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Nick Carter – Ein Kampf um Millionen – Kapitel 9

Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Ein Kampf um Millionen
Ein Detektivroman

Patsys Missgeschick

Ida hatte keine Schwierigkeiten gefunden, bei Mrs. Crombie vorgelassen zu werden und dieser den Brief des berühmten Vetters auszuhändigen. Die Dame war sehr beunruhigt, als sie aus dem Mund des jungen Mädchens hörte, wie sie auf Schritt und Tritt von einem Detektiv beschattet werde. Dankbar nahm sie Idas Anerbieten an, zu ihrer Gesellschaft und gleichzeitigem Schutz bei ihr bleiben zu wollen.

Am dritten Tag ihres Zusammenseins mit Mrs. Crombie knüpfte Ida Beziehungen mit dem im Hotel herumlungernden Detektiv an. »Ich glaube, Sie zu kennen«, sprach sie ihn an.

»Das glaube ich nicht«, antwortete dieser kurz. »Wenigstens kenne ich Sie nicht.«

»Well, Sie heißen Greene und sind Detektiv«, fuhr Ida lächelnd fort, sich heimlich an des anderen Verblüffung weidend. »Sie beschatten Mrs. Crombie – und ich stehe in Nick Carters Sold.«

»Sind Sie etwa die berühmte Ida?«, fragte der Mann voll gespannter Erwartung.

Ida lachte. »Nein, so hoch versteige ich mich nicht«, erklärte sie, »ich bin nur eine Angestellte, wie Sie auch. Doch ich meine, wir könnten uns das Geschäft gegenseitig leichter machen. Carter hat mich Mrs. Crombie beigegeben. Doch das ist schrecklich langweilig, denn die gute Lady tut nichts, spricht nichts … sie geht nicht einmal aus. Man wird nicht aus ihr klug.«

»Das weiß ich nur zu gut«, brummte Greene verdrießlich, »ich bin auf ihrer Fährte, seit sie den Dampfer verlassen hat. Nur einmal suchte sie Nick Carter auf, das ist alles!«

»Was will sie denn eigentlich hier … Wissen Sie das?«, erkundigte sich Ida harmlos.

»Selbstverständlich«, antwortete der Mann, »und Sie wissen es so gut wie ich. Sie sucht nach einer Tochter, die ihr hier vor achtzehn Jahren geraubt worden ist.«

»Natürlich«, sprach das Mädchen, fröhlich lachend, »das ist es, und Nick Carter hat nicht mehr Aussicht, das Kind zu finden, als den Mond vom Himmel herunterzuholen.«

»Aber er ist Tag und Nacht auf dem Posten«, sagte Greene misstrauisch.

Ida lächelte nur seltsam, antwortete aber nichts.

»Well«, knurrte der Mann, »warum stehen Sie da wie so ein Stockfisch?«

»Stellen Sie sich doch nicht so dumm«, meinte das Mädchen dann vertraulich. »Dass das Kind nicht gefunden werden kann, weiß Carter so gut wie wir beide … doch Mrs. Crombie ist reich, und auch Nick Carter nimmt das Geld von den Lebendigen, weil von den Toten nicht viel zu kriegen ist.«

»Gewiss, das machen wir auch!«, stimmte der Mann lachend bei. »Nun kann ich mir auch denken, warum Sie bei der Lady sein müssen …?«

Ida kicherte. »Wie klug Sie sind … Doch was habe ich davon«, setzte sie unmutig hinzu. »Die paar Dollar Bezahlung machen den Kohl nicht fett … Carter schnappt alles.«

»Well, ich würde Ihnen gern zu größerem Verdienst behilflich sein«, meinte Greene lauernd.

»Das können Sie«, wisperte Ida vertraulich. »Was brächte es ein, machte ich Berichte für Eure Agentur, was? … Ich kann Ihren Leuten alles sagen, was Nick Carter erfährt.«

Greene machte ein langes Gesicht. »Wenn da nicht Nick Carter dahintersteckt, eh?«, sagte er nach kurzem Nachdenken spöttisch.

