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Nick Carter – Eine sensationelle Gerichtsverhandlung – Kapitel 1

Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Eine sensationelle Gerichtsverhandlung
Ein Detektivroman

Der vermisste Schlüsselbund

In der Verfolgung einer ihm verdächtig erscheinenden Person begriffen, kam Nick Carter eines Nachts mit dem Glockenschlag elf Uhr an der Ecke von Front- und Waterstreet vorbei.

Tagsüber gibt es kaum eine geräuschvollere und mehr vom Großstadtleben umflutete Straßenecke in ganz New York. Das ändert sich aber mit dem Eintritt der frühen Abendstunde; dann schließen all die Läden und Werkstätten, und die Straßen liegen wie ausgestorben da; nur der gemessene Schritt des patrouillierenden Policeman unterbricht die Stille.

Um elf Uhr nachts herrschte vollends Friedhofsruhe.

An der Ecke angelangt, blieb der Detektiv stehen und schaute sich überrascht um. Er hatte angenommen, der von ihm Verfolgte würde versuchen, eines der über den Hudson führenden Fährboote zu erreichen oder sich hinter den in unabsehbaren Reihen längs des Ufers aufgestapelten Kaufmannsgütern zu verbergen. Zu seiner Überraschung war der Verdächtige indessen plötzlich von Wallstreet nach Frontstreet zu abgebogen. Als Nick die Ecke erreichte, war sein Mann plötzlich verschwunden.

Er musste in eines der Häuser getreten sein oder sich innerhalb eines der dunklen Torwege verborgen halten. Davon war Nick Carter überzeugt, denn die Straße lag völlig übersichtlich vor Nicks spähendem Blick. Er vermochte bis zum nächsten Block zu sehen und war dem Verfolgten so dicht auf den Fersen gewesen, dass dieser unmöglich schon um die nächste Ecke gebogen sein konnte.

Durch einen bloßen Zufall war Nick auf den Unbekannten aufmerksam geworden. Der ihm befreundete Polizeichef einer kleineren Stadt hatte sich unlängst mit dem Ersuchen an den Detektiv gewendet, einen mit großen Summen durchgegangenen Bankkassierer, der sich zweifellos nach New York geflüchtet hatte, dingfest zu machen. Zufällig hatte Nick nun einen Fremden unterwegs getroffen, auf welchen die betreffende Personenbeschreibung ziemlich passte, und da Nick gerade nichts anderes vorgehabt hatte, so hatte er die Fährte des Verdächtigen aufgenommen und stundenlang verfolgt. Auf diese Weise war er in das menschenleere, im nächtlichen Schweigen liegende Geschäftsviertel der unteren Hafenseite gelangt.

Wohl zehn Minuten wartete Nick, der selbst in einer Nische Deckung gesucht hatte, auf das Wiederauftauchen des Mannes; jedoch vergeblich. Langsam ging der Detektiv nun weiter und schaute umsichtig in jede Tornische und sämtliche Kellereingänge hinunter; jedoch ebenso vergeblich.

Auf diese Weise war er bis etwa in die Mitte des Blocks gekommen. Da fiel sein Blick auf eine halb offenstehende Ladentür, durch welche heller Lichtschein auf das Trottoir fiel.

Als Nick durch die Türöffnung in das Ladeninnere spähte, gewahrte er, dass dieser der Länge nach durch eine etwa drei Fuß hohe Holzwand geteilt wurde. Von der Straßentür aus führte quer durch den Laden eine Art Gang an dem Verkaufstisch vorüber, der in eine gerade gegenüberliegende Hintertür auslief. Deren Oberteil bildete eine Glasplatte; im Raum dahinter brannten mehrere elektrische Lampen und ermöglichten es dem forschenden Blick des Detektivs, das geräumige Kontor mit seinen Pulten, Schränken und anderen Kontorutensilien genau zu überschauen. Ganz hinten saß, über ein Pult gebeugt, ein anscheinend noch jugendlicher Clerk in seine Arbeit vertieft, und unweit von ihm an einem anderen Pult ein älterer Herr, in welchem Nick zu seiner Überraschung Mr. Henry Alden, den Inhaber einer weithin bekannten Tabakgroßhandlung, erkannte.

