Der mysteriöse Doktor Cornelius – Band 1 – Episode 1 – Kapitel 2
Gustave Le Rouge
Der mysteriöse Doktor Cornelius
La Maison du Livre, Paris, 1912 – 1913
Erste Episode
Das Rätsel des Creek Sanglant
Kapitel II
Ein unerklärlicher Mordfall
Fred Jorgells Arbeitszimmer war mit einer perfekten Mischung aus Behaglichkeit und Komfort eingerichtet und bestens für die enorme Organisationsarbeit ausgestattet, die die riesigen Unternehmen des Milliardärs erforderten. Fünf Telefone und zwei drahtlose Fernschreiber ermöglichten ihm eine schnelle Kommunikation mit allen Städten der Welt. Große Aktenschränke enthielten Myriaden von industriellen und wissenschaftlichen Unterlagen über die verschiedensten Angelegenheiten.
Der Milliardär fühlte sich nur in diesem Arbeitszimmer wirklich zu Hause, das tagsüber durch große Glasfenster mit Blick auf den Park und die Stadt und abends durch Quecksilberdampflampen, die ein sanftes, azurblaues Licht verbreiteten, beleuchtet wurde.
Es hatte gerade neun Uhr geschlagen und Fred Jorgell war damit beschäftigt, einige eilige Briefe abzuschicken, bevor er zu seinem Zirkel ging, als Baruch eintrat.
Mit sehr ruhiger Miene begrüßte er seinen Vater respektvoll und blieb ihm gegenüber in der unterwürfigen Haltung eines Untergebenen, der eine Zurechtweisung erwartet.
Einen Moment lang sahen sich Vater und Sohn tief in die Augen; es war Baruch, der als Erster die Augen sinken ließ.
»Ich bin gekommen, wie Sie es mir befohlen haben«, sagte er unterwürfig, »ich warte auf Ihre Befehle.«
Dieser vorgetäuschte höfliche Tonfall machte den alten Herrn wütend, sein Gesicht wurde rot und seine Augen loderten wie Flammen.
»Sie sind ein Dieb«, erwiderte er schroff, »ich schäme mich, einen solchen Elenden wie Sie zum Sohn zu haben! Wenn Sie ein bisschen Herz hätten, sollten Sie sich das Gehirn aus dem Schädel prügeln.«
»Ich bin in dieser Frage nicht so voreingenommen wie Sie«, sagte Baruch und zuckte mit den Schultern in verächtlicher Ironie. »Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass die Geschichte mit dem großen Rubin nur ein netter Trick, ein humorvoller Scherz sei.«
Der Milliardär rief mit schrecklicher Stimme: »Glauben Sie wirklich, ich hätte mir auch nur einen Augenblick lang etwas vorgemacht? Ich weiß, wozu Sie fähig sind! Ich habe Sie schon einmal bei der Arbeit gesehen: Erinnern Sie sich an die gefälschten Wechsel, die Sie in Umlauf gebracht haben!«
Er ballte die Fäuste und sein Gesicht nahm einen entsetzlichen Ausdruck von Wut und Hass an.
»Ich werde nicht versuchen, mich zu verteidigen«, brüllte er. »Ja, Herr Vater, es ist völlig richtig, dass ich den großen Rubin unter dem Tisch versteckt habe, mit der festen Absicht, ihn an mich zu nehmen.«
»Und Sie wagen es, das zuzugeben?«
»Warum ist das nicht der Fall? Der einzige Schuldige in diesem Fall sind Sie! Warum lassen Sie mich ohne Geld zurück? Ich bin jetzt sechsundzwanzig Jahre alt, ich will mein Leben leben! Mit zwei- oder dreihunderttausend Dollar – was für Sie nicht viel ist – könnte ich mich in interessante Unternehmungen stürzen; ich bin genauso intelligent, genauso geeignet, ein Geschäft zu führen, wie jeder andere in Ihrem Umfeld.«
»Sie haben es kaum bewiesen: Sie haben das Vermögen, das Ihnen von Ihrer Mutter zustand, verprasst und jedes Mal, wenn ich Ihnen seitdem etwas Geld anvertraut habe, haben Sie es innerhalb weniger Wochen wieder verspielt.«
»Das Leben ist immer teuer, aber jetzt habe ich genug erlebt, ich bin mir meiner Sache sicher und muss es nur noch beweisen … Hier, wenn Sie mir zum Beispiel, all unsere alten Streitigkeiten vergessend, nur hunderttausend Dollar geben würden …«
»Nicht einmal fünfzigtausend! Nicht einmal zwanzigtausend!«, rief der Milliardär so wütend, dass er in seinem Zorn einen zerbrechlichen Behälter aus Murano voller seltener Briefmarken mit einem Faustschlag zertrümmerte; das Blut schoss ihm in den Hals. Er rang nach Luft.
