Jim Buffalo – 12. Abenteuer – Kapitel 1
Jim Buffalo,
der Mann mit der Teufelsmaschine
Veröffentlichungen aus den Geheimakten des größten Abenteurers aller Zeiten
Moderner Volksbücher-Verlag, Leipzig, 1922
Das Gefängnis im Wasserturm
Das 12. Abenteuer Jim Buffalos
1. Kapitel
Der verschwundene Erbe
»Hm …?«, murmelte Inspektor Dufferin, der Polizeichef von New York, und sah gespannt zu seinem Besucher hinüber, der sich bequem in den Sessel zurücklehnte.
»Hm …!«, meinte auch dieser und lächelte leicht.
»Na, was sagen Sie dazu?«, drängte Dufferin.
»Hm … ich? Hm … ich muss mir einmal den Mann persönlich ansehen!«
»Und dann wollen Sie urteilen?«
»Ja.«
»Gut!«
Dufferin berührte den Klingelknopf und befahl dem eintretenden Beamten, Mister Hamilton hereinzuführen. Kurz darauf betrat ein ergrauter, bartloser Mann das Büro und verneigte sich leicht.
Dufferin erhob sich und wies auf den Herrn im Sessel.
»Das ist Mister Jim Buffalo …«
Ein Schein der Freude huschte über das Antlitz des Eingetretenen.
»Ihr Name ist mir rühmlich bekannt, Sir«, sagte er. »Ich habe mir schon immer einmal gewünscht, Sie persönlich kennenzulernen!«
Buffalo reichte ihm die Hand.
»Sie sind Mister Tom Hamilton, Hausmeister im Schloss Keandy?
»Yes, Sir, seit 24 Jahren.«
Jim Buffalo nickte.
Offensichtlich war der Eindruck gut, den Hamilton auf ihn machte.
Er wies auf einen der Sessel und bat, Platz zu nehmen.
»Mein Freund, Inspektor Dufferin, erzählte mir da eine sonderbare Geschichte, die er durch Sie erfahren hat. Er hat mich ersucht, mich dafür zu interessieren, was ich gern tun werde, wenn ich alles noch einmal aus Ihrem eigenen Mund höre.«
Hamilton nickte ernst.
»Wenn Sie gestatten, beginne ich gleich damit.«
»Ich bitte darum.«
Hamilton begann: »Vor 23 Jahren starb auf Schloss Keandy, als ich dort schon Hausmeister war, der Schlossherr und das Schicksal wollte es, dass ihm seine Gemahlin nach wenigen Monaten folgte. Ein Knabe von zwei Jahren war es, den sie hinterließen. Laut damaligem Testament wurde dieser Knabe, Harald Keandy mit Namen, Erbe des riesenhaften Besitzes, wenn er das 25. Lebensjahr erreicht hatte. Bis zu diesem Tag sollte er von seinem Onkel, dem Bruder des Verstorbenen, erzogen werden. Alles wurde nach Wunsch des Testaments erfüllt. Mister John Keandy zog auf das Schloss und übernahm die Erziehung des Knaben. Doch nun geschah das Unheimliche: Vor einem Jahr verschwand der junge Erbe, 24-jährig, ohne bisher wieder aufgegriffen zu werden. In acht Tagen ist der Tag gekommen, an welchem er Besitzer des Besitzes wird.
Ist er bis dahin nicht erschienen, geht er des Erbes verlustig und sein Onkel Keandy tritt an seine Stelle!«
Hamilton schwieg in großer Erregung.
»Wie erklären Sie sich das rätselhafte Verschwinden des Erben?«, fragte Buffalo.
Der ergraute Besucher reckte sich hoch auf.
»Einem scheußlichen Verbrechen ist er zum Opfer gefallen!«
»Hm … Sie sprechen da einen ungeheuren Verdacht aus, lieber Freund. Wer könnte an dem Verschwinden des Erben denn Interesse haben?«
»John Keandy, sein Onkel!«
»Der augenblickliche Schlossbewohner? Ihr augenblicklicher Herr?«
»Ja!«, erwiderte Hamilton fest.
»Sie glauben, dass man den jungen Erben beseitigt hat?«
»Ja!«
»Sagen Sie einmal — vor einem Jahr schon ist dieser Harald Keandy verschwunden?«
»Ja.«
»Und da kommen Sie heute …?«
Tom Hamilton hielt den durchdringenden Blick Jim Buffalos fest aus.
»Das hat seinen Grund«, erwiderte er. »Zuerst dachte auch ich an einen Unglücksfall, wie alle anderen. Doch dann …«
Dufferin horchte auf.
»… doch dann gaben mir allerlei Anlässe zu denken. Mister John Keandy wird von Tag zu Tag unruhiger, je näher der Tag rückt, an welchem der verschwundene Erbe seinen Besitz antreten soll.
Nächtelang — tagelang ist er nirgends zu finden. Ich habe das deutliche Gefühl, dass er an dem Neffen ein Verbrechen begangen hat, um so in den Besitz des Schlosses zu gelangen und dass er nun keine Ruhe findet, weil ihn das Gewissen zerfleischt!«
Dufferin nickte versonnen.
Ausgeschlossen schien ihm des alten Hausmeisters Vermutung nicht.
Fälle, wo ein Verwandter den anderen aus Erbschaftsgründen zu beseitigen bemüht war, waren schließlich keine Seltenheit.
Er brauchte ja nur an Baronet Duncan zu denken, den Mann, der Vater und Mutter durch Bubenhand aus gleichem Motiv heraus verloren hatte und der jetzt noch überdies wie ein Berserker um sein Vermögen kämpfen und jene 218 Sensationsaufgaben lösen musste, von denen die ganze Welt sprach.
Warum sollte dieser John Keandy nicht auch seinen Neffen Harald aus dem Weg geräumt haben?
Er war entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.
So reichte er dem ergrauten Hausmeister die Hand. »Ich übernehme den Fall«, sprach er. »Sollte sich Ihr furchtbarer Verdacht bewahrheiten, wird der Schuldige den verdienten Lohn empfangen!«
»Ich danke Ihnen, Sir!«
»Da gibt es nichts zu danken. Kehren Sie heute noch nach Schloss Keandy zurück und sprechen sie zu keinem Menschen von Ihrem Besuch bei mir!«
»Und Sie werden kommen?«
Da huschte ein seltsames Lächeln über des großen Abenteurers Züge.
»Ich werde nicht nur kommen, sondern ich werde schon längst dort sein, ehe Sie das Schloss erreichen!«
Lächelnd drückte er ihm und dem inspektorlichen Freund die Hand. Dann verließ er mit elastischen Schritten das Zimmer.