Deutsche Märchen und Sagen 150
Johannes Wilhelm Wolf
Deutsche Märchen und Sagen
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1845
195. Sankt Gudulas Grab bestohlen
Die heilige Gudula wurde mit vielem köstlichen Schmuck und Edelsteinen geziert begraben. Das hatte ein Dieb gesehen. Der ging bei nächtlicher Weile zu dem Grab und nahm all das reiche Gut von dem heiligen Leichnam bis zu den Armbändern ab. Das blieb aber nicht ungestraft. Wenige Tage danach, als die Mädchen Hand in Hand auf der Straße tanzten, kam auch des Grabschänders Tochter. Die trug Gudulas Armbänder und mengte sich unter die Tanzenden.
Ein Mädchen, welches Gudula wohl gekannt hatte, sah die Armbänder nicht sobald, als sie weglief und die Sache ihren Eltern erzählte. So kam es heraus und des anderen Mädchens Vater wurde verhört. Anfangs leugnete er zwar, doch das half ihm nicht lange und er wurde seiner Missetat überführt. Da versammelte Sankt Emebertus, der Bischof von Cambrai und Gudulas Bruder war, alles Volk in der Kirche, schlug den Dieb in den Bann und verwünschte ihn dazu mit der ganzen Familie, dass sie und all ihre Nachkommen Krüppel und die Frauen dazu noch am Hals gequält sollten sein. Das ist auch geschehen und, wie man sagt, ist die Familie noch nicht ausgestorben.