»Natürlich«, spottete Ida. »Er stiftet mich an, mich mit Euch zu verbinden – so dumm!« Sie wippte geringschätzig mit den Schultern. »Nein, die Wahrheit ist, ich bin es müde, mich von Carter mit Bettelpfennigen abspeisen zu lassen. Man ist doch nicht seiner Gesundheit wegen beim Geschäft – oder ist man es? Well, ich will Geld machen. Verstehen Sie nun?«

»Hm, hm, weiß Mrs. Crombie, dass Sie in Carters Diensten stehen?«

»Nicht doch, sie glaubt, mich als Gesellschafterin angestellt zu haben.«

Greene dachte eine Weile nach. »Sehen Sie, Miss«, meinte er dann vertraulich. »Meinem Chef mag ich nichts sagen, denn ich habe keine Lust, um meine Stelle zu kommen … Und für die Lady aus England ist ein Detektiv gerade genug … Aber da ist der Mann, der uns beschäftigt … ein Advokat namens Hagar … dem muss ich alltäglich rapportieren. Ihm will ich Ihr Anerbieten melden. Er hat Geld genug, um Sie ohne Vorwissen meiner Agentur zu beschäftigen.«

Das war es, was Ida bezweckt hatte, wenn sie auch nicht geglaubt hatte, dass es ihr so mühelos gelingen würde, den für seine Stellung verzweifelt naiven Detektiv aufs Eis zu locken. »Das würde mir gerade passen!«, wisperte sie nun erfreut. »Bitte, so schnell wie möglich … Ginge es nicht vielleicht heute schon?«, fuhr sie überredend fort. »Heute hätte ich so gute Gelegenheit, unbemerkt fortzukommen. Mrs. Crombie hat ihre Migräne, liegt zu Bett und will alleingelassen sein.«

Greene ging richtig in die ihm gestellte Falle und brach sofort auf, um Rücksprache mit dem Anwalt zu halten. Schon eine Stunde später kehrte er zurück und setzte sich ungesäumt mit der vermeintlichen Bundesgenossin in Verbindung.

»Well«, berichtete er. »Mr. Hagar will Sie in seinem Büro an der Nassaustreet, unweit der Wallstreet, heute Nachmittag sprechen … Er ist ein alter, schlauer Hecht und wittert überall Fallen. Doch ich sagte ihm, Sie wären all right … Na, alles andere machen Sie selbst mit ihm ab. Er erwartet mich, ich soll ihm ausrichten, wann Sie kommen können.«

Ida meinte, dies würde ihr um zwei Uhr nachmittags am besten möglich sein, und der gefällige Detektiv begab sich ungesäumt zu dem Anwalt zurück, um diesen zu verständigen.

Er hatte kaum das Hotel verlassen, als Ida durch den Fernsprecher Patsy zu sich berief. Das Glück war ihr günstig; Patsy war zu Hause und konnte ihrer Aufforderung sogleich entsprechen. Sie verständigte ihn von ihrer mit Greene getroffenen Vereinbarung und ersuchte ihn, ihr am Nachmittag auf dem Gang zum Büro des Advokaten unmerklich zu folgen, was Patsy denn auch zusagte.

Um halb zwei Uhr nachmittags beurlaubte sich Ida unter schicklichem Vorwand von Mrs. Crombie und machte sich sofort auf den Weg zum Hagarschen Büro, in gebührender Entfernung von Patsy gefolgt, der wiederum zu seinem äußersten Vergnügen wahrnahm, wie auch Greene in kläglich durchsichtiger Verkleidung Ida beschattete.

Ohne Aufenthalt unterwegs erreichte Ida das Anwaltsbüro. Sie wurde sofort vorgelassen und teilte dem Advokaten mit, dass sie die Person sei, welche auf Greenes Veranlassung gekommen war.

Der vorsichtige Hagar eröffnete ihr jedoch, dass er unter keinen Umständen in seinem Büro mit ihr Rücksprache nehmen könnte. Sie sollte sich unverzüglich zu dem rotundenartig angelegten Korridor im Equitable Lebensversicherungsgebäude begeben. Dort wollte er sie binnen einer Viertelstunde treffen, und sie würden an solch öffentlichem Ort unschwer zu einer Verständigung gelangen, da dort ein Zusammentreffen unauffällig sei.

Ida tat, wie ihr geheißen, und während sie in der Rotunde, den Rechtskonsulenten erwartend, auf- und niederschritt, gewahrte sie mit heimlichem Lächeln, wie Patsy und der brave Greene sie umschlichen.

Bald darauf kam Hagar durch den Eingang an der Nassaustreet. Als er Ida in der Rotunde wahrnahm, begrüßte er sie, als ob er zufällig eine Bekannte getroffen habe. Gemächlich schritt er neben ihr dem Pinestreet-Eingang zu, und als sie in dessen Nähe gelangten, nahm Ida wahr, wie ein Mann durch die enge Pforte schlüpfte und geradewegs auf den Anwalt zueilen wollte. Doch Hagar wehrte so heftig und deutlich die Annäherung ab, dass Ida hätte blind sein müssen, um dies nicht zu gewahren. Wirklich hielt der Fremde auch mitten im Schritt erstaunt inne. Als er wahrnahm, dass der Anwalt im Gespräch mit einer Dame begriffen war, zog er flüchtig den Hut, murmelte eine verwirrte Entschuldigung und verließ das Gebäude wieder. Zu ihrer Verwunderung nahm Ida wahr, wie der verkleidete Patsy sich dem Fremden auf die Fersen heftete. Sie zerbrach sich heimlich den Kopf darüber, wer es eigentlich sein mochte.

