Das Buch vom Rübezahl – Teil 7
Das Buch vom Rübezahl
Neu erzählt von H. Kletke
Breslau, 1852
8. Rübezahls Spieß
Ein anderer Bote, welcher seinen Weg über das Gebirge nehmen musste, führte, wie es seine Gewohnheit war einen langen hölzernen Spieß bei sich, mit dem er über sumpfige Stellen hinwegsetzte.
Jahrelang hatte ihm dieser Spieß die besten Dienste geleistet. Als er diesmal aber unterwegs eine Pfütze überspringen wollte, brach ihm die Stange mitten entzwei.
Der Bote gebärdete sich untröstlich und klagte so bitterlich, dass ein Wanderer, welcher des nämlichen Weges kam, ihn fragte, weshalb er so kläglich tat.
»Sollt ich nicht klagen«, versetzte jener, »da meine Freude dahin ist, mein Spieß, mein schöner Spieß, den ich für unzerbrechlich hielt!«
»Gebt Euch zufrieden«, sagte der andere, »da wächst noch Holz genug, welches als Spieße tauglich ist.« Damit ging er in den Wald hinein und brachte bald darauf einen herrlichen Spieß zurück, den er dem frohen Boten mit den Worten gab: »Siehst du, der ist gewiss so gut wie dein voriger. Geh nun rasch damit fort und säume dich nicht, es wird dich nicht reuen.«
Hierauf schlug der Fremde einen anderen Weg ein und war verschwunden, während der Bote mit seinem Spieß dahintrabte, was seine Beine nur vermochten. Allein der neue Spieß wurde mit jedem Schritt schwerer und unbequemer, sodass er ihn zuletzt nicht mehr mit einer Hand halten konnte, sondern genötigt war, ihn über die Schulter zu legen. Aber auch so wurde ihm die Stange nach einer kleinen Strecke zu schwer. Da warf er sie zornig weg und schalt auf den Fremden, der ihm das wunderliche und verwünschte Ding aufgeschwatzt hatte.
Als nun der Bote ärgerlich ohne Spieß fortwanderte und das Gebirge nunmehr hinuntergehen wollte, sah er unverhofft nicht weit vom Wege an einem alten Stamm seinen vorigen rechten Spieß stehen.
»Ei, sieh doch«, rief der Bote, »bist du vorausgelaufen! Ein andermal werde ich dich nicht mehr aus den Händen lassen!«
Zugleich merkte er aber wohl, dass es Rübezahl gewesen war, der ihm den Possen gespielt habe, und dass der Spieß, welchen er leichtsinnig wegwarf, sich wohl am Ende der Reise in pures Gold verwandelt haben würde. Bei diesem Gedanken kehrte er um und ging ein großes Stück Weges zurück, hatte aber den Spieß, mit welchem er sich nun gern geschleppt hätte, nicht mehr gefunden.