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Die verzauberte Geige

Asmodina Tear

Die verzauberte Geige

Der kühle Herbstwind zerwühlte ihr schulterlanges hellbraunes Haar, als Angela durch den Wald ging. Das früher üppige Grün der Bäume war merklich verblasst und das Erwachen der üblichen Herbstboten schien ihnen mehr zuzusetzen als noch in den Jahren zuvor. Das junge Mädchen fröstelte und zog das schneeweiße Samtkleid enger um ihre Beine, trotzdem blieb sie einige Sekunden lang stehen, um dem Gesang der Vögel zu lauschen. Dissonante, teilweise kratzende Noten drangen an ihr Ohr und dennoch lächelte sie. Vogelgesang war die einzige Form von Musik, welche Angela in ihrem jugendlichen Alter von sechzehn Jahren hören durfte.

Zuhause untersagten die Eltern ihr jegliche Möglichkeit dieses alltäglichen Genusses, bestraften hart, wenn man dagegen verstieß und ihre Tochter sogar vom Musikunterricht in der Schule befreien ließen, was Angela Hohn und Spott seitens ihrer Klassenkameraden einbrachte. Den Grund für dieses Verhalten kannte das junge Mädchen nicht, und wenn sie danach fragte, wurden die Streitereien noch schlimmer. Nur zufällig gehörte Gesprächsfetzen hinter verschlossenen Türen gaben ansatzweise Auskunft und demnach hielten ihre Eltern Musik für die schlimmste legale Droge der Menschheit, welche nicht nur schleichend süchtig machte, sondern in der Vergangenheit bereits einige Familienmitglieder in den Wahnsinn getrieben hatte.

Das junge Mädchen verdrehte die Augen, diese Theorie stammte aus dem 19. Jahrhundert, das wusste sie, denn infolge jener alarmierenden Aussage hatte Angela selbst zu recherchieren begonnen, hatte Familienchroniken und wissenschaftliche Bücher der Psychologie studiert und erfahren, dass die Meinungen ihrer Eltern einfach beschränkter Natur war. Es stimmte, dass ihre Vorfahren größtenteils dem Wahnsinn verfallen waren, ehe sie einen frühen und oftmals tragischen Tod starben. Doch gerade nach modernen Erkenntnissen war die Musik allenfalls der Tropfen gewesen, der das Fass am Ende zum Überlaufen gebracht hatte; jedoch niemals der wahre Grund. Trotz dieser guten und letztlich richtigen Argumentation blieben ihre Eltern unnachgiebig und hielten sie weiterhin von jeglicher Art von Musik fern.

Angela seufzte, wie gerne würde sie ungestört verschiedenen Klängen lauschen oder auch ein Instrument spielen; doch so wie es aussah, würde dieser Traum noch sehr lange unerfüllt blieben und dann würde es zu spät sein, etwas daraus zu machen. Tränen kullerten über die Wangen. Warum mussten die Gedanken erwachsenener Menschen zuweilen so engstirnig und vorurteilsbehaftet sein? Man sagte immer, als Erwachsener würden Kopf und Herz mehr verstehen, doch momentan hatte Angela eher einen gegenteiligen  Eindruck.

Plötzlich merkte sie, wie das Rauschen des Windes sich veränderte. Es war nicht länger jenes disharmonische, konstante Geräusch, sondern wurde nach und nach zu einer regelrechten Melodie. Angela hob den Kopf. Wie konnte das sein? Oder war es nur eine kurzzeitige Einbildung? Unsicher schaute das junge Mädchen sich um, doch auf den ersten Blick wirkte alles wie immer, außer … Ihre Augen musterten den Stamm eines alten Baumes. Er war uralt, innen bereits hohl und arbeitete seit mehreren Jahren an seinem eigenen Verfall. Aber ein helles Licht durchbrach die ansonsten dunkle Baumhöhle. Was mochte das sein?

