Archive

Nach Amerika! – Zweiter Band – 03 – Teil 1

Friedrich Gerstäcker
Nach Amerika!
Zweiter Band
Leipzig, Berlin, 1855

Das Schiff

Weit besser befanden sich die Passagiere, die mit den, die Weser befahrenden Dampfbooten ihrem Ziel rasch und bequem entgegeneilten. So hatte die Familie des Professor Lobenstein, mit dem größten Teil der im Hannoverschen Haus einquartierten und für die Haidschnucke bestimmten Auswanderer, schon um sechs Uhr morgens Bremen verlassen. Der kleine rasche Dampfer legte sich bald nach 9 Uhr an Bord des mächtigen Seeschiffes, dem sie ihre Leben für die weite Fahrt anvertrauen wollten. Dort wurden schon Kisten und Kasten, Schachteln und Koffer rasch an Deck gehoben. Die Reisenden sahen sich plötzlich, wie mit einem Schlag aus allen ihren bisherigen Verhältnissen herausgerissen, in einer neuen unbekannten, fremden Welt.

Das Schiff! Wie viel hatten sie darüber gelesen, wie viel sich davon erzählen lassen: von den Kajüten und Decks, von den Masten und Segeln, von den Matrosen selbst, und dem Leben an Bord. Wie hatten sie doch, als sie erst einmal den Gedanken an Auswanderung fest gefasst, und mit den Verhältnissen im alten Vaterland zerfallen, ihre ganze Hoffnung auf das Neue gesetzt, den Augenblick herbeigesehnt, in dem sie an den hohen Seitenwänden des Schiffes, das sie nach Amerika hinüberbringen sollte, hinaufklettern und die Hüte schwenken würden, den stolzen Bau zu begrüßen. Tausend wunderliche und bunte Bilder hatten sie sich dabei ausgemalt, jeder in seiner Art, auf seine Weise. Der Kapitän stand dann auf seinem Deck und winkte dem nahenden Boot schon von Weitem seinen Willkommen zu, die Matrosen jubelten und ein paar Böller wurden gelöst, den Passagieren zu Ehren. Die Flaggen und Wimpel wehten dabei und im Hintergrund rauschte das Meer mit seinen mächtigen Wogen gewaltig darein, in die Harmonie dieses einen seligen Augenblicks.

So hatte sich die Fantasie eben diesen Augenblick gemalt, und nun? Gerade vor neun Uhr fing es, höchst prosaischer Weise, an zu regnen, als ob sie da oben die Wolken mit Eimern ausschöpften und ohne richtige Ortspolizei das Wasser mitten in die Welt hineingössen. Das auf Deck liegende Gepäck war mit geteerter Leinwand überspannt. Als aber das Boot an das Schiff hinan rauschte, wurde dieselbe hinweggezogen. Die Sorge der Auswanderer nahm das so ausschließlich in Beschlag, dass sie fast an weiter nichts anderes dachten oder denken konnten und jeder nur das seinige so rasch wie möglich unter Dach und Fach zu bringen suchte.

Das Tau, das ein Matrose vorn am Bug des Dampfbootes zum Wurf zusammengerollt in der Hand trug, flog aus und wurde an Bord der Haidschnucke von rasch zuspringenden Leuten befestigt. Die Räder arbeiteten langsam vorwärts, das Boot eben gegen die Strömung, gegen die es aufgedreht war, festzuhalten. Eine von Bord niedergelassene, bequeme Treppe, mit niederhängenden Tauen (Fallreep) an der Seite sich festzuhalten, diente den Passagieren zum Aufsteigen auf das höhere Deck.

Dort befand sich aber schon ein Teil der früher Gekommenen, die es für zweckmäßig gefunden hatten, sich zeitiger einzufinden und dadurch die Wahl eines Platzes zu haben. In der Kajüte waren nun allerdings die einzelnen staterooms oder Kajütenplätze schon von den Reedern selber für die Passagiere nach ihrer Anmeldung bestimmt. Eine Beschlagnahme des einen oder anderen Platzes konnte da nicht stattfinden. Im Zwischendeck gab es aber dafür desto verschiedenere Plätze, die allerdings den Erstgekommenen zur Wahl frei lagen, und die Kojen unter den beiden Luken nach vor und aft wären jedenfalls zuerst vor allen anderen belegt worden, hätte der Steuermann, die zweite Person an Bord, den zuerst gekommenen Passagieren nicht dadurch die Wahl wieder schwergemacht und manche sogar dazu bestimmt, sich einen Mittelplatz zu wählen, dass er ihnen sagte, die, welche sich gerade in der Mitte des Schiffes befänden, wären der Bewegung desselben auch am wenigsten ausgesetzt, und würden deshalb auch am wenigsten von der Seekrankheit zu leiden haben.