»Hm, hm«, brummte der Detektiv vor sich hin. »Mr. Alden befindet sich in finanziellen Nöten, wie ich gehört habe – diese Nachtarbeit mag einen letzten Versuch darstellen, das sinkende Schiff wieder flottzumachen.« Dabei blickte er auf das über der Ladentür befestigte Firmenschild, um sich zu überzeugen, dass er sich nicht irrte. Das war nicht der Fall, denn beim Schein der nahebei brennenden Laterne konnte er deutlich in Goldbuchstaben auf schwarzem Grund den Namen Henry Alden entziffern.

Langsam ging der Detektiv weiter, um die Suche nach dem Verschwundenen fortzusetzen. Als Nick das Ende des Blocks erreicht hatte, ging er diesen auf der anderen Straßenseite zurück. Als er dem Aldenschen Laden gerade gegenüberstand, entdeckte er einen Kellerzugang, der seine Gestalt völlig im Dunkel verbarg und ihm gleichzeitig gestattete, die Straße vom einen Block zum anderen deutlich zu überschauen. Hastig trat Nick in den Schatten zurück, entschlossen, solange zu warten, bis der von ihm Verfolgte wieder auftauchen würde.

Während der Detektiv noch geduldig harrte, hörte er einen Cab heranrollen, und gleich darauf hielt der Einspänner unmittelbar vor dem Aldenschen Laden. Der Kutscher kletterte von seinem hohen Sitz, trat unter die offenstehende Ladentür und lenkte durch einen lauten Zuruf die Aufmerksamkeit der im Kontor Befindlichen auf sich; dann bestieg er wieder den Bock seines Gefährtes.

Kurz darauf erschien Mr. Alden unter der Straßentür in Überrock und Hut, kehrte sich aber nochmals nach dem Ladeninneren um und rief dem hinten arbeitenden Clerk zu, dass er nicht vor Mittag wieder ins Geschäft kommen würde. Dann trat er auf den Cab zu und stieg ein.

Der Wagen fuhr fort; doch zu Nicks Befremden huschte ein Mann, der bis dahin seinen Blicken durch den Cab verborgen geblieben war, nach einem Versteck nahebei. Dem Detektiv schien es, als ob der Mann unmittelbar zuvor erst den Wagen verlassen haben musste.

»Das ist merkwürdig!«, brummte er erstaunt. »Woher kam der Kerl, und wohin ging er?«

Zehn Minuten später kam der Clerk aus dem erleuchteten Kontor, trat unter die offene Ladentür und blickte in augenscheinlicher Beunruhigung die Straße auf und nieder.

Dann eilte er plötzlich bis an die Ecke von Pinestreet, wo er sich nach allen Richtungen ängstlich umschaute, um dann ebenso schnell zur Ladentür zurückzueilen und unter dieser wieder stehenzubleiben. Kurz darauf lief er in entgegengesetzter Richtung bis zur Ecke von Wallstreet. Dort angelangt, blickte er aufs Neue aufmerksam um sich, um schließlich beunruhigt zu rufen: »Policeman … heda, Officer!«

Als der Detektiv den jungen Clerk so laut nach der Polizei rufen hörte, verließ er sein Versteck und kreuzte die Straße. Er langte fast gleichzeitig mit dem zurückkehrenden Clerk unter der offenen Ladentür an, da er nicht den direkten Weg hatte einschlagen können, sondern in der Richtung nach Pinestreet um eine lange Reihe am Rande des Trottoirs aufgestapelter Tabaksballen hatte herumlaufen müssen. Es schien ihm, als erblickte er auf der anderen Straßenseite einen hurtig entfliehenden Schatten. Doch er konnte sich nicht schlüssig darüber werden, ob der Schatten von einer anderen Person oder von dem rasch herankommenden jungen Clerk herrührte.

»Nun, was gibt es?«, fragte er den atemlos sich ihm Nähernden.

