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Der Hexer 26

Robert Craven (Wolfgang Hohlbein)
Der Hexer, Band 18
Wer den Tod ruft

Horror, Grusel, Heftroman, Bastei, Bergisch-Gladbach, 10. Dezember 1985, 64 Seiten, 1,70 DM, Titelbild: Sebastia Boada

Die Puppe war klein; nicht größer als eine Faust, dazu so roh gefertigt, dass man kaum ihre menschlichen Umrisse erkennen konnte. Leib, Arme und Beine bestanden aus Sackleinen, das mit groben Stichen zusammengenäht war, der Kopf eine ungleichmäßige Kugel, auf die mit ungelenken Strichen die Züge eines menschlichen Gesichtes gemalt worden waren. Das einzig Auffällige war das Haar der Puppe: ein Bündel schwarzgefärbten Strohs, in das, beginnend vom Haaransatz über dem linken Auge, eine weiße, blitzförmig gezackte Strähne eingeflochten war …

Leseprobe

Die Welt des Hexers

Die SIEBEN SIEGEL DER MACHT – sie sind der Schlüssel zu den verschlossenen Toren, hinter denen uralte, dämonische Götter auf ihre Wiedergeburt warten.

Das Ringen um das erste der SIEGEL hat Robert Craven verloren. Er opferte es, um das Leben der Dagon-Jünger zu retten, nachdem ihr »Gott« von seinem sinkenden Schiff geflüchtet war. Doch ein geheimnisvolles, unsichtbares Wesen, das Robert in seinem Kampf um das SIEGEL unterstützte, macht ihm klar, welch schweren Fehler er damit beging: Mit dem ersten der SIEGEL ist es Necron, dem Herren der Drachenburg, möglich, auch die restlichen zu finden und die GROßEN ALTEN zu erwecken!

Der Unsichtbare gibt Robert eine zweite Chance, als er ihn durch ein Tor um zwei Jahre in die Vergangenheit schleudert – in die Nähe einer Insel, auf der das zweite SIEGEL verborgen liegt – Krakatau.

Dort trifft er Dagon wieder, der ebenfalls einen Zeitsprung unternommen hat; er weilt allerdings bereits seit acht Jahren auf der kleinen Insel. Und er hat neue Pläne; gefährliche Pläne: Er will die THUL SADUUN, jene aus der Tiefe, erwecken, die vor Urzeiten eine Diener-Rasse der GROßEN ALTEN waren. Dieselben Wesen, die Dagon einst verriet, und die ihn seitdem verfolgten! Doch der Fischgott hat gute Gründe für seinen plötzlichen Sinneswandel.

Für die Zeremonie benötigt er die Hilfe von magisch begabten Lavawürmern, die ihm eine niedere Dämonenrasse zur Verfügung stellt. Um sie zu nähren und für den Ritus zu stärken, opfert ihnen Dagon Eingeborene und Abenteurer, die auf der Insel leben. Um die Opfer zu fangen, hat er sich einen der Tempelherren, Tergard, zu Diensten gemacht, der vom Ordensmeister nach Krakatau strafversetzt wurde. Tergard hält den Fischmenschen für einen Gott, ahnt nicht, dass Dagon seine Magie nur aus einem Kleinod bezieht, das er bei sich trägt – das zweite SIEGEL!

Robert Craven steht angesichts einer solchen Übermacht auf verlorenem Posten; er wird gefangen genommen und an Dagon ausgeliefert. Doch bleibt er nicht lange in dessen Gewalt.

In der Zwischenzeit nämlich ist auch Shannon, an den Robert sein erstes SIEGEL verlor, auf Krakatau angelangt. Er scheint sich von seinem Herrn Necron losgesagt zu haben und befreit Robert, um mit ihm (und mit der Hilfe des alternden Abenteurers Eldekerk) zusammen das zweite SIEGEL zu finden – und zu zerstören.

Leider ist ihm Robert keine große Hilfe mehr; Tergard hat ihn während der Gefangenschaft all seiner magischen Kräfte beraubt …

 

*

 

Der Mann mit der Holzmaske betrachtete die Voodoo-Puppe lange und ausgiebig. Er war sehr groß; kein Riese, aber doch so hochgewachsen, dass er zwischen den kleinen, braungebrannten Gestalten der Eingeborenen auffiel. Seine Gestalt war ganz von einem buntbestickten, bis auf die Knöchel reichenden Zeremoniengewand verhüllt, das Gesicht verborgen hinter der hölzernen Maske, die die angedeuteten Züge einer Raubkatze trug. Selbst die Hände steckten in braunen, durch aufgenähte Pumakrallen zu stilisierten Pranken gewordenen Handschuhen.

Aber es waren nicht nur seine Kleidung und seine Größe, was ihn von den Majunde-Kriegern unterschied. Etwas umgab diesen Mann wie eine Mauer aus unsichtbarem Glas, isolierte ihn und machte ihn gleichzeitig zu ihrem Herren.

