an ihnen etwas Widerstreitendes, Gegensätze, die sich bekämpften.
Beide waren lächerlich und furchtbar zugleich in dem mühsamen Aufputz ihrer alten Kostüme, die mit ihren Spitzen, Krausen und Schnallen in höfischer Genauigkeit ausgeführt waren; zu alledem das leichenhafte Aussehen und die geisterhafte Schweigsamkeit ihrer schwebenden Träger. Im Augen blick, als die weibliche Figur sich der männlichen zuneigen wollte, löste sich der Schatten von der Wand, und alle drei waren in Dunkel gehüllt. Ja, im ersten Morgengrauen schien es, als wären die beiden Gespenster in der Gewalt des Schattens, der sich über sie aufschwang. Ein Blutfleck wurde nun auf der Brust des weiblichen sichtbar. Das männliche Gespenst lehnte sich auf ein Geisterschwert, Blut rieselte heftig von seiner Krause und seinen Spitzen nieder und wieder verschlang der Schatten, der zwischen ihnen gestanden hatte, alle drei, sie waren verschwunden. Wieder schossen die bunten Blasen empor, segelten und wogten herum, schwollen dicker und dicker auf, und ihre Bewegungen wurden immer wirrer. Die Schranktür zur Rechten des Kamins tat sich auf und aus der Öffnung trat die Gestalt einer alten Frau mit Briefen in der Hand, mit denselben Briefen, welche die Hand vorhin ergriffen hatte, und hinter der Erscheinung erklangen Fußtritte. Sie drehte sich aufhorchend um, öffnete dann die Briefe und schien zu lesen, und über ihre Schulter hinweg blickte ein bleifarbenes Gesicht, wie das eines vor langer Zeit Ertrunkenen, aufgeschwollen, gebleicht, und mit Seegras in dem tropfenden Haar. Der Frau zu Füßen lag eine Masse, wie die eines entseelten Körpers und neben demselben hockte ein Kind, ein elendes, unsauberes Kind, den Hungertod auf den Wangen und Furcht in den Augen. Und als ich das Antlitz der Frau näher ins Auge fasste, verschwanden die Furchen und Linien und es wurde ein jugendliches Gesicht daraus mit strengem, steinernem Blick. Der gewaltige Schemen schoss vorwärts und überschattete mit seinem Dunkel alle drei Gespenster, wie er es zuvor mit den anderen getan hatte. Nichts blieb sichtbar als der Schatten, den ich unausgesetzt beobachtete, aus dem abermals zwei Augen leuchteten, boshafte Schlangenaugen. Und die Lichtblasen stiegen und fielen und machten ihre unregelmäßige und ungestüme Irrfahrt mitten im Schein des verblassenden Mondlichtes, aber aus den Kugeln, wie aus der Schale des Eies, brachen widrige Larven heraus, blutlos und scheußlich anzusehen. Ich kann sie nur schwärmenden Milben in einem Wassertropfen vergleichen, wenn sie das Mikroskop veranschaulicht; durchsichtige Körper, geschmeidig, beweglich, einer den anderen verjagend, einer den anderen verschlingend. Figuren winziger Gestalt und doch mit unbewaffnetem Auge erkennbar. Ihr Serumstreichen war systemlos, sie näherten sich mir schneller und in dichteren Haufen und krochen über meinen rechten Arm hinweg, den ich unbewusst wie zur Abwehr böser Kobolde befehlend ausgestreckt hielt. Manchmal berührte mich etwas, aber das kam nicht von ihnen; unsichtbare Hände stießen mich an. Einmal sogar umschloss ein Griff von kalten weichen Fingern meine Kehle. Ich blieb mir klar bewusst, dass, sowie ich der Furcht wich, ich in körperlicher Gefahr schwebte, deshalb konzentrierte ich meine ganze Kraft nur in dem einen Gefühl – mit eiserner Willenskraft zu widerstehen. Ich wandte mein Gesicht von dem Schatten, ganz besonders aber von den grässlichen Schlangenaugen ab, die nun deutlich sichtbar geworden waren. Denn dort und sonst in nichts um mich herum, das wurde ich gewahr, lag ein Wille von intensiv schöpferischer Gewalt zum Bösen, ein Wille, der den meinen zu zermalmen fähig war. Das fahle Morgengrauen fing an, sich zu röten, wie in der Nähe einer Feuersbrunst und die Larven schwammen wie in feuriger Lohe einher. Nochmals erbebte das ganze Gemach, nochmals ließen sich drei abgemessene Stöße vernehmen. Der dunkle Schatten verschlang alles mit seiner Finsternis, als ob von ihm alles ausginge und zu ihm alles zurückkehren müsse.