»Well, ich habe bis jetzt zusammen mit meinem Chef, Mr. Alden, gearbeitet«, berichtete der junge Mann. »Vor zehn Minuten ging Mr. Alden fort und nahm die Schlüssel mit sich. Das wurde ich erst gewahr, als ich den Laden schließen wollte. Ich hatte die Absicht, einen Policeman herbeizurufen, damit dieser auf den Laden achtgibt, während ich Mr. Alden nacheile und mir die Schlüssel geben lasse.«

Während er noch sprach, hatte Nick die Hand auf den Türdrücker gelegt und nahm nun unter diesem einen Bund Schlüssel wahr, von denen einer im Schlüsselloch steckte. »Was wollen Sie denn?«, fragte er erstaunt. »Das sind doch offenbar die vermissten Schlüssel.«

»Nicht möglich!«, rief der andere betroffen. »Sie waren nicht da, als ich forteilte!«

»Sie müssen sie übersehen haben«, bemerkte der Detektiv lachend. »Wahrscheinlich haben Sie selbst die Schlüssel in der Tür stecken lassen, als Sie heute Abend den Laden aufschlossen.«

»Nein!«, widersprach der junge Mann bestimmt. »Die Tür ist seit voriger Nacht unverschlossen geblieben. Tagsüber hatte der Hausdiener den Schlüsselbund in Verwahrung. Als er nach Hause ging, legte er die Schlüssel auf Mr. Aldens Pult, und dort lagen sie den ganzen Abend.«

Eben kam der von dem Clerk angerufene Policeman herbei und ließ sich den Sachverhalt auseinandersetzen. Der junge Mann verschloss nun die Ladentür, steckte den Schlüsselbund ein und erklärte, nach Hannover Square gehen und dort mit einem Hochbahnzug uptown (der obere Stadtteil) nach Hause fahren zu wollen.

Da der von Nick Verfolgte augenscheinlich in gleicher Richtung entkommen war, so beschloss der Detektiv, die nutzlos gewordene Suche aufzugeben und ebenfalls heimzukehren. Nick begab sich deshalb auch zu der Hochbahnstation an Hannover Square und bestieg dort den Zug.

Am nächsten Morgen las der Detektiv in der Zeitung, dass in demselben Block, in welchem sich der Aldensche Laden befand, ein gewaltiges Schadenfeuer ausgebrochen war, das fast das gesamte Häusergeviert in Asche gelegt und mindestens eine Viertelmillion Schaden verursacht hatte. Den Zeitungen zufolge sollte das Feuer im Aldenschen Kontor ausgebrochen sein. Wie man wissen wollte, hatte in diesem bis in später Nachtstunde ein Clerk gearbeitet, und man nahm an, dass durch Zufall oder Unachtsamkeit Papiere oder dergleichen in Brand geraten waren, ohne dass dies beim Ladenschluss bemerkt worden war. Auf diese Weise hatte das Feuer sich entwickelt, bis es zur verheerenden Feuersbrunst angewachsen und großen Schaden verursacht hatte.

Da die Nachrichten mit seinen eigenen Wahrnehmungen übereinstimmten, so legte der Detektiv ihnen weiter keinen Wert bei, sondern vergaß bei seiner angestrengten Tätigkeit gänzlich die zufällig von ihm gemachten Entdeckungen.

Seitdem war eine Woche verflossen.

 

*

 

Nick Carter saß gerade beim Frühstück, als seine Wirtschafterin ihm den Besuch einer ältlichen Frau meldete. Sie hatte ihren Namen nicht angegeben, weil dieser, wie sie versicherte, dem Detektiv doch unbekannt war.

Nick begab sich in den Parlor und traf in ihm eine schlicht gekleidete Matrone, deren sympathisches Äußeres von vornherein den besten Eindruck auf ihn machte. Sie mochte ungefähr siebzig Jahre zählen, und ihr schneeweißes Haar rahmte ein feingeschnittenes, blasses Antlitz ein, aus welchem zwei verweinte Augen sich mit flehendem Blick auf den Detektiv richteten.

»Madame«, begann der Detektiv, sie in einen bequemen Sessel nötigend, »mit was kann ich Ihnen dienen?«

»Sind Sie Mr. Carter?«, fragte die alte Frau schüchtern.

»Der bin ich«, gab Nick zurück.

Seine Besucherin schaute ihn zagend an. »Ich kam hierher, Mr. Carter, Ihren Beistand zu erbitten … Doch ich fürchte … ich weiß nicht, ob Sie sich bereitfinden lassen werden.«

»Bitte, kommen Sie ohne Umschweife zur Sache.«

»Mein Himmel, es handelte sich um einen unglücklichen, völlig unschuldigen jungen Mann …«

»Wer ist dieser junge Mann?«, fragte Nick, der vor ihr stehengeblieben war.