Der Mann war ein Magier, ein Mensch, der gelernt hatte, die verborgenen Kräfte der Schöpfung zu entdecken und zu nutzen. Und es waren finstere, durch und durch böse Kräfte, deren er sich bediente. Kräfte, die jetzt, obgleich er noch immer reglos wie eine hölzerne Statue stand, in die winzige grobe Puppe in seinen Händen flossen. Kräfte, die Tod und Vernichtung brachten.

Denn die sechs Majunde-Krieger und ihr Magier waren nur zu einem einzigen Zweck hierhergekommen, an diesen verbotenen Ort im Inneren des Kraters, einem Ort, der mit seinem roten Licht und der wabernden Hitze der Hölle näher war als der Erde.

Sie waren hier, den Tod zu beschwören.

Den Tod für einen Mann, dessen Haar die gleiche, weißgezackte Strähne trug wie die kleine Voodoo-Puppe …

 

*

 

Es war hell geworden, bis wir den kleinen Ort an der Südküste Krakataus erreicht hatten, und die letzten zehn Minuten waren mir vorgekommen wie ein verzweifelter Spießrutenlauf. Der Dschungel hatte uns Deckung gegeben, denn er wuchs wie eine behäbige grüne Armee bis dicht an den Ortsrand heran, und sein Unterholz überwucherte noch einen Teil der kleinen Gärten, die die verfallenen Häuser säumten, sodass wir diesen Teil des Weges relativ sicher hinter uns gebracht hatten.

Den Rest nicht mehr. Eldekerks Haus lag am entgegengesetzten Ende des Ortes, eine kleine, eingeschossige Hütte, die letzte in einer langen Reihe gleichartiger ärmlicher Behausungen, die das hintere Drittel der einzigen Straße säumten.

Shannon und ich waren wie die Diebe von Schatten zu Schatten gehuscht, und mehr als einmal hatten wir uns in eine offene Tür oder hinter einen Busch geduckt und mit angehaltenem Atem gewartet, bis die Straße vor uns wieder frei war. Meiner Schätzung nach waren nicht mehr als zwölf Stunden vergangen, seit wir aus Dagons unterirdischem Labyrinth entkommen waren, aber ich wusste, wie gefährlich die Männer waren, mit denen wir es zu tun hatten.

Tergard wäre kein Master des Templerordens gewesen, wenn er nicht in diesem Moment bereits gewusst hätte, dass ich entkommen war. Und wenn er nicht in diesem Moment bereits Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hätte, mich wieder einzufangen.

Wir waren an die fünfzehn Meilen von seinem dämonischen Gefangenenlager entfernt, und zudem lag das gewaltige Massiv des Krakatau zwischen ihm und dem kleinen Ort. Trotzdem war ich fast sicher, dass es auch hier genügend Augen und Ohren gab, die nur darauf warteten, dass ich mich zeigte.

Ich atmete erleichtert auf, als wir die Hütte endlich erreicht hatten und Shannon die Tür hinter mir ins Schloss drückte; nicht nur, weil ich meinen gequälten Körper endlich auf einen Stuhl fallen lassen und ihm ein wenig Ruhe gönnen konnte. Wir waren allein. Der Tag hatte noch nicht ganz Einzug in den winzigen Raum gehalten; die Schatten überwogen, und die vorgelegten Läden ließen nur schmale Streifen des Sonnenlichtes herein, aber es war zumindest hell genug, mich erkennen zu lassen, wie erbärmlich die Hütte war. Die Einrichtung bestand nur aus ein paar roh zusammengezimmerten Möbeln, der Boden war festgestampfter Lehm, und von der Decke baumelte eine Petroleumlampe an einem rußgeschwärzten Draht.

Irgendwie war ich enttäuscht. Shannon hatte mir von Jop Eldekerk erzählt, dem alt gewordenen Abenteurer, den es hierher nach Krakatau verschlagen hatte und der vielleicht unser einziger Verbündeter war. Aber ich hatte etwas anderes erwartet. Was, wusste ich selbst nicht.

»Ich denke, wir sind hier erst einmal in Sicherheit«, sagte Shannon, nachdem er durch den Raum gegangen war und sorgfältig alle Läden überprüft hatte. »Wenigstens für den Moment.« Er lächelte aufmunternd, ging zu einem kleinen Schrank an der Südseite und kam mit einem Zinnbecher und einer Flasche zurück, der ein schärfer Geruch entströmte, als er den Korken herauszog. Schweigend schenkte er den Becher voll und reichte ihn mir.

