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Varney, der Vampir – Kapitel 10

Thomas Preskett Prest
Varney, der Vampir
oder: Das Blutfest

Ursprünglich als penny dreadful von 1845 bis 1847 veröffentlicht, als es zum ersten Mal in Buchform erschien, ist Varney, der Vampir ein Vorläufer von Vampirgeschichten wie Dracula, die es stark beeinflusst hat.

Kapitel 10

Die Rückkehr aus der Gruft. Der Schrei und die Suche in der Halle

Es begab sich, dass George und Henry Bannerworth zusammen mit Mr. Marchdale gerade das Tor erreicht hatten, das in den Garten des Anwesens führte, als sie plötzlich durch den Schuss aus einer Pistole aufgeschreckt wurden. In der Stille der Nacht traf es sie so unerwartet, dass sie unwillkürlich inne hielten und jeder einen besorgten Ausruf von sich gab.

»Gütiger Himmel!«, stieß George hervor, »kann das Flora sein, die auf einen Eindringling schießt?«

»Es kann nicht anders sein«, rief Henry, »sie ist im Besitz der einzigen Waffen im Haus.«

Mr. Marchdale wurde sehr blass und zitterte leicht, aber er sprach nicht.

»Vorwärts, vorwärts«, rief Henry, »um Gottes willen, lasst uns weitergehen«.

Während er sprach, ließ er das Tor hinter sich und ging in schnellem Tempo auf das Haus zu, wobei er rücksichtslos über Beete, Anpflanzungen und Blumen hinwegschritt, um auf direktem Weg zum Haus zu gelangen.

Bevor jedoch ein Mensch nur die Hälfte der Strecke zurücklegen konnte, hörte er den zweiten Schuss und glaubte sogar, die Kugel in ziemlicher Nähe an seinem Kopf vorbeifliegen zu hören. Diese Vermutung gab ihm einen Hinweis auf die Richtung, aus der die Schüsse kamen. Er wusste sonst nicht, aus welchem Fenster sie abgefeuert worden waren, denn es war ihm nicht in den Sinn gekommen, sich vor seinem Weggehen zu informieren, in welchem Zimmer Flora und seine Mutter auf seine Rückkehr warten würden.

Er hatte recht, was die Kugel anging. Es war dieser Todesbote, der in so gefährlicher Nähe an seinem Kopf vorbeigeflogen war. Deshalb ging er mit ziemlicher Genauigkeit auf das offene Fenster zu, von dem aus die Schüsse abgefeuert worden waren.

Die Nacht war nicht mehr so dunkel wie zuvor, obwohl sie noch weit davon entfernt war, heller zu werden. Er näherte sich diesem Raum und betrat ihn. Zu seinem Erstaunen waren die ersten Personen, die er erblickte, Flora und ein Fremder, der sie gerade in seinen Armen hielt. Es dauerte nur einen Augenblick, ihn an der Kehle zu packen, aber der Fremde rief laut mit einer Stimme, die Henry vertraut klang.

»Großer Gott, seid ihr alle verrückt?«

Henry lockerte seinen Griff und sah ihm ins Gesicht.

»Gütiger Himmel, Sie sind Mr. Holland!«, sagte er.

»Ja. Haben Sie mich nicht erkannt?«

Henry war verblüfft. Er taumelte zu einem Stuhl und sah dabei seine Mutter, die scheinbar leblos auf dem Boden lag. Es dauerte einen Augenblick, sie aufzurichten. Dann erschienen Marchdale und George, die ihm gefolgt waren, so schnell sie konnten, am offenen Fenster.

Eine so dramatische Szene, wie sie sich nun in dem kleinen Zimmer abspielte, hatte es in Bannerworth Hall noch nie gegeben. Da war der junge Mr. Holland, von dem schon die Rede war, der Verlobte von Flora, der sie stützte, als sie in Ohnmacht fiel. Henry leistete seiner Mutter den gleichen Dienst, und auf dem Boden lagen die beiden Pistolen und eine der Kerzen, die in dem Durcheinander umgestoßen worden waren, während die erschrockenen Gesichter von George und Mr. Marchdale am Fenster das seltsam anmutende Bild vervollständigten.

»Was ist hier los … oh! Was ist geschehen?«, fragte George.

»Ich weiß es nicht … ich weiß es nicht«, sagte Henry. »Jemand soll die Dienerschaft rufen, ich werde gleich verrückt.«

Mr. Marchdale läutete sofort die Glocke, denn George sah so schwach und krank aus, dass er dazu nicht in der Lage war. Er läutete die Glocke so laut und effektiv, dass die zwei Diener, die plötzlich mit den anderen weggegangen waren, mit großer Eile kamen, um zu erfahren, was los wäre.