Doch Hagar sprach bereits auf sie ein, und sie musste alle Geistesgegenwart zusammennehmen, um sich keine Blöße zu geben. Zunächst verlangte er zu wissen, wie sie dazu kam, einen Schritt zu unternehmen, der im direkten Gegensatz zu den Interessen ihres ständigen Auftraggebers Nick Carter stand.

»Well, ich weiß nicht, ob dem wirklich so ist«, entgegnete Ida mit überzeugender Naivität. »Mr. Carter hat mich nie in sein Vertrauen eingeweiht … Dazu bezahlt er mich kläglich. Ich kann keinen Verrat an ihm darin sehen, sage ich auch anderen, was ich ihm sagen soll, also was Mrs. Crombie treibt und unternimmt … Das ist so harmlos, dass es sich kaum der Mühe lohnt … Und schließlich handelt es sich für mich darum, Geld zu machen.«

Das schien dem Advokaten einzuleuchten. »Well, meine liebe Miss Holman«, äußerte er. »Tatsächlich besteht zwischen Mr. Carter und mir ein Zwiespalt – oder richtiger zwischen den von uns vertretenen Interessen. Wir suchen zwar in der gleichen Richtung, aber aus verschiedenen Beweggründen … Das muss ich vorausschicken … Wollen sie mir nun gleichwohl noch gegen Bezahlung die mir erforderlich erscheinenden Informationen liefern?«, fragte er erwartungsvoll.

»Das ändert nichts an meinem Vorsatz«, entgegnete die naive Ida. »Ich wiederhole, Mr. Carter zieht mich nicht in sein Vertrauen. Er bezahlt mich für gewisse Dienstleistungen. Im Übrigen bleibt es mir unbenommen, so zu handeln, wie es mir gefällt.«

»Ich muss aber als Bedingung stellen, dass unsere Vereinbarungen Mr. Carter gegenüber geheim gehalten werden«, betonte Hagar.

»Aber gewiss«, entgegnete Ida, als ob sich das von selbst verstünde.

»Well, wissen Sie, dass Mr. Carter im Sold von Mrs. Crombie steht?«

Ida war nicht umsonst die geborene Komödiantin. Mit meisterlich gespielter Verstellung riss sie verwundert die Augen auf. »Wie«, sagte sie erstaunt, »warum muss ich sie dann beschatten?«

»Das wird Mr. Carter schon wissen«, entgegnete der Anwalt lächelnd. »Er ist ein sehr kluger, fähiger Kopf, der die linke Hand nicht wissen lässt, was seine rechte tut. Wissen Sie, was Mr. Carter für Mrs. Crombie auszuführen übernommen hat?«

»Nein, wie sollte ich denn?«

»Er soll eine Tochter auffinden, welche der Lady vor achtzehn Jahren geraubt wurde.«

»Und das sollen Sie auch tun?«, fragte Ida mit köstlicher Naivität.

»Gewiss«, antwortete Hagar. »Ich habe dies zu verschweigen umso weniger Grund, als Mr. Carter ohnehin weiß, dass ich von der Gegenpartei mit den nämlichen Erhebungen beauftragt wurde.«

»Ja, kann denn diese geraubte Tochter wieder aufgefunden werden?«, fragte die naive Ida.

»Das weiß ich nicht«, wich der Anwalt achselzuckend aus. »Mein Auftrag für Sie besteht darin, herauszufinden, ob Mrs. Crombie in ihrer Suche erfolgreich ist oder nicht … Und zwar muss ich dies möglichst bald wissen. Ich stehe nicht an, zu erklären, dass meine Informationen das Vorhandensein dieser noch am Leben befindlichen Tochter bestätigen. Ich stehe tatsächlich mit jemandem in Verbindung, der erklärt, Marion zu kennen und um ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort zu wissen. Weiter kann ich noch nichts sagen, da ich mich erst davon überzeugen muss, ob die betreffende Person glaubwürdig und vertrauenswert ist.«

Ida vermochte nur stumm zu nicken, denn sie begriff, dass es ihr gelungen war, Informationen zu erlangen, welche für Nick Carter von denkbar größter Wichtigkeit sein mussten.

