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Kriminalakte 14 – Der Fall Dirk Dettmar

Der Fall Dirk Dettmar

Dies ist die Akte über einen der wohl mysteriösesten, weil kaum einzuschätzenden Schwerverbrecher in der neueren deutschen Kriminalgeschichte. Einerseits eiskalt und brutal, er unternahm mehrere Raubüberfälle, tötete Polizisten, nahm Geiseln und floh aus dem Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses, andererseits wiederum schwor er nach seiner letzten Verhaftung jeglicher Gewalt ab, wurde zum vorbildlichen Strafgefangenen, heiratete schließlich seine Betreuerin und machte sich in der Haftanstalt, in der er lebenslänglich einsitzen musste, einen Namen als Maler von Ölbildern und kirchlichen Keramikwandbildern, wofür er sogar den Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene erhielt.

Ein geläuteter Schwerverbrecher?

Etwas zweifelhaft, wenn man seinen kriminellen Werdegang vom Gelegenheitsgangster zum Polizistenmörder und Geiselnehmer verfolgt.

 

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Dirk Dettmar, Jahrgang 1957, wuchs in Niedersachsen auf und absolvierte eine Ausbildung zum Werbetechniker. Es ist nicht genau bekannt, wieso und warum er mit knapp 24 Jahren sein bürgerliches Leben sowie Job und elterliches Zuhause hinter sich ließ und kriminell wurde. Bekannt dagegen ist, da aktenkundig, dass er 1981 wegen eines Raubüberfalls auf eine Diskothek in Hameln mit 50.000 DM Beute und eines versuchten Raubüberfalls auf eine Bank in Bad Eilsen zum ersten Mal verhaftet und zu sieben Jahren Gefängnis, abzusitzen in der JVA Hildesheim, verurteilt wurde.

Danach machte Dirk Dettmar nur noch als Schwerverbrecher Schlagzeilen.

Nachdem er sich in der JVA Hildesheim ziemlich schnell akklimatisiert hatte, suchte er den Kontakt zu Mitgefangenen und lernte auf diesem Weg den wegen Raubüberfalls verurteilten Wolfgang Sieloff kennen. Die beiden erkannten sofort, dass die Chemie zwischen ihnen stimmte, sie sich sozusagen gesucht und gefunden hatten, und so dauerte es auch nicht lange, bis die beiden Männer Kriminalgeschichte schrieben.

1983 unternahmen sie einen Fluchtversuch aus der Haftanstalt, der jedoch bereits nach kurzer Zeit scheiterte. Ein Jahr später kehrte Dirk Dettmar dann von einem Hafturlaub nicht mehr ins Gefängnis zurück. In den Jahren danach verübte er mit dem vorbestraften Klaus Bergener und eben Wolfgang Sieloff, dem es inzwischen ebenfalls nach einem Hafturlaub gelungen war unterzutauchen, mehrere Raubüberfälle.

In diesem Zusammenhang muss hinterfragt werden, warum man zwei Verbrechern, die ihren Lebensunterhalt bisher mit Raubüberfällen bestritten und die auch einen Fluchtversuch aus ihrer Zelle unternahmen, bereits zwölf Monate später Hafturlaub genehmigte, der für die meisten Schwerkriminellen geradezu eine Steilvorlage ist, um unterzutauchen. Ohne diesen Hafturlaub und den nach dem Verbüßen ihrer Strafe auferlegten strengen Bewährungsauflagen wären die nachfolgenden Ereignisse wahrscheinlich zu verhindern gewesen.

Aber so entzogen sich Dettmar und Sieloff den Behörden und entwickelten eine geradezu unwahrscheinliche kriminelle Energie, um möglichst schnell zu möglichst viel Geld zu kommen.

 

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Am Abend des 22. Oktober 1987 gingen die beiden Zivilfahnder Rüdiger Schwedow, 22 Jahre, und Ulrich Zastrutzki, 36 Jahre alt, einem anonymen Anruf nach, wonach in einer Werkstatt in Hannover nach Dienstschluss verdächtige Arbeiten durchgeführt werden sollten. Die Situation in der Werkstatt wirkte anfangs unverfänglich, auch dann noch, als die beiden Polizisten die drei anwesenden Männer befragten. Sie wussten allerdings nicht, dass es sich bei diesen Personen um Dettmar, Sieloff und Bergener handelte.