Als die Dunkelheit wich, war der Schatten gänzlich verschwunden. Langsam, wie die Flammen aus den Lichtern zurückgezogen worden waren, nahmen sie auch wieder zu, eben so das Feuer auf dem Rost. Das ganze Zimmer lag in tiefem Frieden da, als wäre es von nichts Befremdlichem je berührt worden. Die beiden Türen waren fest zu, die des Bedientenzimmers sogar verschlossen. Der Hund lag in der Ecke des Gemaches, in die er sich so krampfhaft gedrängt hatte. Ich rief ihn an – er rührte sich nicht, ich trat ihm nah – das arme Tier war tot. Die Augen waren ihm herausgetreten, die Zunge hing aus dem Maul und die Kinnlade war mit Schaum bedeckt. Ich nahm ihn in meine Arme, stellte Wiederbelebungsversuche am Feuer mit ihm an – vergebens. Der Schmerz, meinen Liebling verloren zu haben, war umso heftiger, da ich nicht frei von Selbstvorwürfen sein konnte. Ich musste mich der Ursache seines Todes anklagen; ich konnte nichts anderes annehmen, als dass er aus Furcht verendet sei. Wie aber überraschte mich die Entdeckung, dass er geradezu das Genick gebrochen hatte, denn bei näherer Untersuchung fand ich, dass die Wirbel aus dem Rückgrat herausgedreht waren.
Musste das nicht in der Finsternis geschehen sein, und zwar von einer menschlichen Hand von gleicher Beschaffenheit wie die meine? Sollten da nicht auch menschliche Einwirkungen die ganze Zeit über in diesem Zimmer ihr Wesen getrieben haben? Viel Grund zu dieser Annahme lag entschieden vor. Behaupten kann ich es nicht, ich kann nur einfach aussagen, was ich mit meinen Augen sah. Der Leser mag seine eigenen Schlüsse ziehen.
Bis zum Anbruch des Tageslichtes ereignete sich nun nichts weiter. Mit dem ersten Sonnenstrahl verließ ich das Gespensterhaus. Bevor ich ging, betrat ich nochmals das kleine, leere Gemach ohne Ausgang, das meinen Diener und mich gefangen gehalten hatte. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, dass der Organismus, der das ganze Phänomen hervorbrachte, seinen Ursprung dort und nur dort habe. Trotz dessen ich den Ort bei Tageslicht betrat und die Sonne hell durch die beschmutzten Scheiben drang, beschlich mich das Grauen der Nacht dennoch wieder. Ich konnte es nicht über mich gewinnen, länger als eine halbe Minute daselbst zu verweilen. Ich stieg die Treppe hinunter und wieder trippelten Fußtritte vor mir her. Als ich die Haustür öffnete, war mir, als unterschiede ich ein leises Lachen. Ich erreichte meine Wohnung und setzte voraus, meinen Flüchtling, den Diener, dort vorzufinden. Aber er war weder dahin zurückgekehrt noch hörte ich im Laufe der nächsten Tage von ihm, bis ich endlich einen Brief folgenden Inhalts aus Liverpool erhielt:
Verehrtester Herr, ich bitte Sie demütigst um Verzeihung, obwohl ich kaum hoffen darf, dass Sie mich derselben wert halten, es sei denn – wovor der Himmel Sie hoffentlich behütete –, dass sie sahen, was ich gesehen habe. Ich fühle, es werden Jahre und Jahre vergehen, ehe ich mich erhole. Ich bin zum Diener unbrauchbar geworden, daran ist kein Zweifel; deshalb reise ich zu meinem Schwager nach Melbourne. Morgen segelt das Schiff ab. Vielleicht bringt mir die lange Reise mein Gleichgewicht zurück. Zehnmal am Tage fahre ich zusammen und zittere an allen Gliedern. Mir ist, als wäre es hinter mir. Ich ersuche Sie ergebenst, geehrter Herr, meine Habseligkeiten und meinen rückständigen Lohn meiner Mutter in Walworth zu übermitteln. Johann kennt ihre Adresse.
