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Die Sternkammer – Band 4 – Kapitel 7

William Harrison Ainsworth
Die Sternkammer – Band 4
Ein historischer Roman
Christian Ernst Kollmann Verlag, Leipzig, 1854

Siebentes Kapitel

Der steinerne Sarg

Ein schrecklicher Kerker! Der letzte und tiefste von der Reihe der unterirdischen Zellen, die wir bereits als unter der Oberfläche des Flusses Fleet gebaut beschrieben haben – kurz, ein Überbleibsel des alten Gefängnisses, welches der Wut Wat Tylers und seiner Anhänger entgangen war, als sie die übrigen Teile des Gebäu­des zerstörten. Nicht unpassend wurde dieser Kerker der steinerne Sarg genannt. Die, welche dort eingesperrt wurden, blieben selten lange am Leben.

Eine Totenkälte ergriff Sir Jocelyn, als er vor der Tür dieses entsetzlichen Ortes anhielt. Der Gefangenenwärter Grimbald ging, eine Lampe in der einen und ein großes Schlüsselbund in der anderen Hand, vor ihm her. Dicht hinter ihm folgten der Aufseher und Sir Giles Mompesson. Der junge Ritter gelangte durch ei­nen Korridor, wo sich zu beiden Seiten Zellen befanden und stieg dann einige Stufen hinunter, wo der traurige Ort sich befand. Hier stand er bis an die Knöchel in Schmutz und Wasser, während Grimbald die gewichtige Tür aufschloss und ihm mit einem Grinsen das Innere der Höhle zeigte.

Man konnte sich nichts Widerwärtigeres und Scheuß­licheres vorstellen als diesen Kerker. Triefende steinerne Wände, ein Rollbett mit einer modernden Strohmatratze, ein schlüpfriger Fußboden mit einem tiefen Wasserpfuhl am äußersten Ende – dies waren die Einzelheiten des schrecklichen Bildes, welches sich seinem Blick darstellte. Kein Wunder, wenn Sir Jocelyn zurückwich und sich weigerte , in die Zelle einzutreten.

»Eure Wohnung scheint Euch nicht zu gefallen, würdiger Herr«, sagte Grimbald, noch immer grinsend, als er die Lampe emporhielt. »Aber Ihr werdet Euch bald an den Ort gewöhnen, und an Gesellschaft wird es Euch auch nicht fehlen – an Ratten, meine ich – sie kommen scharenweise vom Fleet her. Seht nur! Da laufen einige Dutzend davon und schwimmen zu ih­ren Löchern. Aber sie werden mit ihren Kameraden zurückkehren, wenn Ihr allein und ohne Licht seid. Un­gleich dem anderen Gewürm sind die Ratten des Fleet außerordentlich gesellig – ho, ho!«

Über seinen eigenen Scherz lachend, wandte sich Grimbald zu Sir Giles Mompesson, der mit Joachim Tunstall oben auf den Stufen stand, als wollte er sich nicht in die feuchte Region hinunterwagen, und sagte: »Dem würdigen Herrn scheint sein Quartier nicht zu gefallen, Sir Giles, aber wir können ihm kein besseres geben – und wenn auch die Zelle ein wenig bequemer sein könnte, wenn sie trockener wäre, und vielleicht auch gesünder, so ist sie doch ungewöhnlich ruhig und doppelt so groß als irgendeine andere im Fleet­gefängnis. Ich konnte nie begreifen, warum sie der steinerne Sarg genannt wird, aber es ist so. Einige Gefangene haben gemeint, sie würden schon von einer einzigen Nacht, die sie darin zugebracht hatten, den Tod nehmen – aber das ist eine durchaus irrtümliche Ansicht.«

»Ihr habt einen Beweis vom Gegenteil an Sir Ferdinando Mounchensey, Vater des gegenwärtigen Gefangenen«, sagte Sir Giles in höhnischem Ton. »Er bewohnte diese Zelle länger als sechs Monate. Nicht wahr, guter Grimbald? Ihr hattet die Aufsicht über ihn und müsst es also wissen.«