Es hat das etwas für sich; die Bewegung des Schiffes ist dort allerdings am geringsten, aber trotzdem noch stark genug dem, der nur irgend zu diesem Leiden inkliniert, nicht den geringsten Schutz zu gewähren, und der davon verschont bleibt wird sie auch an den entfernteren Enden nicht bekommen. Jedenfalls haben die Plätze unter den Luken die meiste frische Luft, und wer je zur See war, wird die zu schätzen wissen.

Einige, wie schon gesagt, ließen sich aber doch dazu bereden, Mittelplätze zu belegen; unter diesen Mehlmeier, der von Steinert beauftragt worden, falls er früher an Bord kommen sollte, einen Platz für ihn aufzuheben, und der selber die Seekrankheit mehr als Cholera und gelbes Fieber fürchtete. Zu diesem hatte sich noch der kleine graue Herr mit dem spitzen Mützenschild gesellt, den der Kellner in Bremen die Nachtigall genannt und der ebenfalls seine Passage im Zwischendeck genommen hatte. Drei und Drei bekamen eine Koje zusammen, von denen immer zwei übereinander lagen. Steinert war also im Bunde der Dritte, wie er sich ausdrückte, als er die Einrichtung erfuhr, und der kleine graue Herr, der Schultze hieß, hatte sich, wogegen Mehlmeier allerdings im Anfang protestierte, dann aber nachgab, die obere Koje ausgesucht. Die untere Koje nahm der polnische Jude mit seinem Knaben ein, dem später noch der junge Bursche, für den an der Landung in Bremen gesammelt worden war, zugegeben wurde, da niemand anderes ein Logis mit dem langbärtigen, nicht eben reinlich aussehenden Manne inne haben wollte.

Im ersten Augenblicke wusste aber niemand, wohin er gehöre, noch sah irgendjemand die Möglichkeit ein, sich oder sein Gepäck an irgendeinem nur erträglichen Ort unterzubringen. Alles schrie und lief durcheinander, sämtliche Bagage wurde vorläufig an Deck aufgestapelt und dann durch die Matrosen, nur um die Sachen aus dem Regen fortzubekommen, in das Zwischendeck hinuntergelassen, wo in der Dunkelheit des Raumes an ein Sortieren der verschiedenen Eigentumsrechte nicht zu denken war. Vergebens blieben auch alle Protestationen der Passagiere, die diese Kiste nicht auf den Kopf gestellt, jene nicht gedrückt oder gestoßen haben wollten. Die Matrosen taten gerade so, als ob sie eine ganz andere Sprache redeten und kein Wort von allen Bitten und Vorwürfen verständen, schlugen ein Tau um das erste beste Stück, das ihnen unter die Hände kam. Mit einem Heave! und Lower away!, den englischen Ausdrücken des Einladens, hoben sich die Kisten in die Luft, schaukelten einen Moment hin und her und verschwanden dann in der Tiefe, unten zu einem Chaos von Dingen aufgestapelt zu werden, in dem niemand mehr das Mein und Dein unterscheiden konnte. Auch von den Kajütspassagieren wurden eine Menge Sachen dort versenkt, und diese ebenfalls protestierten vergeblich dagegen. Die Sachen mussten aus dem Weg geschafft werden, wie es die Matrosen nannten, indem sie es den Zwischendeckspassagieren gerade in den Weg warfen. Und wer nicht zufällig einen Teil seiner Sachen oben auf entdeckte und selber fasste und wegtrug, konnte dann sehen, wie und wo er es später wiederfand.