»Seht nach Eurer Herrin«, sagte Henry. »Sie ist tot oder ohnmächtig geworden. Um Gottes willen, wer kann mir sagen, was diese ganze Verwirrung hier verursacht hat?«

»Ist Ihnen bewusst, Henry«, sagte Marchdale, »dass sich ein Fremder in diesem Raum befindet?«

Er deutete dabei auf Mr. Holland, der, bevor Henry etwas erwidern konnte, sprach: »Sir, ich mag für Sie ein Fremder sein, so wie Sie es für mich sind, aber ich bin kein Fremder für diejenigen, deren Zuhause dies ist.«

»Nein, nein«, sagte Henry, »Sie sind uns nicht fremd, Mr. Holland, sondern herzlich willkommen – keiner kann so willkommen sein. Mr. Marchdale, das ist Mr. Holland, von dem ich Ihnen schon erzählt habe.«

»Ich bin sehr erfreut, Sie kennen zu lernen, Sir«, sagte Mr. Marchdale.

»Sir, ich danke Ihnen«, erwiderte Holland kalt.

Auf den ersten Blick hatte es den Anschein, als ob diese beiden Personen eine Art von Feindschaft gegeneinander hegten, die zu verhindern drohte, dass sie jemals enge Freunde wurden.

Die Bitte Henrys an die Dienerschaft, ihm mitzuteilen, was vorgefallen sei, wurde von ihnen abschlägig beantwortet. Alles, was sie wussten, war, dass sie zwei Schüsse gehört hatten und seither in großer Angst an ihrem Platz geblieben waren, bis die Glocke heftig geläutet wurde. Das war nichts Neues, und deshalb bestand die einzige Chance darin, geduldig auf die Genesung der Mutter oder von Flora zu warten, von denen man sicherlich einige Informationen erhalten konnte.

Mrs. Bannerworth wurde in ihr eigenes Zimmer gebracht. Ebenso wäre es Flora ergangen, aber Mr. Holland, der sie in seinen Armen hielt, sagte: »Ich glaube, die frische Luft durch das offene Fenster wird ihr gut tun. Oh, nehmt sie mir jetzt nicht weg, nach so langer Abwesenheit. Flora, Flora, wach auf, erkennst du mich nicht? Du hast mir noch keinen einzigen verständnisvollen Blick zugeworfen. Flora, liebe Flora!«

Der Klang seiner Stimme schien wie der stärkste Zauber zu wirken, um sie wieder zu Bewusstsein zu bringen. Er durchbrach die todesähnliche Trance, in der sie lag. Sie öffnete ihre schönen Augen und richtete sie auf sein Gesicht, um zu sagen: »Ja, Herr, es ist Charles … es ist Charles.«

Sie brach in eine hysterische Tränenflut aus und klammerte sich an ihn wie ein verängstigtes Kind an seinen einzigen Freund auf der ganzen Welt.

»Oh, meine lieben Freunde«, rief Charles Holland, »täuscht mich nicht. Ist Flora krank gewesen?«

»Wir waren alle krank«, sagte George.

»Alle krank?«

»Ja, und fast verrückt«, rief Henry aus.

Holland schaute erstaunt von einem zum anderen, und diese Überraschung wurde nicht geringer, als Flora sich aus seiner Umarmung zu befreien versuchte und ausrief: «Du musst mich verlassen – du musst mich verlassen, Charles, für immer! Oh, sieh mir nie, nie wieder ins Gesicht!«

»Ich … ich bin verwirrt«, sagte Charles.

»Verlass mich. Jetzt!«, fuhr Flora fort, »halte mich für unwürdig, denke, was du willst, Charles, aber ich kann nicht, ich wage es nicht, jetzt dein zu sein.«

»Ist das ein Traum?«

»Oh, wenn es nur so wäre. Charles, wenn wir uns nie begegnet wären, wärst du glücklicher … ich könnte nicht unglücklicher sein.«

»Flora, Flora, willst du mit diesen so grausamen Worten meine Liebe auf die Probe stellen?«

»Nein, so wahr der Himmel mein Richter ist, ich weiß es nicht.«

»Um Himmels willen, was bedeuten sie dann?«

Flora erschauderte, und Henry trat zu ihr und nahm zärtlich ihre Hand in die seine, während er sagte: »Ist es wieder soweit?«

»Ja.«

»Du hast es erschossen?«

»Ich habe voll auf es geschossen, Henry, aber es ist geflohen.«

»Es ist geflogen?«

»Ja, Henry, aber es wird wieder kommen … es wird sicher wieder kommen.«

»Sie … Sie haben es mit der Kugel getroffen?«, warf Mr. Marchdale ein. »Vielleicht haben Sie es getötet?«

»Ich glaube, ich habe es getroffen, es sei denn, ich bin verrückt.«

Charles Holland schaute von einem zum anderen mit einem so überraschten Blick, dass George dies bemerkte und sofort zu ihm sagte: »Mr. Holland, Sie haben eine vollständige Erklärung verdient, und die sollen Sie auch bekommen.«

»Sie scheinen der einzige vernünftige Mensch hier zu sein«, sagte Charles. «Bitte, was ist es, das jeder ‘es’ nennt?«

»Still … still!«, stammelte Henry, »Sie werden es bald erfahren, aber jetzt noch nicht.«