Doch der einmal gesprächig gewordene Advokat achtete nicht darauf, sondern fuhr fort: »Well, Miss Holman, wenn Sie mich tagtäglich auf dem Laufenden halten wollen, über all das, was Mrs. Crombie sagt, tut und unternimmt, so will ich Ihnen täglich fünf Dollar vergüten.«

Ida war klug genug, eine Miene aufzusetzen, als ob dies ihr eigentlich zu wenig sei; doch da Hagar bestimmt erklärte, nicht mehr anlegen zu wollen, so beschied sie sich schließlich. Nachdem sie pünktlich Bericht zu erstatten versprochen hatte, trennten sie sich.

Der Advokat eilte den Korridor hinunter, als ob er das Gebäude durch den Cedarstreet-Ausgang zu verlassen wünschte. Ida, die ihm folgte, sah jedoch, wie er dort einem nahe bei den Fahrstühlen stehenden Mann ein kaum merkliches Zeichen gab und dann den Korridor weiter zum Nassaustreet-Ausgang zueilte, gefolgt von dem anderen.

Rasch suchte nun das Mädchen einen Ort auf, wo sie sich der von ihr gewählten Verkleidung entledigen konnte; dann verließ sie das Equitable Lebensversicherungsgebäude durch den Ausgang an Pinestreet, innerlich wünschend, ein freundlicher Zufall möchte ihr Patsy in den Weg führen.

Richtig, als sie die Straße betrat, stand er fast unmittelbar vor ihr. Sie redete ihn nicht an, sondern zwinkerte ihm nur mit den Augen zu. Nahebei hielt ein Cab, das unbesetzt war. Schnell stieg Ida ein, in der Sekunde darauf war Patsy nachgesprungen, und nachdem der Cabby mit dem Ziel der Fahrt bekannt gemacht worden war, ging es in schlankem Trab voran.

»Sage, Ida«, flüsterte Patsy sogleich in großer Erregung, »bemerktest du den Mann, der Hagar anzureden versuchte, als du bei dem Advokaten standest?«

»Gewiss«, entgegnete das Mädchen. »Ich sah ihn scharf an … Er hat eine Narbe am linken Ohr.«

»Well, der Fremde war Renfrew«, meinte der Jüngling lakonisch.

»Nicht möglich … Er wird sich nicht so öffentlich hervorwagen.«

»Well, ich will den ganzen Winter barfuß laufen, war er es nicht! Ich folgte ihm auch, aber wie ein richtiger, dummer Neuling. Ida, ich schäme mich, es zu sagen. Der Kerl wurde meiner sofort gewahr, als wir in der Nassaustreet waren – Bumms! Da war er auch schon im Gebäude der Handelsbank und sauste in einem der Expresselevatoren, die ohne Aufenthalt bis zum 20. Stockwerk fahren, in die Höhe, gerade als ich zur Tür hereinkam. Ich in den nächsten Fahrstuhl hinein … Well, als wir oben am zehnten Stockwerk sind, fährt Renfrew gerade wieder im anderen Elevator hinunter und ruft ganz spöttisch: ›Glückliche Reise!‹«

Ida musste über seine Verzweiflung lächeln. »Ja, hier ist gerade der rechte Ort, um eine Fährte schnell verlieren zu können – nun, was mich anbetrifft, so habe ich einen kleinen Erfolg gehabt. Doch höre selbst.«

»Well«, brummte Patsy, der ihrem Bericht über die mit Hagar gehabte Unterredung aufmerksam gelauscht hatte, »die Geschichte wird immer verwickelter und dunkler!«

»Wieso das?«, fragte das Mädchen erstaunt, ihn fragend dabei anschauend.

»Ich meine für die Gegenpartei«, bemerkte Patsy trocken. »Für uns ist sie so klar wie nur irgendetwas. Der Kerl, von welchem Hagar sprach, der wissen soll, wo das Mädchen steckt, aber so eine Art unsicherer Kantonist sein soll, ist kein anderer als Renfrew … Er steht mit dem Winkeladvokaten in Verbindung, das wissen wir jetzt. Hagars Auftraggeber ist Albert Risley, London, ein ebenso schäbiger Kerl wie die beiden anderen dunklen Ehrenmänner. Albert Risley hat aber auch Briefe an Renfrew geschrieben … Ich denke, das genügt.«

Sie fuhren eben durch Canalstreet, und Patsy machte dem Cabby ein Zeichen, dass er aussteigen wollte. »Well, ich will den Meister aufsuchen und ihm Bericht erstatten … Er wird schon wissen, was er anzufangen hat«, meinte er, sich kurz vor Ida, welche zum Hotel zu Mrs. Crombie weiterfuhr, verabschiedend.