»Herbert Mason … man hat ihn fälschlich eines schrecklichen Verbrechens beschuldigt.«

»Darf ich auch um Ihren Namen bitten?«, fuhr Nick zu fragen fort.

»Ich bin die Witwe Emma Mason«, hauchte die Matrone mit zuckenden Lippen.

»Sie sind vermutlich die Mutter des Beschuldigten, nicht wahr?«

»Seine Mutter und zugleich seine einzige Freundin«, sagte die Witwe tonlos.

»Wessen klagt man Ihren Sohn an?«, erkundigte sich Nick Carter gemessen.

»Man beschuldigt ihn der Brandstiftung«, schluchzte Mrs. Mason auf. »Er soll vor einer Woche den in Waterstreet befindlichen Laden von Mr. Henry Alden vorsätzlich angezündet haben.«

Nick Carter ließ ein leises Pfeifen hören. Seine Erlebnisse in jener Nacht standen plötzlich wieder greifbar deutlich vor seinen geistigen Blicken.

»Warum glauben Sie, dass ich Ihnen meinen Beistand versagen werde?«, erkundigte er sich.

»Wir sind so arm«, flüsterte die Witwe niedergeschlagen. »Wir haben keine Mittel, einen Anwalt zu bezahlen, und nun wird mein Sohn von den betreffenden Feuerversicherungsgesellschaften verfolgt.«

Der Detektiv wehrte nur ungeduldig mit der Hand ab. »Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen – doch halt! Zuvor eine Frage … Wo befindet sich Ihr Sohn gegenwärtig?«, forschte er.

»In dem Tombs (Polizeigefängnis)«, gestand die Weinende. »Gestern früh wurde er verhaftet, und es war mir bisher nicht möglich, einen Anwalt aufzutreiben, der sich des Ärmsten annahm.«

»Wie kommt das? Wir haben in New York doch gerade Anwälte genug!«

»Aber keine, welche sich der Armut annehmen!«, rief die alte Frau bitter. »Was habe ich gebeten und gefleht … doch überall wies man mich achselzuckend ab, weil ich keinen Vorschuss leisten kann – und wie soll ich das ermöglichen? Mein armer Junge hat nur wenig verdient, und er musste alles für mich opfern, denn ich bin krank … Nur sein letztes Wochengehalt war gestern im Haus, sonst nichts!« Sie bedeckte das Antlitz mit beiden Händen und fuhr, häufig von bitterlichem Schluchzen unterbrochen, fort: »Überall speiste man mich achselzuckend ab. Der Fall sei so klar, dass man nichts für meinen Sohn tun könne, hieß es allerorten. Wir sollten ruhig warten, bis der Fall spruchreif geworden sei, dann müsse das Gericht einen Anwalt stellen.«

»Nahmen Sie denn nicht Rücksprache mit Mr. Alden?«, fragte der Detektiv kürzer als zuvor.

Die alte Frau nickte, eingeschüchtert durch seinen barschen Ton. »Mr. Alden ist auf meinen armen Jungen sehr schlecht zu sprechen. Er beschuldigt Herbert, ihn in die größte Bedrängnis gebracht zu haben. Weil er das Feuer zu einer Zeit angelegt hatte, wo sich die Firma in finanzieller Bedrängnis befunden hatte, habe er den Argwohn der Versicherungsgesellschaft wider seinen Chef, eben Mr. Alden, erweckt, und dieser sähe sich nun genötigt, wegen des Schadenersatzes zu prozessieren.«

»Er beschuldigte Ihren Sohn also gleichfalls der vorsätzlichen Brandstiftung?«, fragte Nick.

»Er ist sein allerschlimmster Ankläger!«, stammelte die Bedauernswerte. »Er erstattete Strafanzeige, und auf sein Betreiben hin wurde Herbert verhaftet!«

»Well, was unternahmen Sie ferner, als Mr. Alden Sie abgewiesen hatte?«, wollte Nick wissen.