Ich trank, ohne erst lange zu überlegen, welche Art von Flüssigkeit die Flasche enthielt. Als ich aufgehört hatte zu husten, füllte Shannon den Becher erneut, aber diesmal nippte ich nur daran und sah fragend zu ihm auf. »Du nicht?«

Shannon verneinte. »Ich trinke niemals Alkohol«, sagte er. »Aber dir wird er guttun.« Plötzlich war wieder dieser Ausdruck von Sorge in seinem Blick. »Fühlst du dich besser?«, fragte er.

Impulsiv wollte ich nicken, beließ es aber dann bei einem Achselzucken und trank einen weiteren Schluck. Mittlerweile glaubte ich das Getränk als Rum zu identifizieren, wenngleich als einen Rum, der zu mindestens hundertzehn Prozent aus purem Alkohol bestand. Aber obgleich mir die Brühe schier die Kehle wegzuätzen schien, breitete sich eine Woge wohltuender Wärme in meinem Magen aus. Ich musste vorsichtig sein. In dem desolaten Zustand, in dem ich mich befand, würde mich ein zweites Glas dieses Teufelsgebräus glattweg umhauen. Beinahe hastig stellte ich den Becher auf den Tisch zurück.

»Wo ist dein Freund?«, fragte ich.

»Eldekerk?« Shannon deutete mit einer vagen Kopfbewegung nach Norden. »Oben in den Bergen – wenn ihn Tergards Leute nicht erwischt haben, heißt das. Wir treffen ihn später.« Er räumte die Flasche weg, kam zurück und ließ sich vor mir auf ein Knie herabsinken. »Zieh dein Hemd aus. Ich will dich untersuchen.«

»Später?« hakte ich nach, begann aber gehorsam mein Hemd aufzuknöpfen. Shannon war kein Arzt, aber ich hatte am eigenen Leibe erfahren, wie hilfreich und lindernd die Berührung seiner Hände sein konnte; und im Moment hätte ich wahrscheinlich auch die Hilfe einer tibetanischen Kräuterhexe angenommen, so miserabel, wie ich mich fühlte. »Was soll das heißen, später?«

»Wir bleiben nicht hier«, antwortete Shannon, während seine Hände bereits geschickt über meinen Leib huschten und hier und da verharrten. Es tat weh, aber ich biss tapfer die Zähne zusammen.

Shannon schüttelte den Kopf. »Du siehst schlimm aus«, sagte er. »Bist du geschlagen worden?«

Seine Worte weckten die Erinnerung an Roosfeld wieder in mir; mein Gesicht verdüsterte sich. Aber es war weniger die Erinnerung an die körperlichen Misshandlungen, als vielmehr die Erniedrigung, die mich aufstöhnen ließ, als Shannons Finger weiter über meine geprellten Rippen tasteten.

»Wer war es?«

»Ein Mann namens Roosfeld«, antwortete ich, und fügte, mit einem etwas verunglückten Lächeln, hinzu: »Er hat mir wohl den verrenkten Arm übel genommen.«

Shannon sah auf. »Ein ziemlich großer Mann mit einem Schlägergesicht und einer Narbe über dem Auge?«, fragte er.

Ich nickte überrascht. »Du kennst ihn?«

»Ich … bin ihm begegnet«, antwortete Shannon ausweichend. »In den nächsten Wochen wird er niemanden mehr so zurichten. Wenn er’s überlebt. Keine Sorge.«

Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was Shannon mit seinen Worten meinte. Und als es mir klar wurde, erschrak ich. Shannons Worte waren so kalt und gefühllos, als spräche er über einen Käfer, den er zertreten hatte. Einen Moment lang zweifelte ich beinahe daran, dass dies wirklich der Shannon war, den ich kennengelernt zu haben glaubte. Der junge Magier, der mir in Arkham und später noch einmal in Amsterdam das Leben gerettet hatte, war vielleicht mein Feind gewesen. Aber trotz allem ein Mensch voller Wärme und Freundlichkeit. Kein eiskalter Zyniker.

Aber dann verscheuchte ich den Gedanken. Es war lange her, seit wir das letzte Mal als Freunde miteinander geredet hatten. Und Shannon hatte nicht darüber gesprochen, aber ich ahnte, dass das, was Necron ihm angetan hatte, schlimmer sein musste als die paar Schläge, die ich von Roosfeld erhalten hatte. Es gibt für jeden Menschen eine Grenze, jenseits derer er einfach zerbricht. Vielleicht war Shannon ihr zu nahe gekommen.

»Halt jetzt still«, sagte er. »Es wird weh tun. Aber danach fühlst du dich besser.«

Er stand auf, legte die linke Hand auf mein Herz und spreizte die Finger der Rechten, um sie auf mein Gesicht zu legen. Ich kam nicht einmal mehr dazu, ihn zu fragen, was er vorhatte.

Er hatte recht – es tat weh, höllisch weh sogar, aber hinterher fühlte ich mich keineswegs besser.

Jedenfalls nicht sofort.

Ich wurde erst einmal ohnmächtig.