Er klingelte, um sich eine eiskalte Limonade bringen zu lassen. Erst nachdem er sie getrunken hatte, fuhr er, etwas beruhigt, fort: »Rechnen Sie in keiner Weise mit meinem Vermögen. Ich finde Ihre Bitte nach dem, was gestern passiert ist, eine einzigartige Unverschämtheit. Alles, was ich tun kann, ist, Ihnen nicht – wie ich es vorhatte – die Pension von tausend Dollar pro Monat zu streichen, die ich Ihnen, seit Sie hier sind, zukommen lasse.«
»Ich habe doch ganz offen mit Ihnen gesprochen«, murmelte Baruch düster und drohend, »ich war bereit, ehrlich zu sein, was soll’s? Es ist das letzte Mal, dass ich mich mit einer solchen Bitte erniedrige.«
»Was haben Sie vor?«
»Ich muss es Ihnen nicht offenlegen.«
Der Milliardär war von dem entschlossenen und gleichzeitig verzweifelten Tonfall, mit dem sein Sohn die letzten Worte gesprochen hatte, mehr beeindruckt gewesen, als er es sein wollte.
»Hören Sie«, sagte er sanfter, »mein Entschluss ist nicht unwiderruflich; ich erkenne, dass Sie energisch und intelligent sind. Wenn Sie mir Ernsthaftigkeit und guten Willen beweisen, werde ich darüber nachdenken, was ich für Sie tun kann.«
Baruch war in diesem Moment zu gereizt, um die Bedeutung dieses Zugeständnisses zu begreifen.
»Wie lange«, erwiderte er frech, »muss ich auf Ihr Wohlwollen oder Ihre Laune ausharren?«
»Das hängt von Ihnen ab. Im Moment bin ich bereit, das gestrige Abenteuer zu vergessen, und das ist schon eine Menge Nachsicht von meiner Seite. Aber achten Sie darauf, dass ich Sie gnadenlos enterben werde, wenn Sie mich nicht vollständig zufriedenstellen.«
»Es wird nicht an Leuten fehlen, die Sie dazu drängen, und sei es nur der scheinheilige Harry Dorgan, der, wie ich schon vor langer Zeit bemerkt habe, meiner Schwester Isidora den Hof macht.«
»Sprechen Sie nicht von Harry Dorgan«, entgegnete der alte Mann vehement, »ich wünschte, Sie wären so aufrichtig wie er. Obwohl er jünger ist als Sie, leitet er bereits die Elektrizitätswerke von Jorgell-City. Er ist ein Junge mit großer Zukunft.«
»Wie ich sehe, war er geschickt genug, um Ihr Vertrauen zu gewinnen.«
»Er hat sie zweifellos verdient!«
»Das ist mir egal«, sagte Baruch mit einem Schulterzucken, »aber kommen wir zur Sache zurück.«
»Ich habe Ihnen soeben meine Entscheidung mitgeteilt.«
Baruch warf seinem Vater einen Blick zu, der ihn fast erschreckte.
»Das ist also Ihr letztes Wort? Sie weigern sich, mir die elenden hunderttausend Dollar vorzustrecken, die ich von Ihnen verlange?«
»Ich lehne dies ab. Nehmen Sie die Stelle an, die ich Ihnen in meinem Trust anbiete; beweisen Sie mir ein paar Monate lang, dass Sie zu einer guten Verwaltung fähig sind, und mein Vermögen wird Ihnen weit offen stehen.«
»Das ist gut. Ich bestehe nicht darauf. Vielleicht beweise ich Ihnen in Kürze, dass ich in der Lage bin, meinen Weg im Leben ohne Ihr Geld zu gehen.«
Baruch verließ das Haus und schlug die Tür hinter sich zu.
Am nächsten Tag schien er die dramatische Szene bereits vergessen zu haben. Er erschien wie üblich am Familientisch und war voller Fröhlichkeit. Am Nachmittag unternahm er mit Miss Isidora, der einzigen Person, die er wirklich mochte, einen langen Spaziergang durch den Park.
Fred Jorgell hoffte, dass der Sohn, der ihm schon so viel Ärger bereitet hatte, nicht ganz verloren war und dass er bald zu besseren Gefühlen zurückkehren würde.
Der Milliardär war nach dem Abendessen gerade wieder in sein Arbeitszimmer zurückgekehrt, als Miss Isidora hereinkam, ohne anzuklopfen.