»Was sollte ich sonst tun?«, entgegnete sie mit tonloser Stimme. »Von allen Türen wurde ich abgewiesen. Ich konnte mich kaum mehr auf den Füßen halten, als ich gestern am späten Abend verzweifelt heimkehrte … Ich habe keine Freunde, die sich unserer annehmen möchten. Nur eine alte Frau, die im gleichen Haus mit uns wohnt, sagte, wenn überhaupt ein Mensch auf der Welt, so könnten Sie uns helfen, Mr. Carter … Da fasste ich mir ein Herz und suchte Sie auf.«

Voll bangen Zweifels schaute sie zu ihm auf, doch ein hoffnungsvolles Lächeln ging durch ihre welken Züge, als der Detektiv ihr nun freundlich zunickte, sich einen Stuhl herbeirückte und meinte: »Well, wir müssen den ganzen Fall durchsprechen, damit ich klar sehe.«

Dadurch ermutigt, begann die Matrone unter einem tiefen Atemzuge: »Also, in jener Unglücksnacht zum 15. Januar blieb mein Sohn auf Mr. Aldens Verlangen mit ihm bis in die elfte Abendstunde im Kontor zurück, um einen ausführlichen Auszug aus den Büchern zu machen, der die Finanzlage der Firma übersichtlich erkennen ließ.

Sie blieben bis in die späte Nacht zusammen und sprachen über den Auszug, der sich noch viel schlimmer als alle Befürchtungen erwies. Schließlich äußerte Mr. Alden zu Herbert: ›Es ist klar, dass die Firma bankrott ist, tritt nicht ein Wunder ein. Hören wir auf, alles Rechnen bringt doch kein anderes Resultat zuwege.‹ Damit ging er fort und ließ Herbert allein im Geschäft zurück. Als mein Sohn schließen wollte, konnte er den Schlüsselbund nicht finden, der den ganzen Abend über auf Mr. Aldens Pult gelegen hatte. Herbert befürchtete, dass sein Chef die Schlüssel aus Versehen eingesteckt haben mochte, und sah sich gezwungen, den Laden auf kurze Zeit unbeaufsichtigt zu lassen. Er wollte nämlich einen Policeman herbeirufen und diesen mit der Überwachung des unverschlossenen Geschäfts beauftragen, während Herbert selbst seinem Chef in dessen Wohnung nachfahren und sich die Schlüssel geben lassen wollte. Seine Rufe hatten die Aufmerksamkeit eines Vorüberkommenden erregt. Als Herbert zu der Ladentür zurückkehrte, da fand der Unbekannte den Schlüsselbund im Schloss stecken. Herbert war erstaunt, denn ehe er zur Straßenecke gelaufen war, hatte er das Türschloss befühlt, um sich zu vergewissern, ob Mr. Alden nicht vielleicht selbst schon den am Bund hängenden Schlüssel ins Schloss gesteckt hätte. Das war aber nicht der Fall gewesen; umso verblüffter war mein armer Junge, als sich der Bund nun plötzlich vorfand.«

»Well, Ihr Sohn verschloss dann vermutlich die Tür, steckte die Schlüssel in die Tasche und fuhr nach Hause – oder nicht?«, erkundigte sich der aufmerksam zuhörende Detektiv.

Die Witwe nickte eifrig. »Sie können sich unseren Schreck denken, als mir Herbert am nächsten Morgen aus der Zeitung vorlas, dass im Block eine gewaltige Feuersbrunst gewütet und das Aldensche Geschäft mit all seinen Vorräten völlig zerstört hatte. Doch Herbert ließ sich nicht träumen, dass man ihn mit dem schrecklichen Vorfall in Verbindung bringen könnte, bis gestern früh Beamte mit einem Haftbefehl in unserer Wohnung erschienen und ihn unter der Anklage der vorsätzlichen Brandstiftung verhafteten.«

Sie schwieg und schaute voll banger Erwartung den Detektiv an, der nachdenklich in seinem Stuhl zurückgelehnt saß.

»Well«, versetzte er endlich. »Ich weiß, Ihre Darstellung beruht soweit auf Wahrheit, denn ich selbst war der Mann, welcher das Schlüsselbund im Schloss steckend fand.«

»Sie, Mr. Carter?«, erwiderte erstaunt die alte Frau, ihn groß dabei anschauend.

»Hat Mr. Alden große Verluste erlitten?«, fragte Nick schließlich.

Die Matrone schüttelte mit dem Kopf. »Vergütet die Gesellschaft den Brandschaden, so verliert er keinen roten Cent«, versicherte sie eifrig. »Wie Herbert mir sagte, waren alle Vorräte und das Gebäude selbst sehr hoch bei mindestens einem halben Dutzend verschiedener Gesellschaften versichert.«

»Das ist so ziemlich alles, was Sie mir sagen könne, eh?«, meinte der Detektiv nachdenklich.

»Ich kann nur noch hinzufügen, dass Herbert seine Unschuld beteuerte – und, Mr. Carter, ich kenne meinen Sohn … Er ist keiner Lüge fähig!«

Heimlich gerührt blickte Nick Carter auf die alte Frau, die mit solch felsenfestem Vertrauen auf ihren Sohn baute. »Wie steht es um Ihren Sohn und seine Gewohnheiten?«, fragte er.

»O, er ist die Häuslichkeit selbst, er kennt gar keine Vergnügungen«, beeilte sich Mrs. Mason zu versichern, während aus ihren tränenschimmernden Augen mütterlicher Stolz leuchtete. »Er trinkt und raucht nicht, er hat keinerlei Umgang … seine einzigen Freunde sind seine Bücher, in denen er allnächtlich studierte, um sich weiterzubilden.«

Nick Carter sprang auf und wandelte eine geraume Weile im Zimmer auf und nieder. »Well, Sie haben keinen Freund auf der Welt, der sich Ihrer annehmen könnte?«, fragte er schließlich.

»Niemand. Wir waren uns selbst genug und suchten keinen Verkehr«, hauchte die Witwe.

Der Detektiv gab keine Antwort, sondern schritt zum Fernsprecher und rief erst Chick, seinen Vetter und ersten Gehilfen, und dann Ida, ebenfalls eine Verwandte von ihm und eine nicht minder geschickte Mitarbeiterin, mit der Bitte an, sofort zu ihm zu kommen.

»Mrs. Mason«, wendete er sich dann zu der alten Frau zurück, »ich werde mich Ihres Falles annehmen. Bestärken mich meine Nachforschungen in dem Glauben an die Unschuld Ihres Sohnes, so werde ich diese an den Tag bringen.« Fast ungeduldig wehrte er den Dankesgruß der Matrone ab. »Keine überflüssigen Worte, Mrs. Mason«, sagte er rasch, »ich liebe dergleichen nicht. Seien Sie außer aller Sorge und vertrauen Sie mir völlig. Ich werde für Ihren Sohn einen zuverlässigen Rechtsanwalt bestellen … wird es mir möglich, so werde ich auch Bürgschaft aufzutreiben suchen, damit Ihr Sohn wieder in Freiheit gesetzt und es ihm ermöglicht wird, an der Herbeischaffung seiner Unschuldsbeweise sich zu beteiligen.«

»Ach, mein Himmel«, stammelte die alte Frau unter Freudentränen. »Mr. Carter, vergessen Sie nur nicht, dass wir unbemittelt sind …«

»Bitte, kein Wort weiter davon«, wehrte Nick lächelnd ab. »Dafür lassen Sie mich sorgen!«

Als Chick gleich darauf ins Zimmer trat, machte ihn der Detektiv mit dem Sachverhalt bekannt und fuhr fort: »Es wird das Beste sein, Chick, du suchst zuvor Mr. Alden auf. Bringe ihn zum Sprechen, damit wir die Gründe für die von ihm erstattete Strafanzeige kennen lernen. Du kannst gar nicht schnell genug den Gentleman vornehmen, verstanden?«

Wie Chick das Zimmer verlassen wollte, trat in dieses gerade ein hübsches, schlankes Mädchen mit einem klugen, sympathischen Gesicht; es war dies Ida, die Cousine Chicks.

»Ida«, versetzte der Detektiv, als er auch das junge Mädchen in die Einzelheiten des Falles eingeweiht hatte. »Du gehst nun mit Mrs. Mason zu deren Wohnung und bleibst vorläufig bei ihr. Ich denke, die Lady wird in der nächsten Zeit geeigneten Schutzes und Beistandes bedürfen, sobald es ruchbar wird, dass ich den Fall in die Hand genommen habe.« Er wendete sich an Mrs. Mason und fügte hinzu: »Sie können meiner Cousine unbedingtes Vertrauen schenken. Bitte, gewähren sie ihr einen Einblick in die sämtlichen Briefschaften und sonstigen Papiere Ihres Sohnes … Es ist möglich, dass deren Inhalt uns den einen oder anderen wichtigen Anhaltspunkt liefert.«

Damit verabschiedete er sich von den beiden, um sich selbst ungesäumt zu den Tombs zu begeben und den dort Inhaftierten aufzusuchen.