Der Brief schloss mit unzähligen Bitten um Verzeihung nebst Auseinandersetzungen und Details über Dinge, die seinen Dienst betrafen.
Sicher mag manchem jene Flucht nach Australien unumstößliche Bürgschaft dafür sein, dass der Mann so oder so in betrügerischer Weise mit den Ereignissen der Nacht in Verbindung gestanden hatte. Ich widerlege keine dieser Mutmaßungen, aber ich behaupte auch, dass sie dem Gros der Menschheit, diesen unnatürlichen Vorfällen gegenüber, die bequemste Lösung bieten.
Am Abend kehrte ich nochmals zu dem Gespensterort zurück, um meine Sachen und meines armen Hundes Kadaver in einem Fiaker zu entfernen. Ich wurde dabei durch nichts gestört, noch ereignete sich irgendein bemerkenswerter Zwischenfall, außer, dass ich beim Hinauf- und Hinabsteigen der Treppen die Fußtritte mir voraus abermals hörte.
Nachdem ich das Haus verlassen hatte, ging ich zu Herrn J. und traf ihn an. Ich gab ihm die Schlüssel zurück, versicherte ihm, dass meiner Neugierde volle Genüge geworden war, und holte eben aus, ihm zu erzählen, was sich zugetragen hatte, als er mich unterbrach und höflich sagte, er habe jedes Interesse an einem Geheimnis, das nun einmal unenthüllt bleiben werde, verloren. Ich entschloss mich noch, wenigstens der Briefe zu erwähnen, die ich lesen konnt, ebenso wie deren rätselhaften Verschwindens und befragte ihn, ob er dächte, dass sie einst an jene eben verstorbene Hüterin gerichtet gewesen wären und ob in deren Lebensgeschichte sich nicht vielleicht Anhaltspunkte für die dunklen Vermutungen finden ließen, welche die Briefe andeuteten.
J. schien überrascht, und nachdem er einige Augenblicke nachgesonnen hatte, sagte er: »Ich weiß nur wenig aus dem früheren Leben der Frau, ausgenommen, dass sie meiner Familie bekannt war. Jedoch rufen Sie mir einige vage Erinnerungen zu ihren Ungunsten wach. Ich will Nachforschungen anstellen und Sie seiner Zeit mit dem Erfolg bekannt machen. Allein selbst angenommenen Falles, wir teilten den allgemeinen Aberglauben, dass ein Wesen, welches hienieden Urheber oder Opfer eines dunklen Verbrechens war, wiederkehren müsse, um als ruheloser Geist die Stätte heimzusuchen, die einst der Schauplast desselben gewesen, so muss ich dem entgegnen, dass das Haus durch Lärm und absonderliche Erscheinungen verpönt war, ehe die Alte darin starb. Sie lächeln, was wollen Sie sagen?«
»Ich meine, könnten wir der Sache auf den Grund kommen, so fänden wir sicher Einwirkungen lebender Wesen.«
»Was? Sie halten den ganzen Spuk für eine Betrügerei? Und aus welchem Motiv?«