»Ich bin es, Vater«, rief sie von der Türschwelle aus, »mach dir keine Sorgen!«
Das Mädchen trug ein Kleid aus bläulichem Crêpe de Chine, das die Eleganz und den Reichtum ihrer Formen auf dezente Weise betonte. Ihr hellblondes Haar, in dem eine Reihe von Perlen glänzte, umrahmte harmonisch eine regelmäßige und ruhige Physiognomie, in der sich Offenheit und Güte widerspiegelten; ihre großen, meerblauen, fast grünen Augen waren klar und forsch, aber nicht unverschämt, und sie besaß einen frischen, samtigen Teint mit einer besonderen Röte, die das Vorrecht einiger amerikanischer Mädchen zu sein scheint.
Mit leicht gerührter Stimme sagte sie zu ihrem Vater: »Du bist mir vorhin so besorgt, ja sogar so melancholisch erschienen, dass ich unbedingt zu dir kommen musste.«
»Du hast gut daran getan, mein Kind, du weißt, dass deine Gegenwart, ein einziges Lächeln von dir ausreicht, um mich über all meine Traurigkeiten hinwegzutrösten und all die Wunden zu heilen, die ich manchmal in der harten Schlacht um die Dollars bekomme.«
»Du musst glauben, Vater«, sagte das Mädchen kokett, »dass mein Lächeln heute nicht die gewohnte Macht über dich hatte. Sei ehrlich, du hast etwas Langeweile, wie am Tag des berühmten Bankrotts der australischen Bank, den du mir nicht gestehen wolltest.«
Der Milliardär protestierte schwach: »Nein, ich versichere dir, mein Kind, ich habe keine ernsthaften Sorgen.«
»Hast du vielleicht etwas, das dir an meinem Bruder nicht passt?«
Fred Jorgell zog die Augenbrauen zusammen und nickte entmutigt.
»Du weißt doch, kleine Isidora, dass dein Bruder und ich uns nie gut verstehen konnten. Baruch ist eine undankbare Natur, aus der ich nie etwas machen konnte.«
»Er scheint viel fleißiger und vor allem fügsamer zu werden.«
»Lass uns nicht mehr über ihn reden, ja? Das ist ein Gesprächsthema, das mir unangenehm ist.«
Der Milliardär war aufgestanden und lief nervös durch den großen Raum. Miss Isidora erkannte, dass es sinnlos war, darauf zu bestehen. Zwischen Vater und Sohn bestanden so große Unterschiede im Charakter, ja sogar eine solche Antipathie, dass es ihnen zweifellos nie gelingen würde, miteinander auszukommen.
»Nun gut«, sagte sie mit einem Schmollmund, »lassen wir Baruch beiseite und sprechen wir über das Fest vorgestern. Du hast dich bestimmt gefreut. Selbst meine eifersüchtigsten Freundinnen haben gesagt, dass es herrlich war!«
»Gewiss!«
»Es gab den Vorfall mit dem Rubin, ein Missverständnis, leider …«
Fred Jorgell machte eine verärgerte Geste.
»Erzähl mir nichts von dem Rubin«, sagte er ungeduldig, »ich habe schon lange nicht mehr daran gedacht, und wenn ich dir die Wahrheit sagen soll, dann habe ich heute einen echten Grund zur Sorge, oder besser gesagt, eine echte Sorge.«
»Und du wolltest es mir nicht sagen«, murmelte das Mädchen mit einem vorwurfsvollen Unterton.
»Du siehst, dass es mir unmöglich ist, etwas vor dir zu verbergen, aber beruhige dich, es ist nichts Ernstes.«
»Worum geht es denn?«
»Du weißt, dass ich immer noch mit dem Garnfabrikanten aus Buenos Aires im Geschäft bin, von dem ich dir schon oft erzählt habe, Pablo Hernandez. Ich habe ihm kürzlich Baumwolle im Wert von dreihunderttausend Dollar verkauft, die er abgenommen hat. Gerade heute wollte er mir das Geld überweisen und ich habe noch nichts von ihm gehört. Das ist umso seltsamer, da Pablo absolut kreditwürdig ist und sehr pünktlich liefert.«
»Das ist in der Tat sehr merkwürdig.
»Noch beunruhigender ist, dass er mir gestern Abend telefonisch mitteilte, dass er auf dem Weg sei, um mir die vereinbarte Summe selbst zu bringen…
In diesem Moment klopfte es leise an der Tür des Arbeitszimmers.
»Herein!«, rief der Milliardär, »Ah, du bist es, Paddock, bringst du mir gute Nachrichten?«
Paddock war ein alter Ire, der als Verwalter, Faktotum und gelegentlicher Sekretär Fred Jorgells ganzes Vertrauen genoss. Auf die Frage, die ihm gestellt wurde, antwortete er zunächst mit einem verneinenden Kopfschütteln.«
»Pablo Hernandez?«, fragte der Milliardär ängstlich.