Mit zitternden Knien ging das junge Mädchen zielstrebig darauf zu, während die Melodie liebkosend durch ihre Haare strich. Selbst den beißenden Duft von Ammoniak ignorierte sie. Angela holte tief Luft und griff zögernd danach, um im nächsten Moment wie vom Blitz getroffen zurückzuweichen. Jenes seltsame Licht war der helle einer Geige. Wie kam ein solches Instrument in den Wald und noch dazu in einen alten Baum? Ehrfürchtig nahm sie die Geige heraus und betrachtete sie. Das helle, säuberlich gebeizte Holz glänzte in der Sonne und hatte nicht einen Kratzer, während der Kopf aufwendig in Form der römischen Waldgöttin Diana geschnitzt war. Bei näherem Hinsehen erkannte das junge Mädchen die Umrisse eines Bogens und nahm ihn ebenfalls heraus. Es war ihr ein Rätsel, wie beides dorthin gelangen konnte, zumal die Geige von einer besonderen Aura umgeben war. Fast schien es wie ein geheimnisvoller Zauber.

Angela lächelte. Eigentlich war sie zu alt für solche Fantasien, doch ein Teil ihres Herzens wollte es glauben. Behutsam strichen ihre Finger über die vier Saiten. Eine fremde Geborgenheit stieg in ihr auf, obwohl sie zum ersten Mal ein Musikinstrument anfasste. Wie in Trance legte Angela die Geige auf ihrem Arm, nahm den Bogen in die andere Hand und begann zu spielen. Sie konnte sich nicht erinnern, diese Melodie jemals gehört zu haben. Und doch schien sie vertraut. Für den Bruchteil einer Sekunde schloss das junge Mädchen die Augen, überließ sich einzig allein dem lang entbehrten Genuss der Musik.

Auf einmal spürte Angela, dass sie nicht mehr allein war und öffnete leicht verwundert die Augen. Vor ihr stand ein androgynes Wesen mit schulterlangen, silberfarbenen Haaren und schokoladenbraunen Augen. Seine vollen Lippen lächelten sanft, was seine Gesichtszüge noch weicher wirken ließ. Ohne den Blick eine Minute von Angela zu nehmen, streckte er einladend die Hand aus, ohne sie zu berühren. Das junge Mädchen zuckte zusammen. Wer oder was war das und was wollte es von ihr? Beinahe hätte sie die Geige fallen lassen. Ihr melodisches Spiel nahm ein abprubtes Ende. Mit klopfenden Herzen stellte Angela das Instrument wieder an seinen Platz und lief ohne einen Blick zurück nach Hause.

Vielleicht hatten ihre Eltern doch recht und der Genuss von Musik machte wahnsinnig. Eine andere Erklärung für das, was sie heute gesehen hatte, gab es nicht. Tränen brannten in Angelas Augen. Von Kindesbeinen an hatte man sie auf Normalität gedrillt, damit sie möglichst unkompliziert durchs Leben gehen konnte. Nun sah es aus, als ob alles vergebens gewesen war. Ihre Seele hatte trotzdem den Weg durch die Tür gefunden und sich dem abnormalen Denken hingegeben. Ebenso schien ihr Herz den gleichen Pfad beschreiten zu wollen. Auch wenn das junge Mädchen sich gewaltsam sträubte, schlug es einige Takte schneller, wenn sie sich das Abbild jenes Wesens in Erinnerung rief. War es nun ein Mann oder eine Frau? Genau hatte Angela es nicht erkennen können, doch es war das faszinierendste Geschöpf, mit welchem sie jemals in ihrem Leben Kontakt hatte. Jene Menschen, die sie im Alltag traf oder auf Fotos sah, empfand das junge Mädchen zwar als hübsch und ansehnlich, hatte sich jedoch niemals zu ihnen hingezogen gefühlt. War es nur ein Produkt des beginnenden Wahnsinns oder echte Gefühle?

Das junge Mädchen wusste es nicht und schüttelte entschlossen den Kopf. Noch würde sie ihr heutiges Erlebnis vor den Eltern geheim halten und kein Wort darüber verlieren. Sie würden sich nur unnötige Sorgen machen und übertriebene Panik machen. Vorerst wollte Angela selbst auf weitere Anzeichen einer psychischen Krankheit achten und bei Bedarf entsprechende Maßnahmen treffen. Sie seufzte erleichtert und lächelte, während sie den Schmerz in ihrem Inneren gekonnt ignorierte, was dieser sich jedoch nicht komplett gefallen ließ.