»Nicht gerade eine Betrügerei dem Wortlaut nach – als wenn ich zum Beispiel plötzlich in einen tiefen Schlaf verfiele, aus dem Sie mich nicht erwecken könnten. Ich aber könnte während desselben Fragen mit einer Genauigkeit beantworten, wie es mir wachend unmöglich wäre. Wenn ich imstande wäre, Ihnen zu sagen, wie viel Geld Ihre Börse enthält, oder Ihre Gedanken zu erraten – so nenne ich das ebenso wenig betrügerisch wie übernatürlich. Ich stehe eben dann unbewusst unter tierischem Magnetismus, den ein entfernt lebendes Wesen über mich ausübt, zu dem ich ehedem in irgendwelchen Beziehungen stand. Es mag eine dem tierischen Magnetismus verwandte Kraft, sogar eine demselben überlegene geben. Diese Gewalt hieß in grauer Vorzeit Magie. Es kann sein, dass eine solche Macht auch den Abgeschiedenen innewohnt, das heißt, sich nur auf gewisse Gedanken und Erinnerungen derselben erstreckt und nicht auf den Teil, den wir eigentlich mit Seelen bezeichnen, denn dieser ist nach dem Tod allem Irdischen abgewandt. Jene Kraft mag sich, wie gesagt, nur auf den Teil an ihnen beschränken, der weltlich und befleckt war und somit für unsere Sinne erkennbar ist. Jedoch das ist eine veraltete Theorie, über die ich mir kein Urteil erlaube. Dem ungeachtet glaube ich keinesfalls, dass die Kräfte, die hier wirken, übernatürliche sind. Lassen Sie mich Ihnen durch ein Beispiel klarer machen, was ich meine. Paracelsus beschreibt nachstehendes Experiment als nicht schwer und der Autor der Curiosities of Literature zitiert es als glaubwürdig. Eine Blume stirbt, Sie verbrennen sie. Aus welchen Stoffen die Blume auch lebend bestanden haben mag, als Asche verstreut, erkennt man sie nicht und kann sie auch nicht sammeln. Je doch ist mittels chemischen Prozesses aus dem verbrannten Blumenstaub ein Farbenspektrum hervorzubringen, das der lebenden Blume täuschend ähnlich sieht. Es mag wohl das Gleiche mit lebenden Wesen sein. Die Seele ist entflohen, wie der Geruch, der Urstoff der Blume. Dennoch mag sich eine Farbenerscheinung hervorbringen lassen, die die abergläubische Menge für den Geist der Abgeschiedenen hält. Es ist nichts als das Eidolon des toten Körpers. So erklärt sich auch, dass an den nachweislich besten Spukgeschichten uns eines stets frappiert und das ist – der Mangel alles Seelischem des erhabenen geistigen Elementes. Erscheinungen zeigen sich meist aus unbedeutenden oder gar keinen Veranlassungen, sprechen selten und äußern dann keinerlei über dem Niveau des Alltäglichen stehende Gedanken. Die amerikanischen Spiritisten haben Bände voll in Prosa und Versen herausgegeben, die sie behaupten, von großen Toten wie Shakespeare, Baco und von Gott weiß wem, diktiert erhalten zu haben. Alle solche Mitteilungen, fassen wir die besten von ihnen ins Auge, sind nicht um einen Deut von höherer Art, als die ganz gewöhnlicher Sterblicher, die ein Durchschnittstalent besitzen und Erziehung genossen haben. Sie sind sehr weit dem untergeordnet, was Baco, Shakespeare und Plato sagten und schrieben, als sie auf Erden wandelten. Ebenso wenig – und das ist ganz besonders auffallend – enthalten sie je einen Gedanken, der neu wäre.
Ich meinesteils halte all diese Phänomene nur für Gedanken, die durch diese oder jene noch unentdeckten Mittel von einem sterblichen Gehirn auf das andere übertragen werden.