»Tot! Ermordet!«
»Aber das ist doch unmöglich!«
»Ich habe gerade seine Leiche gesehen.«
Fred Jorgell war heftig gerührt.
»Pablo war ein treuer Partner«, sagte er, »ich würde die dreihunderttausend Dollar, die er mir schuldet, von ganzem Herzen dafür geben, wenn er noch am Leben wäre.
Dann fragte er mit fiebriger Neugierde: »Wie wurde er getötet? Ich werde so viel Geld wie nötig ausgeben, um die Mörder zu vergreifen!«
»Dieser Tod ist von einem seltsamen Geheimnis umgeben. Pablo Hernandez wurde heute am frühen Morgen am Ufer des kleinen sumpfigen Baches gefunden, der sich am Eingang des Waldes, etwas außerhalb der Fabriken, befindet. Er wurde vollständig ausgeraubt, aber was unerklärlich erscheint, ist die Tatsache, dass sein Körper keine Spuren von Verletzungen aufweist, außer einer leichten Prellung und einem kleinen dunklen Fleck hinter seinem Ohr. Das Automobil, in dem er allein gekommen war, stand ein paar Meter weiter hinten und war unversehrt.«
»Wurde eine Untersuchung durchgeführt?«, fragte Miss Isidora.
»Gewiss«, antwortete Paddock, »aber diese Untersuchung hat nichts ergeben. Dr. Cornelius Kramm untersuchte den Leichnam und es war ihm nicht möglich, ein eindeutiges Ergebnis zu erzielen. Er wäre fast versucht, auf einen Schlaganfall zu schließen, wenn das Opfer nicht ausgeraubt worden wäre.«
»Das ist ein unlösbares Rätsel«, murmelte das Mädchen.
»Die einzige plausible Erklärung, die man geben kann«, sagte der Ire, »ist, dass Pablo Hernandez wegen einer kleinen Reparatur an seinem Auto ausgestiegen sein muss, und während er so beschäftigt war, hat ihn der Schlaganfall getroffen. Ein Passant, irgendein Herumtreiber, entdeckte seine Leiche als Erster und beeilte sich, sie um ein paar Geldscheine zu erleichtern.«
Während dieser Erklärungen war Fred Jorgell in Gedanken versunken.
»Die Banditen haben hier ein Meisterstück abgeliefert«, sagte er langsam. »Ich bin mir sicher, dass Pablo Hernandez die dreihunderttausend Dollar, die er mir heute auszahlen wollte, in Banknoten und anderen Wertpapieren bei sich hatte. Für mich ist das Verbrechen offensichtlich. Es war ein regelrechter Hinterhalt.«
Weder Paddock noch Miss Isidora ließen sich auf diese letzte Bemerkung ein. Beide waren im Grunde genommen der gleichen Meinung wie der Milliardär.
»Das sind immerhin dreihunderttausend Dollar, die Sie verloren haben«, sagte Paddock nach einem Moment völliger Stille.
»Nein, Pablo Hernandez war reich, sehr reich, ich weiß, dass ich das Geld bekommen werde, aber das spielt keine Rolle: Dreihunderttausend Dollar würden für mich keinen irreparablen Verlust darstellen.«
Miss Isidora dachte nach.
»Warum«, fragte sie Paddock nach einer Pause, »wird mein Vater erst so spät über den tragischen Tod seines Geschäftspartners informiert?«
»Miss, das ist sehr erklärlich, denn die Identität des unglücklichen Pablo wurde erst vor einer Stunde festgestellt. Ich wusste bereits am Mittag, dass ein Verbrechen begangen worden war, aber da Schlägereien zwischen italienischen und irischen Arbeitern in Jorgell-City nicht ungewöhnlich sind, hatte ich angenommen, dass es sich um einen gewöhnlichen Mord handelte, und mich nicht weiter darum gekümmert.«
»Gut, Paddock«, sagte der Milliardär nachdenklich, »schreiben Sie noch heute Abend eine Notiz für die Zeitungen und versprechen Sie jedem, der eine interessante Information über den Tod des armen Hernandez bringt, eine Prämie von fünftausend Dollar.«
Der Ire ging hinaus. Miss Isidora blieb noch einige Zeit bei ihrem Vater, der sehr betroffen aussah.
Nachdem er allein war, lief Fred Jorgell noch lange in nervöser Erregung in seinem Arbeitszimmer umher: Er war unruhig, gereizt und traurig.