Die Kajütspassagiere bekamen indessen, sobald sie sich bei dem Steuermann meldeten, ihre reservierten Plätze sofort angewiesen. In der Tat waren die verschiedenen Türen, die alle nach innen in den großen Saal führten, schon mit den verschiedenen Namen bezeichnet worden. Die Lobenstein’sche Familie, die drei nebeneinanderliegende Räume, die Hälfte der Kajüte einnahm, sah sich bald, so gut es den Umständen nach nur irgend ging, in zwar kleinen, aber ziemlich geräumigen und besonders nett und reinlich gehaltenen Kajüten untergebracht. Der Vater und Eduard bewohnten eine von diesen, Anna und Marie die zweite und die Mutter mit den beiden jüngsten Kindern die dritte.

Ihnen gegenüber war die eine Eckkoje oder Kajüte von Herrn Henkel und seiner jungen Frau, die übrigens noch nicht eingetroffen war, belegt worden, die zweite hatten zwei fremde Herren in Besitz, ein Baron von Benkendroff und ein Herr von Hopfgarten. Die mittlere bewohnte schon seit acht Tagen, sehr zum Ärger des Steuermanns, der dadurch vielfältig geniert worden war, ein Fräulein von Seebald mit einer alten würdigen Dame (einer Frau von Kaulitz), die ungemein gern Whist spielte und die ersten Tage in einem gelinden Grad von Verzweiflung gelebt hatte, nicht den dritten Mann zu einer Partie bekommen zu können. Die beiden Herren Hopfgarten und Benkendroff erschienen ihr als ebenso viele Engel in der Not. Herr von Hopfgarten besonders, war, seitdem er an Bord gekommen, erst imstande gewesen, sich einen einzigen Nachmittag der unausweichlichen Partie zu entziehen.

Noch war, der Kajüte der beiden Steuerleute gerade gegenüber, ein anderer, etwas schmalerer stateroom frei, dessen unterer Teil von Schiffswegen zu einer Art Vorratskammer für neues Segeltuch und Garn benutzt wurde. Der obere Teil war dagegen einem Mittelding zwischen Passagier und Schiffsoffizier, dem Doktor, wie er kurzweg genannt wurde, zugeteilt, sich darin, so gut wie das eben gehen wollte, häuslich niederzulassen.

Im Zwischendeck befanden sich indessen die Leute fast ebenso behaglich und zufrieden wie in der Kajüte. Nachdem nur der erste Sturm der eintreffenden Mitpassagiere abgeschlagen und diese mit ihrem Gepäck beseitigt worden waren, hatten sich die Leute in den verschiedenen Kojen verteilt und Raum übrig genug. Allerdings ging das Gerücht um, dass noch Passagiere mit einem Weserkahn eintreffen würden, und fünf oder sechs konnten, ihrer Meinung nach, auch noch mit Bequemlichkeit untergebracht werden. Einige Kojen standen sogar noch leer, vielleicht kamen die aber auch nicht, trösteten sich andere, und dann versprachen sich die meisten eine sehr angenehme Reise. Lieber Gott, das Zwischendeck versagte ihnen manche am Land gewohnte Bequemlichkeit, aber dafür war man ja doch auch an Bord und musste sich die kurze Zeit schon behelfen. Die Belohnung lag über dem Wasser drüben, und hieß Amerika.

So verging der zur Einschiffung bestimmt gewesene Tag, der 20. August, an dem noch, trotz dem Regen, fortwährend Fracht in Fässern, Kisten und Ballen eintraf und in den unteren Raum verstaut wurde. Die erste Nacht an Bord ging auch ruhig und ohne weitere Störung vorüber. Das Schiff, ein großes stattliches Fahrzeug, lag still und regungslos auf der glatten Wasserfläche, und in dem weiten Raum des Zwischendecks, mit den beiden Luken geöffnet, über die ein Dach von geteerter Leinwand gespannt worden, während ein Windfang den Tag über noch frische Luft hinunter führte, ließ es sich schon aushalten – die Leute waren auf Schlimmeres vorbereitet gewesen. Auch die Provisionen waren leidlich, Butter und Schwarzbrot konnte sogar gut genannt werden, und mit dem frischen Fleisch und grünen Gemüse, was sie, solange sie an Bord lagen, statt der Schiffskost geliefert bekamen, durften sie wohl zufrieden sein. Viele von ihnen hatten es in der eigenen Heimat lange nicht so gut gehabt.