Sei’s nun, dass Tische von selbst rücken, teuflische Gestalten in magischen Kreisen erscheinen oder körperlose Hände auftauchen und greifbare Gegenstände in Bewegung setzen oder dass ein dunkles Etwas, wie es mir erschien, unser Blut erstarren macht. Ich habe die feste Überzeugung, dass alles nur durch elektrische Drähte beförderte Einwirkungen eines fremden Gehirns auf das meine waren. Es gibt Konstitutionen von natürlicher, magnetischer Kraft, und diese mögen magnetische Wunder hervorbringen. Andere besitzen ein natürliches Fluidum, wenn Sie wollen, Elektrizität und diese führen elektrische Wunder aus. Beide weichen von der normalen Wissenschaft ab, erscheinen dieser daher ebenso gegenstands- und resultat- wie wertlos. Sie führen zu keinerlei hohen Endzwecken, darum beachtet sie die Welt auch nicht und wahre Wissenschaft hat jene Kräfte im Menschen nicht gepflegt. In mir steht die Überzeugung unumstößlich fest, dass von allem, was ich hörte und sah, ein Geschöpf von Fleisch und Blut wie ich, der entfernte Urheber ist, und zwar unbewusst der wirklichen Folgen, die er hervorgebracht hat. Ich behaupte das aus diesem Grund, weil, wie Sie selbst sagen, nie zwei Personen das Gleiche erlebten. Beruhten die ganzen Ereignisse auf einer gewöhnlichen Betrügerei, so wäre der Mechanismus darauf eingerichtet, sein Resultat mit nur kleinen Abweichungen hervorzubringen. Wären es aber übernatürliche Gewalten, die der Schöpfer zuließe, so würden sie einen sicheren Endzweck haben. Diese Phänomene gehören keiner der beiden Kategorien an. Ich bin vielmehr überzeugt, sie entspringen einem Gehirn, das weit entfernt von uns ist, und dass dieses Gehirn nichts Bestimmtes bezweckt hinsichtlich dessen, was sich zutrug, sondern dass das, was sich ereignet, nur seine herumirrenden, bunten, wenig wechselnden, halbierten Gedanken reflektiert. Kurzum, dass es nichts gewesen ist als verwirklichte Träume eines solchen Hirnes, und zwar befähigt, sich teilweise verkörpern zu können. Dieses Gehirn mag eine eminente Kraft haben, so, dass es Mittel in Bewegung setzen kann, die boshaft und zerstörend wirken, – denn eine solche Kraft muss meinen Hund getötet haben. Wahrscheinlich hätte dieselbe auch ausgereicht, mich zu vernichten, wäre ich einer solchen Furcht unterworfen gewesen wie mein Tier, hätte mein Verstand und mein Geist mir keine entgegenwirkende Widerstandskraft verliehen.«
»Es hat Ihren Hund umgebracht? Das ist entsetzlich.«
»Wirklich, es ist äußerst befremdend, dass kein Tier je vermocht werden konnte, in diesem Haus zu bleiben, nicht einmal eine Katze; ebenso wenig haben sich Ratten oder Mäuse darin gezeigt. Der Instinkt vernünftiger Tiere entdeckt sicher Einflüsse, die ihrer Existenz tödlich sind. Der menschliche Verstand ist in diesem Punkt weniger zuverlässig. Jedoch nun genug hierüber? Ist Ihnen meine Theorie verständlich?«
»Ja, das heißt unvollkommen, und ich nehme lieber jede Schrulle hierüber (entschuldigen Sie den Ausdruck) willig an, als mich mit dem Gedanken zu befreunden, dass es Geister und Kobolde gibt – denn das gehört in die Kinderstube. Was in aller Welt aber soll ich mit dem Haus anfangen?«
»Ich will Ihnen sagen, von welcher Seite ich die Sache anpacken würde. Mir scheint der Gedanke unabweislich, dass das kleine unmöblierte Zimmer, rechtwinklig mit dem Schlafzimmer zusammenstoßend, das ich bewohnte, das Behältnis, der Ausgangspunkt des ganzen Spukes war. Ich rate Ihnen daher allen Ernstes, die Mauern niederzureißen, die Dielen öffnen zu lassen, kurz, das ganze Kabinett zu beseitigen. Es fiel mir auf, dass dasselbe unabhängig vom Übrigen in den kleinen Hinterhof hinausgebaut ist und folglich abgerissen werden kann, ohne das Gebäude zu schädigen.«