»Höre auf mich, Charles«, sagte Flora. »Von diesem Augenblick an entbinde ich dich von jedem Gelübde, von jedem Versprechen, das du mir in Bezug auf Treue und Liebe gegeben hast, und wenn du klug bist, Charles, und dich beraten lässt, wirst du von diesem Augenblick an dieses Haus verlassen und nie wieder zurückkehren.«

»Nein«, sagte Charles, »nein, beim Himmel, ich liebe dich, Flora! Ich bin gekommen, um dir noch einmal alles zu sagen, was ich dir in einer anderen Zeit mit Freude gesagt habe. Wenn ich dir folge, egal welche Not dich bedrücken mag, möge Gott mir folgen und meine eigene rechte Hand mir einen ehrlichen Dienst erweisen.«

»Oh! nicht weiter … nicht weiter!’, schluchzte Flora.

»Doch, viel mehr, wenn du mir Worte gibst, die stärker sind als andere, um meine Liebe, meinen Glauben und meine Beständigkeit zu beschreiben.«

»Seien Sie nachsichtig«, sagte Henry. »Sagen Sie nichts mehr.«

»Nein, über ein solches Thema könnte ich ewig sprechen. Du magst mich verstoßen, Flora, aber bis du mir sagst, dass du einen anderen liebst, gehöre ich dir bis in den Tod, und dann, mit der Hoffnung im Herzen, dass wir uns wiedersehen werden, um uns niemals zu trennen, Liebste.«

Flora schluchzte bitterlich.

»Oh!«, sagte sie, «das ist der furchtbarste Schlag von allen … das ist schlimmer als alles andere.«

»Furchtbar?«, wiederholte Holland.

»Hören Sie nicht auf sie«, sagte Henry, »sie meint nicht Sie.«

»Oh, nein … nein!«, rief sie. »Lebe wohl, Charles – lieber Charles.«

»Oh, sprich dieses Wort noch einmal aus!«, stieß er angeregt aus. »Es ist das erste Mal, dass ich solche Worte höre.«

»Es muss das letzte Mal sein.«

»Nein, nein … oh, nein.«

»Um deinetwillen werde ich dir jetzt zeigen können, Charles, dass ich dich wirklich geliebt habe.«

»Nicht, indem du mich von dir stößt?«

»Doch, genauso. Das wird der Weg sein, dir zu zeigen, dass ich dich liebe.«

Sie hob wild die Hände und fügte mit aufgeregter Stimme hinzu: «Der Fluch des Schicksals liegt auf mir! Ich bin auserwählt als eine Verlorene und Verfluchte. Oh, Grauen … Grauen! Wäre ich doch tot!«

Charles Er wurde sehr blass, als er mit schwacher Stimme sagte: «Ist … ist sie verrückt oder bin ich es?«

»Teile ihm mit, dass ich verrückt bin, Henry«, rief Flora. «Nein, oh, mach seine einsamen Gedanken nicht noch schrecklicher. Teilt ihm mit, dass ich verrückt bin.«

»Komm mit mir«, flüsterte Henry zu Holland. »Ich bitte Sie, sofort mit mir zu kommen, und Sie werden alles erfahren.«

»Ich … will.«

»George, bleib eine Zeit lang bei Flora. Kommen Sie, kommen Sie, Mr. Holland, das sollten Sie, und Sie werden alles erfahren, dann können Sie sich selbst ein Urteil bilden. Hier entlang, Sir. Sie können nicht in den wildesten Verrücktheiten Ihrer Fantasie erraten, dass ich Ihnen jetzt etwas zu sagen habe.«

Niemals war ein Sterblicher so verwirrt von den Ereignissen der letzten Stunde seines Daseins wie Charles Holland, und er konnte es wirklich sein. Er war in England angekommen und hatte sich so schnell wie möglich zum Haus einer Familie begeben, die er wegen ihrer Intelligenz und ihrer hohen Kultur bewunderte und in deren einem Mitglied sich seine ganzen Gedanken über das häusliche Glück in dieser Welt konzentrierten. Er fand nichts als Verwirrung, Zusammenhanglosigkeit, Geheimnisse und die wildeste Bestürzung.

Er mochte zweifeln, ob er schlief oder wachte – er mochte sich fragen, ob er oder sie verrückt waren.

Und nun, als er nach einem langen, verweilenden Blick der Zuneigung auf die blasse, leidende Gestalt von Flora Henry aus dem Zimmer folgte, waren seine Gedanken damit beschäftigt, sich tausend vage und wilde Vorstellungen von der Mitteilung zu machen, die ihm in Aussicht gestellt wurde.

Aber, wie Henry wahrhaftig zu ihm gesagt hatte, konnte er sich nicht einmal in der wildesten Laune seiner Fantasie etwas vorstellen, das auch nur annähernd so schrecklich fremdartig und entsetzlich war wie das, was er ihm mitzuteilen hatte. Und so fand er sich mit Henry in einem kleinen Privatzimmer wieder, das von dem häuslichen Bereich des Saales entfernt war, und zwar in einem ebenso konsternierten Zustand, wie er es von Anfang an gewesen war.