Nur das Wetter wollte und wollte nicht besser werden, der Himmel hing in düsteren Wetterwolken über der schon vollgesogenen Erde, und der Herbst meldete sich in den kalten, unfreundlichen Schauern als ein viel zu zeitiger, unwillkommener Gast. So verging der Morgen des 21. Während ein großer Teil der schon an Bord befindlichen Passagiere einsah, dass er sich keineswegs hatte so zu übereilen gebraucht, wurde ein anderer schon ungeduldig, behauptete das Versprechen der Abfahrt für den 20. zu haben und verlangte vom Kapitän die Abfahrt. Sie hielten ihren Kontrakt und meinten deshalb, dass der Kapitän den seinen ebenfalls halten müsse. Die Erwiderung der Seeleute, dass ein großer Teil der Passagiere noch gar nicht an Bord sei, hielt ebenfalls nicht Stich.

»Wer nicht da wäre, dem würde der Kopf nicht gewaschen«, meinte Herr Schultze, »und wenn die Leute bis Weihnachten nicht kämen, sollten sie wohl auch daliegen bleiben und auf sie warten? Alle Vögel«, setzte er dabei hinzu, »hielten die richtige Zeit in ihrer Wanderung, und sie wollten die ihre ebenfalls nicht unnötig versäumen.«

So rückte der Mittag heran und der Koch hatte eben zum Schaffen gerufen, ein eigenes wunderliches Wort, das in unserer norddeutschen Sprache Essen bedeutet, als der Steuermann, der schon den ganzen Morgen oft und ungeduldig den Fluss hinaufgeschaut hatte, nach der Nummer des Segels und der aufgezogenen kleinen Privatflagge des Reeders, den so lang erwarteten Kahn mit dem Rest der Passagiere erspähte, und die Ordre gab, das Deck für den Empfang der neuen Gäste klar zu machen. Glücklicherweise hatte, seit einer Stunde etwa, der Regen wenigstens nachgelassen. Die Nachricht verbreitete sich rasch über Deck, dass ihre neue Einquartierung anrücke. Ebenso stand das ganze Deck des kleinen Weserkahns gedrängt voll Menschen, die sehnsüchtig ihrer endlichen Erlösung von dem trostlos engen Fahrzeug entgegensahen und das Schiff nun, dem sie sich rasch näherten, mit einem dreimaligen donnernden Hurra begrüßten. Keineswegs so freudig wurden sie hier empfangen.

»Den Schwarm Menschen sollen wir hier noch an Bord bekommen?«, lief der Schreckensruf durch das ganze Schiff. »Wo wollen sich die denn unterbringen? Das ist ja gar nicht möglich!« Kein einziger Zuruf antwortete dem grüßenden Hurra. Aber der Steuermann hatte indessen die Bremer Flagge am Heck und des Reeders Zeichen am Fockmast wie ein Tuch mit dem weit auswehenden Namen des Schiffs am Top des großen Mastes gehisst, als Merkmal für den Kahn, der auch nun direkt auf das Schiff zulief, scharf gegen den Wind anluvte und als er seinen Bug ziemlich nahe zum Bugspriet der Haidschnucke gebracht hatte, voll in den Wind hineindrehte. Während das Segel niederfiel, fing Kapitän Meinert ein nach vorn ihm zugeworfenes Tau, das er rasch an seinem eigenen Bord befestigte. Der Matrose hatte im Heck des Kahns ein anderes zugeworfen bekommen, und wenige Minuten später lag er wohlbehalten längsseits der Haidschnucke seine »lebendige und tote Fracht« an deren Bord zu löschen.

Unmöglich wäre es nun die Verwirrung, den Lärm zu schildern, der in diesem Augenblick entstand – der Steuermann schrie seine Befehle über Deck, aber die ganze Mannschaft sowie sämtliche Passagiere schrien mit. Der Mann hätte sich ebenso gut ruhig in die Kajüte setzen und seinen Teller voll Suppe essen können, der drinnen auf dem Tisch kalt wurde, als hier zu versuchen, Ordnung in dieses Babel von Stimmen und Koffern und Hutschachteln, Matratzen, Kisten, wollenen Decken, kleinen Kindern und Körben mit Provisionen zu bringen.