»Glauben Sie wirklich, dass, wenn ich das täte, die elektrischen Drähte damit vernichtet würden?«
»Versuchen Sie es. Ich bin so vollständig überzeugt, mich nicht zu irren, dass ich mit Vergnügen die Hälfte der Kosten des Unternehmens trüge, zumal wenn Sie mich mit der Oberleitung desselben betrauen.«
»Keinesfalls, ich trage die Kosten allein, im Übrigen werde ich Sie über alles orientieren.«
Ungefähr zehn Tage später erhielt ich einen Brief folgenden Inhalts von Herrn J. Er hatte das Haus selbst besucht und die beiden besprochenen Briefe wieder in die Kommode(aus der ich sie fortgenommen) zurückgelegt gefunden, Er schrieb, er habe sie mit denselben Zweifeln angesehen wie ich, habe die sorgfältigsten Erhebungen über jene Frau angeordnet, an die, wie ich richtig vermutete, die Schriftstücke gerichtet gewesen waren. Es schien, dass dieselbe vor sechsunddreißig Jahren (also ein Jahr früher, als die Briefe datiert waren) gegen den Willen ihrer Eltern geheiratet hatte, und zwar einen Amerikaner von zweifelhafter Reputation – man hielt ihn allgemein für einen Seeräuber. Sie selbst war die Tochter eines ehrenwerten Kaufmannes und war Erzieherin. Sie hatte einen Bruder, der Witwer war, in guten Verhältnissen lebte und ein sechsjähriges Kind besaß. Ein Jahr nach der Heirat oben erwähnter Frau wurde der Leichnam dieses Bruders aus der Themse gezogen, dicht bei London Bridge. Man hatte Spuren von Gewalttat an seiner Kehle entdeckt, jedoch wurden sie nicht für ausreichend erachtet, um das Zeugnis des Leichenbeschauers anders zu formulieren als Ertrunken aufgefunden. Der Amerikaner und seine Frau nahmen sich des Kindes an, da der verstorbene Bruder letztwillig angeordnet hatte, dass seine Schwester sein einziges Kind in ihre Obhut nehmen sollte,– auch hatte er, im Falle des Ablebens desselben, die Schwester zur Erbin eingesetzt. Das Kind starb ungefähr sechs Monate später; man munkelte, dass es vernachlässigt und schlecht behandelt worden sei. Die Nachbarn sagten aus, sie hätten es des Nachts aufschreien hören. Der Arzt, der das Kind nach dem Tod untersuchte, konstatierte, dass dasselbe an ungenügender Nahrung hingesiecht sei, auch war der Körper mit schwarzgelben Flecken bedeckt. Es schien, als hätte das kleine Geschöpf in einer Winternacht einen Fluchtversuch gemacht, sich in den Hinterhof geschlichen und versucht, an der Mauer in die Höhe zu klettern, dass es jedoch erschöpft zurückgetaumelt und morgens sterbend auf den Steinen vorgefunden war. Lag nun auch der Verdacht großer Grausamkeit vor, so doch nicht der des Mordes. Die Tante und ihr Mann versuchten die Gräuel zu bemänteln, indem sie die außerordentliche Widerspenstigkeit und Dickköpfigkeit des Kindes zu dokumentieren sich bemühten, – ja, sie erklärten es für halb geistesgestört.
Sei dem nun, wie ihm wolle, die Frau des Amerikaners erbte nach dem Ableben der kleinen Waise das Vermögen ihres Bruders. Noch bevor das erste Jahr besagter Ehe abgelaufen war, verschwand urplötzlich der Gatte aus England, und zwar auf Nimmerwiedersehen. Er pachtete ein Kreuzschiff, das zwei Jahre später im Atlantischen Ozean unterging. Die Witwe blieb in guten Verhältnissen zurück, jedoch Unglücksfälle aller Art brachen über sie herein. Eine Bank fallierte, ein gut angelegtes Kapital ging verloren, sie kaufte ein Geschäft und ruinierte sich damit, ging abermals in Stellung als Haushälterin, kam aber mehr und mehr herunter und wurde schließlich Aufwärterin. Nirgends hielt sie aus, obwohl nichts Besonderes gegen sie einzuwenden