Aber die Zivilfahnder bemerkten recht schnell, das sich diese drei Männer nicht zufällig in der Werkstatt aufhielten. Doch bevor sie reagieren konnten, tötete Dirk Dettmar die beiden Beamten mit mehreren Schüssen aus einer Pistole. Er wurde am nächsten Tag von Spezialkräften in seiner Wohnung im Vorort Limmer zusammen mit Wolfgang Sieloff verhaftet, kurz nachdem sich Klaus Bergener seiner Verhaftung durch Selbstmord entzogen hatte, indem er sich in der Innenstadt auf offener Straße in den Kopf schoss.

In der Werkstatt dann wurde ein Audi Quattro gefunden, ein allradbetriebener Sportwagen, der in jenen Tagen auch einen Porsche nicht zu fürchten hatte. Dieser war mit Stahlplatten als Kugelschutz versehen, mit Rauchgranaten und einem zur Bombe umgebauten Feuerlöscher, sowie zusätzlich noch mit einem Sturmgewehr ausgerüstet.

In den Schlupfwinkeln der Verbrecher, die über ganz Niedersachsen verteilt waren, wurden weitere Schusswaffen, Sprengstoff und noch eine selbstgebastelte Bombe gefunden. Wie sich dann nach und nach herausstellte, hatte das Trio geplant, den hannoverschen Automatenkönig Horst-Adolf Freise zu entführen und Lösegeld zu erpressen. Freise, gelernter Koch und langjähriger Amateurboxer, hatte sich in den 1980er Jahren in kurzer Zeit ein Spielhallen-Imperium aufgebaut und verdiente zu diesem Zeitpunkt Millionen.

Am 27. Oktober 1988 wurde Dettmar vom Landgericht Hannover zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt und in den Hochsicherheitstrakt der JVA Celle überstellt. Ein großgewachsener, kräftiger Mann, kahlköpfig und mit einem gestutzten Oberlippenbart, dessen sichelförmige Enden bis zum Kinn hinab reichten.

In Gedenken an den tödlichen Einsatz und ihren ermordeten Kollegen versammeln sich auch heute noch Dutzende Beamte des damaligen Spezialkommandos am 22. Oktober jeden Jahres in der Brabeckstraße 84 in Hannover-Bemerode vor einem auf private Initiative gesetzten Gedenkstein für Rüdiger Schwedow und Ulrich Zastrutzki.

Wolfgang Sieloff, Dettmars Komplize, wurde zu 19 Jahren Haft verurteilt. Nachdem er sich im Gefängnis mustergültig verhalten und eine Lehre zum Koch absolviert hatte, wurde er mit 49 vorzeitig aus der Haft entlassen. »Ich will mein Leben ändern, ich will nicht hinter Gittern sterben«, behauptete er noch vor seiner Entlassung, aber er verspielte die Chance, die man ihm mit seiner Haftentlassung gab und das mehr als leichtfertig. Nachdem er auf freiem Fuß war, wurde er kein halbes Jahr später zweimal mit Heroin erwischt. Dafür musste er für sechs Monate wegen Drogenbesitz in Haft und verlor damit alle Bewährungszugeständnisse, was bedeutete, dass er seine ursprüngliche Haftzeit bis zum letzten Tag absitzen musste.

 

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Dirk Dettmar hingegen verschwendete nicht den geringsten Gedanken an irgendwelche Resozialisierungsmaßnahmen. Im Gegenteil, am 27. Oktober 1991, also auf den Tag genau drei Jahre nach seiner Verurteilung, überwältigten er und drei weitere Mithäftlinge mithilfe selbstgebastelter Schusswaffen drei JVA-Angestellte, legten ihnen mit Sprengstoff gefüllte Halskrausen an und nahmen sie als Geiseln. Der Ausbruch war unter den vier Männern schon lange geplant und abgesprochen. Außer Dirk Dettmar handelte es sich bei ihnen um Bruno Reckert, den Chef der sogenannten GTI-Bande, dem 1990 schon einmal die Flucht aus dem Gefängnis gelungen war, den wegen Mordes verurteilten und von Abschiebung bedrohten Libanesen Samir El-Atrache und um den Ex-Jugoslawen Ivan Jelinic, der wegen schweren Raubes und räuberischer Erpressung in der JVA Celle einsaß.

Dettmar verwendete bei dieser Tat ein aus einem hohlen Stuhlbein und mehreren Eisenteilen selbst hergestelltes Gewehr, das er mit Schrauben als Munition geladen hatte. Diese Waffe war nicht nur genial erdacht, sondern auch überaus tödlich.