Trotz der guten Lösung saß Angela beim gemeinsamen Abendessen teilnahmslos auf ihrem Stuhl und bekam kaum einen Bissen herunter.

»Was hast du, Kind?«, erkundigte sich die Mutter besorgt und strich ihr liebevoll über die Wange.

Verkniffen presste Angela die Lippen zusammen und murmelte. »Nichts«, was ihren Vater beunruhigt aufspringen ließ.

»Hast du etwas angestellt oder Musik gehört?«, fragte er mit drohender Stimme und fixierte seine Tochter mit einem durchdringenden Blick, als wolle er sie gleich schlagen.

Verängstigt schüttelte sie den Kopf und unterdrückte die Tränen, während die Mutter versuchte, ihren  Ehemann mit guten Worten zu bremsen, was jedoch erfolglos blieb. Im Gegenteil, innerhalb weniger Minuten mündete der Streit in jene immer wiederkehrende Debatte über die Schädlichkeit der Musik. Das junge Mädchen schluchzte kaum hörbar, stand auf und ging  in ihr Zimmer. Sie spürte einen vibrierenden Schmerz in ihrer Brust und machte sich im Stillen bereits Vorwürfe ob ihrer falschen Reaktion im Wald. Jene Kreatur hatte nicht versucht, sie zu bedrohen, sondern freundlich gelächelt, und im Gegenzug war sie weggelaufen, sie hatte nicht einmal versucht, mit dem Wesen zu sprechen.

Mit tränenfeuchten Augen setzte Angela sich auf ihr Bett. Sie beging einen Fehler und verhielt sich genauso, wie ihre Eltern es vorgelebt hatten. Gedankenverloren öffnete sie das Fenster, um frische Luft einzulassen. Die nächtliche Kühle trocknete zwar ihre Tränen, beruhigte jedoch nicht das Herz. Würde sie ihn jemals wiedersehen? Angela bezweifelte es und blickte melancholisch in den Sternenhimmel, fuhr zusammen, als die Sterne plötzlich wie von selbst ein skuriles Abbild formten, dessen Lichtkegel mitten in ihr Zimmer fiel. Schnell wandte Angela sich um und stieß einen unterdrückten Freudenschrei aus. Auf ihrem Bett lag die Geige; jene Geige, welche sie mutlos im Wald zurückgelassen hatte. Dieses Mal zögerte das junge Mädchen nicht und nahm das Instrument sofort in die Hand. Erneut stieg jene zärtliche Geborgenheit in ihr auf und ließ ihre Finger leicht erzittern. Angela ergriff den Bogen und spielte eine Melodie aus Sehnsucht, Trauer, Verlust des eigenen Selbst und bewahrte dennoch stets jenen vagen Hoffnungsschimmer.

Erst nach einigen Minuten spürte sie, wie die vertraute Welt. Um sie herum verschwand diese und machte stattdessen einem wunderschönen Märchenwald Platz, der gänzlich unberührt von Menschenhand schien. Das Grün der Bäume wirkte frischer, die Erde unglaublich sauber. Nach und nach versammelten sich kleine Waldtiere, um dem Spiel zu lauschen. Angela lächelte verlegen, zwang sich aber, sich nicht irritieren zu lassen. Erst ein herzlicher Applaus brachte das junge Mädchen in die Wirklichkeit zurück. Sie sah jenes Wesen nicht weit entfernt von sich auf einem Stein sitzen. Seine Augen hatten nichts von ihrer Güte verloren, dennoch schaute sie peinlich berührt zu Boden, als es auf sie zukam und ihr freundlich die Hand reichte.