war, im Gegenteil, jeder erkannte ihre Fähigkeit, Ehrlichkeit und stille Art und Weise an, aber nichts wollte ihr zum Segen ausschlagen. So sank sie herab zum Armenhaus, aus dem ich sie befreite und zur Hüterin jenes Hauses einsetzte, das sie mir dermal einst abgemietet hatte. Herr J. fügte noch hinzu, dass er allein eine Stunde in dem Zimmer verbracht, das ich der Zerstörung preisgegeben haben wollte, nichts darin gehört oder gesehen, dass ihn aber ein derartiges Grauen befallen, dass er begierig sei, die Mauern niederzureißen und die Dielen gehoben zu sehen, so, wie ich ihm es vorschlug. Er hatte bereits Arbeitsleute bestellt und wollte beginnen lassen, sobald es mir genehm wäre. Ich begab mich zu dem Gespensterort, wir betraten das unheimliche Gemach, lüfteten die Holzverkleidungen und rissen die Fußböden auf. Unter den Balken, die Staub und Schmutz bedeckte, lag eine Falltür von Mannesgröße. Sie war sorgfältig durch eiserne Klammern und Spangen niedergehalten. Nachdem diese entfernt waren, stiegen wir hinab in ein unterirdisches Zimmer, dessen Vorhandensein niemand geahnt hatte. Ein Fenster und ein Rauchfang befanden sich darin, doch sie waren beide augenscheinlich seit langen Jahren mit Ziegeln ausgesetzt. Mithilfe von Lichtern durchsuchten wir den Raum. Er barg einige angeschimmelte Möbelstücke, drei Stühle, einen eichenen Tisch nebst Sessel, alles im Geschmack des vorigen Jahrhunderts.
An der Wand stand eine Kommode, in der wir halb vermoderte männliche Kleidungsstücke vorfanden, der Tracht nach aus dem vorigen Jahrhundert, und zwar offenbar die eines Mannes von Rang und Lebensstellung, mit kostbaren Stahlschnallen und Knöpfen verziert (so, wie wir sie jetzt an Hofkostümen sehen). Außerdem einen Degen, eine Weste, einst reich mit Goldbrokat verziert, nun längst geschwärzt und durch Feuchtigkeit verdorben. Ferner entdeckten wir fünf Guineen, einige Silbermünzen und ein Elfenbeintäfelchen – die Eintrittskarte zu einem Vergnügungsort, dessen Freuden heute längst verrauscht sind. Die hauptsächlichste unserer Entdeckungen bestand jedoch in einer Art von eingelassenem, feuerfestem Schrank, dessen Schloss mit dem Dietrich zu öffnen, nicht unerhebliche Mühe kostete. In diesem Behältnis zeigten sich drei Regale und zwei Schubladen. Auf dem Ersteren standen in Reihe und Glied, hermetisch verschlossen, Glasflaschen. Sie enthielten farblose, sich verflüchtigende Essenzen, welcherlei Stoffes, tut nichts zur Sache, sie waren nicht giftig, einige waren mit Phosphor und Salmiak angefüllt. Ferner fanden sich daselbst einige sehr eigentümliche Glasröhren, eine kleine zugespitzte Eisenstange, ein großer Klumpen Bergkristall und ein zweiter von Bernstein vor, ebenso ein Magnet von großer Kraft. In einem der Fächer lag ein Miniaturporträt in Gold gefasst, dem die Frische der Farben in wunderbarer Schönheit erhalten geblieben waren, wenn man bedenkt, welch eine Reihe von Jahren es dort gelegen haben mochte. Das Bildnis war das eines Mannes in den mittleren Jahren zwischen siebenundvierzig bis achtundvierzig stehend. Die Physiognomie war eine höchst absonderliche, eine, die man nicht wieder vergisst. Könnte man sich eine Schlange in einen Mann verwandelt vorstellen, der trotz der menschlichen Umrisse den alten Schlangentypus beibehalten, so wäre das das treffendste Bild seines Gesichtsausdruckes. Die Breite und Flachheit der Stirn, die zugespitzte Kopfform, der mörderische Blick der lang geschnittenen schrecklichen Augen, grünlich schillernd und funkelnd wie Smaragd und zu alledem eine gewissermaßen erbarmungslose Ruhe, der Stempel unbesieglicher Gewalt.