Bei der späteren Feststellung der Gefährlichkeit dieses Schussapparates wurde im Keller des Gebäudes der LKA Niedersachsen ein sogenannter Beschusstest durchgeführt, wobei die Schraubenmunition einen fünf Zentimeter dicken Schweinebauch durchschlug und noch weitere zweieinhalb Zentimeter in einen dahinter stehenden Paraffinblock eindrang. Man kann sich also vorstellen, was diese Waffe anrichtete, wenn man damit auf einen Menschen schoss.

Die Geiselgangster forderten ein Fluchtauto und insgesamt zwei Millionen Mark, aufgeteilt in holländische Gulden, US-Dollar, englische Pfund sowie französische Franc und Schweizer Franken in gebrauchten Scheinen, welche ihnen schließlich auch übergeben wurden. Aber damit war die Sache noch lange nicht beendet, im Gegenteil, das nachfolgende Geschehen hätte jeden Hollywood-Thriller in den Schatten gestellt. Nachdem sie mit dem von der Polizei zur Verfügung gestellten Fluchtwagen, einem Renault Escape, eine Probefahrt unternommen hatten, lehnten sie das Fahrzeug ab und forderten stattdessen einen Volvo.

Dieses Modell lehnte jedoch die Polizei ab.

Während den nachfolgenden Verhandlungen entdeckten die Geiselnehmer im Gefängnishof einen ihnen bekannte alten VW Passat der Gefängnisverwaltung, mit dem sie dann sehr schnell zusammen mit zwei Geiseln ihre Flucht begannen. Schnell deshalb, weil sie den Beamten damit die Zeit nahmen, den Wagen irgendwie zu präparieren. Die dritte Geisel ließen sie in einer der Zellen im Gefängnis zurück. Wenig später ließen sie in Großburgwedel, einer zehntausend Seelen zählenden Ortschaft in der Region Hannover, die zweite Geisel frei. Die Polizei suchte zu diesem Zeitpunkt bereits landesweit mit Fahndungsfotos nach Dirk Dettmar und seinen Komplizen.

In der Nacht des 22. Oktober banden sie schließlich ihre letzte Geisel an einen Baum bei Annaberg-Buchholz, einem kleinen Städtchen nahe Chemnitz. Nachdem sich diese – bei der Geisel handelte es sich um den 44jährigen Justizbeamten Harvey Radatus – aus eigenen Kräften befreien konnte und in dem nahen Städtchen auftauchte, löste die Polizei in Sachsen eine Großfahndung aus, weil man vermutete, dass sich die vier Verbrecher gen Osten nach Polen absetzen wollten.

Doch Dettmar, der Kopf der Bande, tat genau das Gegenteil. Anstatt nach Osten fuhren die Männer nach Westen, Richtung Karlsruhe. Dort waren Frankreich und die Schweiz nicht weit, zwei Länder, in denen sie die Polizei nicht vermutete und sie durch das Lösegeld über hohe Barbeträge in der jeweiligen Landeswährung verfügten. Doch Dettmars Plan ging schief. Inzwischen waren ihre Gesichter bundesweit in allen Nachrichten und Sondersendungen zu sehen.

Kurz vor Mittag am 23. Oktober, genauer gesagt um 11Uhr 52, neigte sich ihre Flucht dem Ende zu. Zu diesem Zeitpunkt ging nämlich in Raststatt über den Notruf 110 eine Meldung bei der Polizei in Karlsruhe ein.

»Sie müssen kommen, schnell! Hier im Parkhaus neben dem Hotel Kaiserhof sind vier Männer mit dunklen Gesichtern. Sie sehen aus wie die Geiselnehmer von Celle!«

Die Polizei alarmierte sofort das SEK, das schon kurz darauf im und um das Parkhaus herum Stellung bezog. Kaum erkannten die Beamten, dass es sich bei den Männern tatsächlich um die Gesuchten handelte, erfolgte auch schon der Zugriff.

 

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Reckert und der Libanese El-Atrache, die im zweiten Parkdeck geradezu seelenruhig auf ihr Fluchtauto zu schlenderten, wurden vom Erscheinen der SEK-Beamten regelrecht überrumpelt. Sie nahmen sofort die Hände hoch und leisteten bei ihrer Verhaftung keinerlei Gegenwehr.

»Sie waren völlig perplex, wirkten müde und abgespannt«, so hernach der Polizeisprecher.