»Ich bin Shirokin«, stellte er sich mit einer leichten Verbeugung vor. »Willkommen in meinem Reich.«

»Angela«, erwiderte das junge Mädchen schüchtern, während der eindeutig männliche, wohltuende Klang seiner Stimme ihr einen Schauer über den Rücken jagte. »Was meinst du mit in meinem Reich?

Im nächsten Augenblick hätte sie sich für ihre eigene Neugier ohrfeigen können. Doch ihr Gegenüber lachte nur.

»Ich bin der Prinz jenes Elfenreiches, in dem du dich gerade befindest«, erwiderte er und legte wie selbstverständlich den Arm um ihre Schultern. »Alle Bewohner dieses Reiches freuen sich über dein Erscheinen.«

Tatsächlich erkannte Angela, wie sich zwischen den Waldtieren immer mehr sonderbare Kreaturen gesellten. Einige waren klein und niedlich, während andere ihr direkt ins Gesicht schauen konnten und die Hände auf ihre Schultern legten.

»Ich wäre gern dein Freund«, sagte der Elfenprinz, als habe er ihre Gedanken gelesen. Sein Blick ging tiefer als jemals zuvor.

Angela zögerte. Was mochte die Freundschaft zu ihm mit sich bringen? Was hatte diese Geige zu bedeuten? Konnte sie in die Menschenwelt zurückkehren und wenn ja, wollte sie das überhaupt? Erschrocken stellte das junge Mädchen fest, dass die emotionale Distanz, welche sie in den letzten Jahren empfunden hatte, mit jeder Sekunde größer und größer wurde. Unsicher reichte sie Shirokin  die Hand und ließ sich in eine liebevolle Umarmung sinken, während die Kreaturen um sie herum regelrechte Freudentänze aufführten.

»Komm, ich zeige dir alles«, sagte er. Und Angela nickte zustimmend.

Gemeinsam spazierten sie durch den Wald, der so grün und ursprünglich schien. Es gab wenige kranke Bäume oder auch verletzte Tiere, alles schien miteinander im Einklang zu sein. Keiner bedrohte die Zukunft des anderen.

»Wie im Paradies«, hauchte sie.

»Nein«, erwiderte Shirokin leicht verbittert. Ihre Blicke trafen sich. »Es ist die Art, wie wir mit der Natur und der Erde umgehen. Wir leben mit ihr in einem respektvollen Miteinander und danken für ihre Gaben, was ihr Menschen längst verlernt habt«. Der Elfenprinz hielt die Geige in der Hand. »Ich habe dieses Instrument als ein Tor zwischen den Welten erschaffen und verzweifelt gehofft, dass es einen besonderen  Menschen zu uns bringen würde. Jemand, der uns versteht«. Ein Lächeln erhellte seine Gesichtszüge und er blieb stehen. »Ich bin sehr glücklich, dass du es bist.«

»Was meinst du damit?«, fragte Angela und versuchte, ihren rasenden Herzschlag zu ignorieren.

»Du musst dich nicht sofort entscheiden«, sprach Shirokin. »Aber es wäre ein Segen für das Land und ein großes Glück für mich, wenn du bleiben würdest.«

Ehe das junge Mädchen reagieren konnte, berührte der Elfenprinz mit seinen Lippen ganz sachte die ihren.

Als die Nacht sich auf das Land herniedersenkte, führte Shirokin sie zu einem Bett, welches aus nichts anderem als samtweichen, mannsgroßen Blättern und lieblicher Erde bestand, welche sich auf seinen Wink hin wie ein Kokon über sie legte. Zu Angelas Verblüffung konnte sie problemlos atmen und fühlte in seinen Armen außerdem eine Wärme, die das junge Mädchen zuvor nicht gekannt hatte. Die Menschenwelt war unglaublich kalt und gefühllos, das wurde Angela in jenen Minuten überdeutlich klar. Bevor sie die Augen schloss, fiel ihre Entscheidung.

Sie würde im Elfenreich bleiben, hier gab es Musik, Natur und die lang vermisste Liebe. Vielleicht würde sie die Eltern vermissen, doch Shirokin  gab ihr Sicherheit, währenddessen die Menschenwelt langsam in Stücke zerbrach.

 

Ende