Mechanisch drehte ich das Porträt herum, seine Rückseite zu prüfen, und fand dort ein Fünfeck eingraviert und in der Mitte desselben eine kleine Leiter, deren dritte Sprosse das Datum 1765 trug. Ich untersuchte es eingehender und entdeckte eine Feder, die dem Druck wich, sodass die Unterseite des Bildes sich wie ein Deckel öffnete. Auf der Innenseite stand eingraviert: Dir, Mariana! Sei getreu im Leben wie im Tode Deinem … Hier folgte der Name, den ich nicht nennen will – er war mir geläufig. Ich hatte ihn oft in meiner Kindheit von alten Leuten nennen hören, als den eines alles verblendenden Scharlatans, der ungefähr ein Jahr hindurch großes Aufsehen machte. Schließlich wurde er, eines Doppelmordes im eigenen Haus angeklagt, flüchtig. Man beschuldigte ihn, seine Geliebte und seinen Nebenbuhler vergiftet zu haben.
Ich erzählte Herrn J. nichts von der Sache und händigte ihm, wenn auch widerstrebend, das Miniaturbild aus. Es hatte uns wenig Mühe gekostet, das erste Fach des eisernen Schrankes zu öffnen, desto schwieriger war es mit dem zweiten. Er war unverschlossen, widerstand aber allen Anstrengungen, bis wir einen Meißel in einen Spalt eintrieben. Endlich wich es der Gewalt und es zeigte sich ein absonderlicher Apparat in bester Ordnung darin. Auf einem kleinem dünnen Buch oder mehr einer Platte stand eine gläserne Schale mit einer durchsichtigen Substanz gefüllt und auf dieser schwebte ein Kompass mit einer Nadel, die sich rasch rundum drehte, doch an Stelle der gewöhnlichen Kompassspitze befanden sich sieben merkwürdige Lettern, nicht unähnlich denen, welcher sich Sternkundige bedienen, um Planeten zu bezeichnen. Ein absonderlicher, nicht starker und auch nicht unangenehmer Geruch kam uns aus diesem Fach entgegen und wir sahen erst später, dass es von innen mit Tafelholz ausgelegt war. Was auch die Ursache des Geruches gewesen sein mochte, er übte einen physischen Eindruck auf uns aus, das fühlten wir alle, sogar die beiden Arbeiter, die uns halfen. Es kam eine prickelnde Empfindung, von den Fingerspitzen bis zu den Haarwurzeln über uns. Ungeduldig, die Platte zu untersuchen, nahm ich das Schälchen davon weg. Sofort kreiste die Kompassnadel mit ungeheurer Vehemenz und ich fühlte einen Stoß durch meinen ganzen Körper, sodass mir die Schale aus der Hand und zu Boden fiel. Die Flüssigkeit war verschüttet und das Schälchen zerbrochen, der Kompass rollte in die andere Ecke des Zimmers, und im selbigen Augenblick schienen die Wände zu beben, als hätte ein Riese an ihnen gerüttelt. Die beiden Arbeiter waren so entsetzt, dass sie die Leiter hinaufrannten, die von der Falltür hinabführte. Als sie jedoch sahen, dass sich nichts weiter ereignete, waren sie leicht zur Umkehr zu bewegen. Währenddessen hatte sich das Täfelchen geöffnet. Es war in glattes, rotes Leder gebunden, hatte einen silbernen Verschlusshaken und enthielt nur ein einziges Pergamentblatt. Darauf waren in Mönchslatein nachstehende Worte geschrieben, die genau übersetzt heißen: Alles, was ich innerhalb dieser Mauern erreichen kann, Fühlendes oder Lebloses, Lebendiges oder Totes, will ich vernichten – so wie die Nadel sich bewegt, so arbeitet mein Wille! Verflucht sei dieses Haus und ruhelos seine Bewohner.
Wir fanden nichts mehr. Herr J. verbrannte die Tafel samt ihrem Bannfluch. Er zerstörte das unterirdische Gemach nebst dem Zimmer darüber bis zum Grundstein.
Darauf fand er den Mut, das Haus auf einen Monat selbst zu bewohnen, und wahrlich, ein gemütlicheres Heim gab es in London nicht. Später vermietete er dasselbe vorteilhaft und sein Abmieter hat keine Klage laut werden lassen.
Als nächste Geschichte dieses Buches erscheint
Das Totenschiff
von Pierre Mille