»Im Kofferraum ihres Fluchtwagens konnten wir zudem den größten Teil des Lösegelds und auch ihre selbstgebauten Waffen sicherstellen.«

Aber diese guten Nachrichten wurden getrübt durch die Tatsache, dass es Dettmar und Jelinic gelungen war zu fliehen. Die beiden Gangster rannten aus dem Parkhaus am Hotel Kaiserhof, hetzten die Straße entlang und stürmten in ein türkisches Ladengeschäft, wo sie den Besitzer kidnappten und mit ihm zusammen in seinem grünen VW Golf in das Karstadt-Parkhaus rasten.

Dort stürzten sich die Verbrecher auf eine 39jährige Hausfrau und ihre zwei Kinder, die gerade vom Einkaufen kamen.

»Sie haben mir die Pistole vor das Gesicht gehalten und gerufen: Los, die Wagenschlüssel her, dann passiert euch nichts!«, sagte die Frau später aus. Dann zwangen Dettmar und Jelinic ihre Geiseln in den roten VW der Hausfrau und fuhren aus Hannover. Irgendwann ließen sie die Geiseln unterwegs frei. In der Nacht dann, beim Sportplatz Karlsruhe Rüppur, kidnappten sie einen Mercedes-Fahrer, zwangen ihn, sich in den Kofferraum zu legen, und fuhren dann mit seinem Wagen Richtung Autobahn. Da aber waren ihnen Beamte eines Mobilen Einsatzkommandos, kurz MEK genannt, bereits auf der Spur, denn das Geschehen auf dem Parkplatz des nahen Rüppurer Sportplatzes war durch Zeugen beobachtet worden.

Die Schlinge um die Verbrecher zog sich immer enger zu.

Als ihnen kurz vor der Autobahn der Sprit auszugehen drohte, fuhren sie zu einer Tankstelle in Ettlingen, etwa 20 Kilometer südlich von Karlsruhe. Die Männer fühlten sich sicher, doch als Dettmar ausstieg und zur Zapfsäule ging, schnappte die Falle zu. Die Beamten des MEK eröffneten das Feuer, nachdem die Gangster auf ihre Zurufe nicht reagierten. Doch Dettmar und Jelinic dachten nicht daran aufzugeben, sondern erwiderten das Feuer. Es entwickelte sich eine wilde Schießerei, die erst ihr Ende fand, als Jelinic mit einem Schulterdurchschuss zu Boden ging, während Dettmar gleichzeitig mehrere Kugeln in die Brust trafen.

Um 3 Uhr 57 meldete das MEK dann, dass die Geiselgangster von Celle überwältigt waren.

Dettmar und Jelinic wurden beide schwerstverletzt in ein Karlsruher Krankenhaus gebracht und dort operiert. Nachdem sie soweit genesen waren, dass sie transportfähig waren, wurden sie nach einer weiteren Verurteilung in verschiedene Hochsicherheitsgefängnisse überführt.

 

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Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus schwor Dettmar mehrmals auch unter Anwesenden jeglicher Gewalt ab und wurde zu einem vorbildlichen Strafgefangenen. Er stellte sich unter Begleitung seiner Betreuerin freiwillig mehreren psychologischen Begutachtungen und absolvierte eine Verhaltenstherapie. Mit Unterstützung dieser Betreuerin, die er schließlich 1998 heiratete, erstritt er sich auch durch mehrere Gerichtsinstanzen hindurch das Recht auf künstlerische Betätigung. Für die Kapellen zweier Justizvollzugsanstalten fertigte er dann im Auftrag von Kirche und Seelsorge einen mehrteiligen Kreuzweg und keramische Wandbilder an. Er war damit so erfolgreich, dass man ihm posthum den Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene verlieh.

2005 wurde Dirk Dietmar in die Justizvollzugsanstalt in Sende verlegt.

Seine dort mit Ölpastellkreide angefertigten Bilder werden über eine Internetplattform angeboten und große Teile des Erlöses gehen als Spende an die Niedersächsische Polizeistiftung.

Nach mehreren Anträgen auf vorzeitige Haftentlassung verkündete am 16. April 2013 die Strafrechtsvollstreckungskammer des Landgerichts Hildesheim per Beschluss, dass Dirk Dettmar aufgrund der besonderen Schwere seiner Schuld mindestens 24 Jahre seiner lebenslangen Freiheitsstrafe verbüßen muss.

Im Übrigen wurden im Hochsicherheitstrakt der JVA Celle nach Abschluss des Falles sämtliche hohlen Stuhl- und Tischbeine ausgewechselt.

Quellenhinweise: