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Adventskalender 2021 – 5. Türchen

Der alte Sack
Aus: Märchen für große Kinder von Klara Reichner

»Bim, bim, bim«, sagte mit etwas rau krächzender Stimme die alte Turmuhr, welche stets behauptete, ihr kostbares Organ eigentlich längst schonen zu müssen, weil die rücksichtslose Grausamkeit der Menschen ihr ohnehin bereits einen chronischen Katarrh durch den anstrengenden Dienst bei Wind und Wetter in freier Luft aufgenötigt hätte.

»Bim , bim , bim«, machte nachäffend eine hell glänzende Glasscherbe in der Nachbarschaft, die sich eitel lächelnd in den Mondesstrahlen sonnte, denn sie meinte steif und fest, der Mond bekäme ja doch nur sein Licht von ihr.

Sie wohnte zwar nur unter dem Dach in einer engen Rumpelkammer, aber war denn das ihre Schuld? Warum sind auch die Menschen so dumm, so undankbar und so überaus leicht vergessen! Sie war noch immer schön und jung und konnte noch ebenso gefeiert sein, wie in ihrer gefeierten Jugend.

So dachte sie und so erzählte sie auch prahlend und laut ihren Leidensgefährten in dem engen Dachraum.

Wenigstens war es ehrlich, dass sie so sprach, wie sie dachte, und das war doch immerhin etwas.

Das alte Gerümpel da oben hörte auch gewöhnlich andächtig genug zu – sie verstand sich eben mit so einem gewissen Nimbus zu umgeben und besaß eine recht blühende Art des Vortrags. Und dann dieses Schillern, dieses Blitzen – es blendete einen ja ordentlich. Zwar war es nur eine Scherbe, aber es imponierte doch, und sie verstand es, sich ihr Schillern und ihre Rednergabe ordentlich zur Geltung zu bringen; das musste man ihr lassen, und das ist doch schließlich immer die Hauptsache!

Ja, es war eine sehr elegante Glasscherbe!

»Sehen Sie«, sprach sie, nachdem sie die alte Turmuhr verspottet hatte, »das ist eine alte, eingebildete Person, diese Turmuhr mit ihrem Bim, bim, bim! Und sie ist doch nur aus ganz ordinärem Metall und hat eine Stimme wie ein Zwirnsfaden so dünn und wie eine Bürste so rau! Wer in aller Welt ist sie denn und was kann sie? Nichts als ihr armseliges Bim, bim! Aber das sagt sie freilich auch den ganzen Tag, diese Dame Einerlei! Mich wundert es nur, dass die Menschen es nicht müde werden, dieses ewige bim, bim anzuhören allein das ist so der Lauf der Welt. Das Garstige loben sie, und das Schöne wird nicht gewürdigt und schnell vergessen!«

Bei diesen Worten spiegelte sie sich eitel in den Mondstrahlen, denen doch sie nur das Licht gab, die verkannte Glasscherbe!

»Jawohl!«, seufzte aus einer dunklen Ecke heraus die Ruine einer ehemaligen Rumflasche, welche sich einbildete, so eine Art von Base der schönen Glasscherbe zu sein, obwohl Letztere diese Verwandtschaft natürlich niemals anerkennen wollte.

»Jawohl, schlecht sind sie und undankbar diese Menschen! Erst gelten wir ihnen alles, dann schleudern sie uns von sich, wenn wir in ihrem Dienst Schönheit und Jugendkraft geopfert haben!«

Ein tiefer Seufzer schloss diese melancholische Rede der ehemaligen Rumflasche, welche es sehr liebte ,über ihr Unglück und der Menschheit Undank zu seufzen, um dadurch einen gewissen Glorienschein des Märtyrertums zu gewinnen.

»Eine Rumflasche und unglücklich, ich bitte Sie, welch ein Unsinn!«, flüsterte in einem entgegengesetzten Winkel ein abgetragener Handschuh seiner Nachbarin, einer alten Vorhangstange, zu. »Eine Rumflasche – ich bitte Sie! Ja wir, wenn wir so reden wollten – namentlich ich, der ich so manchen Händedruck mit Grafen und Fürsten gewechselt habe! Ja, ja das sind leider jetzt tempi passati! Aber so eine pensionierte abgedankte, invalide Rumflasche, was weiß denn die, und was hat die wohl geleistet und erlebt! Ich finde so eine Rumflasche sehr nach demokratischen Prinzipien duftend – namentlich für mich, der ich durch und durch Aristokrat bin. Ich stamme nämlich eigentlich sogar aus einer richtigen Fürstenfamilie, müssen Sie wissen, und stand mit den regierenden Herren so ziemlich auf Du und Du!«

»Mein Lieber«, sagte die alte Gardinenstange, »ich für meine Person wundere mich über gar nichts mehr! Ich habe von meinem erhöhten Standpunkt aus viel Übersicht gehabt und viel Überblick gewonnen, und meine vielfachen Erfahrungen, die ich bei Gelegenheit dieser Beobachtungen gewann, berechtigen mich wohl zu dieser philosophischen Ansicht! Glauben Sie mir – ich wundere mich wirklich über gar nichts mehr, aber über rein gar nichts!«

Die alte Gardinenstange liebte es nämlich für eine Art von Philosophin zu gelten und außerdem tat sie gern etwas geheimnisvoll.

»Wenn ich nur erzählen wollte – aber man hat doch eben auch sein Point d’honneur, um Deutsch zu sprechen!«, sagte sie auch jetzt.

»O bitte, erzählen Sie doch!«, bat eine verrostete, aber sehr neugierige kleine Mausefalle, welche in der Rumpelkammer im Ganzen arg verachtet wurde, wie zu einer äußerst untergeordneten Kaste gehörig.

»Nein, nein!«, wehrte die alte, philosophische Gardinenstange geheimnisvoll ab. Weil sie als Philosophin etwas freisinniger sein musste als die anderen, so konnte sie das – nämlich diese Paria einer Antwort würdigen. »Wenden Sie sich nur an meinen Kollegen, den Fenstervorhang. Vielleicht erzählt Ihnen der etwas.«

»Still, still, die Glasscherbe erzählt!«, tönte es von allen Seiten dazwischen.

»Als ich noch im Besitz meiner schönen Herrin war, da führte ich ein Götterleben, sage ich Ihnen. Ich würde sagen, wie ein Gott in Frankreich, wenn diese Auffassungsweise nicht heutzutage für veraltet und antideutsch gälte! Täglich Abwechslung, immer etwas Neues und immer mit Wohlgeruch umgeben. Ich war nämlich einst noch ein bisschen größer und glänzender als jetzt, müssen Sie wissen, wunderschön, und ich wurde damals Flacon genannt und war stets mit duftenden Gewässern angefüllt. Tagtäglich beschäftigte man sich mit mir, pflegte und hütete mich sorgsam! Meine Herrin war eine sehr schöne Tänzerin, fast so schön wie ich selbst – und mehr kann ich zum Preis ihrer Schönheit wirklich nicht sagen. Sie hatte so etwas unbeschreiblich Blendendes – ebenfalls wie ich, nur mit dem Unterschied, dass ich dem Mond sein Licht gebe, also eine Wohltäterin für die ganze Menschheit bin. Nun, es kann eben nicht jeder so etwas Besonderes sein! Also, sie war sehr schön und konnte ganz wunderbar und merkwürdig hüpfen, was die Menschen tanzen nennen. Ich wurde ihr als höchste Anerkennung überreicht, und der Geber erhielt ihre schöne Hand zum Lohn dafür. Besser konnte sie ihn für dieses kostbare Geschenk doch auch nicht belohnen! So wurde er also denn der Mann seiner Frau, und wir waren im Ganzen recht zufrieden mit ihm. Nur brauchte er ziemlich viel Geld, bis eines schönen Tages die schöne Tänzerin sagte: ›Ils sont passés ces jours de fête!‹ (Man spricht nämlich in gebildeten Kreisen immer Französisch, wenn man etwas ganz Besonderes, zuweilen auch, wenn man etwas recht Deutsches ausdrücken will!) Sie hatte sich unglücklicherweise den Fuß verstaucht und konnte für lange Zeit nicht mehr tanzen. Und weiter weiß ich nichts von ihr, denn damals zeigte sich wieder einmal der schwarze Undank der Menschen im schwärzesten Licht! Ich gebe es zu, ein verstauchter Fuß und ein Mann, welcher ziemlich viel Geld braucht, sind nicht angenehm für eine Tänzerin, aber mich, des Hauses Glanz, in einem Anfall von Wut fortzuschleudern, das war niedrig und echt menschlich! Übrigens habe ich ihr verziehen – ich hatte bereits von jeher sehr noble Gesinnungen. Von meinen weiteren Schicksalen lassen Sie mich schweigen. Sie sehen, dass ich sie würdig ertragen habe, denn noch immer kann ich wohl, ohne unbescheiden zu sein, von mir sagen, dass ich meinen bevorzugten Posten würdig ausfülle, den Posten, trotz allem und allem eine Wohltäterin der Menschheit zu sein und dem Mond sein Licht zu verleihen!«

Und die schöne, verkannte Glasscherbe der schönen Tänzerin schloss mit einem selbstgefälligen Rundblick! Sie wusste es , ihr romantisches Schicksal hatte nur noch einen Reiz mehr im Gefolge. Sie sonnte sich in der Wirkung dieses Eindrucks.

»Sehr romantisch, sehr brauchbar!«, wisperte gönnerhaft und zierlich eine abgelegte Journalistenfeder. »Ganz mein Fall, ganz mein Fach! Schade, ewig schade, dass man mich hier eingesperrt hält! Ich war zu gefürchtet, wissen Sie – alle Mixed Pickles der Welt sind nichts gegen mich – auch wusste ich über alles zu reden. Es war merkwürdig! Mehr als einmal hatte ich einen Prozess mit dem Tintenfass (meiner sonstigen, unzählbaren Prozesse gar nicht zu gedenken), welches immer versuchte, mir meinen wohlverdienten Ruhm streitig zu machen, ja sogar ihn sich selbst anzumaßen, wie das öfter so im Leben zu sein pflegt. Stellen Sie sich vor, dieses arrogante Tintenfass behauptete, es selbst allein schriebe all die pikanten und immer wahren Artikel und Artikelchen, mit denen ich brillierte – noch mehr – es wollte sogar der Autor aller meiner übrigen gedruckten und ungedruckten Werke sein, welche so viel Furore machten, denn ich hatte ein horrendes Glück – nun ja, ich leistete freilich auch Eminentes! Aus Neid, aus Bosheit sperrte man mich endlich hier ein. Meine Gegner und Widersacher aber, die mögen nun schön triumphieren – vor allem das höhnische Tintenfass, das an allem Unglück schuld ist und an meiner schmählichen Verbannung!«

Die Journalistenfeder machte einen kleinen Sprung vor Ingrimm und spreizte ordentlich ihren ehemals spitzen Mund, als wollte sie wie sonst mit ihrer stachligen Zunge Gift und Galle sprühen.

»Ja, wenn ich nur wenigstens einen einzigen Band meiner zahlreichen, gesammelten Theaterkritiken hier hätte, um mich zu zerstreuen! Ich las nämlich grundsätzlich stets nur meine eigenen Werke. Darin war auch alles enthalten! Was könnten denn andere wohl sagen, was ich nicht schon gesagt hätte! O, meine Theaterkritiken – sie waren so schön, so unergründlich! Auf Begründungen ließ ich mich prinzipiell niemals ein – das verstößt wider meine strenge Auffassung von Kunst. Ja, ich hatte sehr schöne und richtige Anschauungen davon! Man muss eben genial sein und recht viel Journalistentage halten mit vielen Resolutionen und Festreden – das ist immer die Hauptsache!«

Und die geniale Journalistenfeder schloss ihre feurige Rede, indem sie in düsteres Schweigen versank.

»Auch ich bin in Arkadien geboren!«, hauchte da gleichsam als Echo ein alter Pinsel, dessen Haare sich nach allen Richtungen sehr künstlerisch sträubten. »Auch ich! Was habe ich für Bilder gemalt! Ein Raphael ist ein wahrer Stümper dagegen! Es war das Höchste, was man leisten kann ! Das war Kunst – das allein! Mit Kleinigkeiten wie Gedanken, Stimmung und dergleichen habe ich mich aber auch niemals abgegeben – das tun nur die Pfuscher. Ich gehörte einem hübschen Gymnasiasten – das heißt, eigentlich war er natürlich nur meinetwegen auf der Welt – dem habe ich Herrliches geleistet! Nie wieder wird er solch einen Pinsel bekommen! Kostbare Vorhänge zu Theatern malte ich ihm, prachtvolle Burgen und noch schönere Bäume. Alles echt künstlerisch! Und diese Gewänder für die Ritter und Damen, diese Draperien! Es ließ sich wunderschön Komödie damit spielen! O, meine glorreiche Jugend!«

Und der alte Pinsel senkte wehmütig sein haarsträubend-künstlerisches Haupt, während einzelne Haare der einen Seite vor Trauer noch schiefer und höher sich sträubten.

Und so ging es weiter und weiter unter all dem alten Gerümpel, nur mit dem Unterschied, dass einer mit immer noch schwärzerem Undank war abgelohnt und abgesetzt worden als der andere, und das einer immer noch mehr seine eigenen, großen Verdienste hervorhob als der andere. Und wer es nicht sagte, der dachte es wenigstens , und das war auch nicht viel besser!

Nur einer sagte nichts, aber auch gar nichts – ein alter, unscheinbarer Sack, der von allen gänzlich unbeachtet in der dunkelsten Spalte des Bodenraumes lag. Er sprach nicht und wurde auch nicht angesprochen. »Vermutlich lebte er nur sich und seinen Erinnerungen«, wie die kleine Mausefalle spitzig bemerkte, als ein besonders heller Strahl des Mondes oder der Glasscherbe in die dunkle Ecke zu dem alten Sack fiel.

»Ein solcher Sack und Erinnerungen – welche Lächerlichkeit!«, rief maliziös die Glasscherbe, mit der Absicht gehört zu werden und womöglich zu verletzen. Da es ein Wort der gebräuchlichsten Nächstenliebe auszusprechen galt, so ließ sie sich sogar herab, auf eine Bemerkung der verachteten Mausefalle zu antworten.

»So ein Sklave, ein Nichtsnutz – so ein unscheinbares, hässliches, unbrauchbares Ding! Ich wette, er kann gar nicht einmal reden. Er geniert sich wohl auch in guter Gesellschaft!«

»Haben Sie immer hier gewohnt?«, fragte schüchtern ein krummer Rohrstock den alten Sack.

»O nein«, sprach dieser ernst und ohne den Spott der Glasscherbe zu beachten. »Ich habe auch meine Geschichte! Sie ist lehrreich, wenngleich kurz. Ich war niemals schön, niemals durch meine Schönheit gefeiert wie die Glasscherbe, niemals geachtet wegen meiner Brauchbarkeit wie viele unter euch oder gepflegt wegen sonstiger kostbarer Eigenschaften des Luxus oder der Bequemlichkeit. Ich war hässlich und unscheinbar von Jugend auf und erschien allen als völlig wertlos. Ich befand mich in einem Vorzimmer und müßige Diener reinigten ihre schmutzigen Stiefel an mir oder ließen ihren witzlosen Spott an mir aus. Das war die ganze Beachtung, welche mir zuteilwurde. Auf einmal aber wuchs ich riesengroß – und wodurch? Man füllte mich mit Gold. Ich wurde eines Tages vom Fußboden aufgenommen und hinein in die schönen Herrenzimmer gebracht. Man füllte mich mit Gold, ich war plötzlich eine förmliche Großmacht geworden. Ich wurde zärtlich bewacht, zärtlich angeblickt, zärtlich geliebkost. Große Herren waren nicht zu stolz, mit mir Zwiegespräche zu halten und um meine Gunst zu buhlen. Die Diener durften es gar nicht einmal wagen, auch nur ihre Blicke bis zu mir zu erheben. Die ganze Stadt kannte mich, liebte mich, drängte sich zu mir. So dachte ich damals wenigstens, denn der Hochmut erwachte in mir und ich vermeinte nun etwas Großes zu sein, durch eigenes Verdienst, durch mich selbst und wegen meiner. Und es war doch nur der Zufall, welcher mich begünstigt hatte, und das Gold, welches mich füllte! Aber das glaubte ich nicht in meiner Verblendung, ich wurde stolz, aufgeblasen und bildete mir ein, ich wäre etwas Rechtes und Ganzes! O weh – da – eines Tages, als das letzte Goldstück verschwunden war, versank ich wieder in mein früheres Nichts zurück. Wie ein Traum war alles zerronnen mit dem Gold wie Seifenblasenschaum. Alles – die Grafen und Prinzen, die Liebkosungen, das Ansehen, die Herrschaft – vorbei das alles – aller Glanz und alle Ehre. Da lernte ich das Leben erkennen und seine Nichtigkeit – den ganzen, eitlen Schaum von Menschenehre. Ich war wieder nichts mehr als der alte, unscheinbare Sack, an welchem man sich höchstens die Stiefel abputzte, bis irgendein Ungefähr mich in diese Dachkammer versetzte – wie lange schon, weiß ich selbst nicht.«

Der alte Sack schwieg, und alles ringsumher folgte unwillkürlich seinem Beispiel. Da tappte es die fünf Stiegen herauf, die Tür der Rumpelkammer wurde geöffnet und eine Blendlaterne leuchtete suchend umher.

»Jetzt komme ich wieder zu Ehren!«, sagte die Glasscherbe, welche bereits zu stolz war, den Unglücksgefährten ein Lebewohl zu gönnen.

»Da ist er!«, rief jubelnd eine frische Knabenstimme, »da wird sich aber der Papa freuen! Ich habe ihn, ich habe ihn!«

Mit diesem Jubelruf wurde der alte Sack seinem Dunkel entrissen.

Und die Glasscherbe?

Der Knabe sah sie blitzen, doch als er gewahrte, dass es nur eine Glasscherbe war, warf er sie verächtlich zur Bodenluke hinaus.

Der alte Sack aber wurde triumphierend seiner Niedrigkeit entführt. Ob zu neuem Glanz, ob zu neuem Hochmut und zu neuem Fall?

Wer kann es wissen!