»Gerade hundertsechzig Tage von seiner An­kunft bis zu der Stunde seines Todes war Sir Ferdi­nando ein Bewohner des steinernen Sarges«, sagte der Gefangenenwärter langsam und bedächtig, »und er schien sich einer so guten Gesundheit zu erfreuen, wie sich nur erwarten ließ, wenigstens zuerst. Ich denke, die Zelle war in seinen Tagen nicht so feucht, aber es konnte kein großer Unterschied sein. Wenigstens beklagte sich der würdige Ritter nicht, vielleicht weil er dachte, es würde zwecklos sein. Ach, verehrter Herr!«, fügte er mit affektierter Sympathie, die seinen Spott nur noch beleidigender machte, zu Sir Jocelyn gewendet hinzu. »Euer Vater war ein hübscher Mann, von ebenso edlem Aussehen wie Ihr, wenn gleich rüstiger und breiter in den Schultern, als er zuerst hierherkam, aber zuletzt war er sehr gebückt und zu einem Skelett abgemagert. Ihr würdet ihn kaum erkannt haben.«

»Er verlor den Gebrauch seiner Glieder, wenn ich mich recht erinnere, nicht wahr, Grimbald?«, sagte Sir Giles, der die Szene verlängern wollte, die ihm unend­liche Unterhaltung zu gewähren schien.

»Er verlor den Gebrauch derselben völlig«, entgegnete der Gefangenenwärter. »Doch hätte er sich so auch keine Bewegung machen können. Es wurde ihm gestat­tet, dass ein Freund ihn besuchen durfte, und das war mehr Gnade, wie das Gericht solchen Delinquenten ge­wöhnlich gestattet .«

»Es war viel mehr, als Sir Ferdinando verdiente«, sagte Sir Giles, »und wenn ich es gewusst hätte, würde ich ihm keine solche Nachricht erwiesen haben. Die Delinquenten der Sternkammer können nicht erwarten, wie gewöhnliche Gefangene behandelt zu werden. Wenn sie es erwarten, werden sie sich getäuscht finden, nicht wahr, Herr Tunstall?«

»Sehr wahr, Sir Giles, sehr wahr!«, versetzte der Aufseher. »Gefangene der Sternkammer werden sehr we­nig Nachricht von mir erhalten. Dafür stehe ich Ihnen ein.«

»Es sei denn, dass sie Euch gut bestechen – nicht wahr, Herr Joachim?«, flüsterte Sir Giles heiter.

»Darüber könnt Ihr ruhig sein, Sir Giles. Ich bin unbestechlich , wenn Ihr erlaubt«, versetzte der an­dere unterwürfig.

»Mein armer Vater!«, rief Sir Jocelyn, »und du wurdest, ohne ein Verbrechen begangen zu haben, zu zögernder Todesqual in dieser entsetzlichen Zelle verurteilt! Der bloße Gedanke daran ist Wahnsinn. Doch der Himmel, wenn auch seine Urteile langsam sind, wird dich noch rächen an deinen Mördern!«

»Nehmt Euch in Acht, was Ihr sagt, Gefange­ner!«, entgegnete Grimbald, der plötzlich ein sehr raues Wesen annahm. »Jedes Wort, welches Ihr gegen die Beschlüsse der Sternkammer aussprecht, wird jenem Gerichtshof berichtet werden. Es ist also besser, wenn Ihr vorsichtig seid. Euer Vater wurde nicht ermordet. Er wurde nur infolge eines Urteils der Sternkammer in diese Zelle gesperrt und starb, ehe seine Gefangenschaft zu Ende war, das ist alles.«

»O. welche Tage und Nächte der Qual und Ver­zweiflung muss er während jener langen Gefangenschaft erduldet haben!«, rief Sir Jocelyn, vor dessen Blick sein sterbender Vater erschien und ihn mit unaussprechlichem Entsetzen erfüllte.

»Tage und Nächte, wie Ihr sie jetzt auch erleben werdet«, brüllte Sir Giles, »und Ihr werdet dann die Gefühle Eures Vaters begreifen. Aber er entging dem, was Ihr nicht vermeiden werdet. Er wurde nicht an den Pranger gestellt, nicht auf der Wange gebrandmarkt, er verlor nicht seine Ohren , es wurde ihm nicht die Nase aufgeschlitzt und er wurde nicht gegeißelt. Das hübsche Äußere, welches Ihr von Eurem Vater geerbt habt, wird nicht lange währen, wenn Ihr in die Hände des Henkers kommt. Ha, ha!«

»Wer von der Sternkammer bestraft wird, muss am Pranger ein Papier auf der Brust tragen. Dieses Zeichen der Schande dürft Ihr nicht vergessen, Sir Gi­les«, sagte der Aufseher leise lachend.

»Nein, nein, ich vergesse es nicht«, sagte lachend der Erpresser, »wie sinnreich erfunden sind unsere Stra­fen, Herr Joachim, und wie passend für die Vergehun­gen. Schmachvolle Krakeler und Lästerer des Staats wie Sir Jocelyn werden immer auf dieselbe Weise be­straft; aber neue Verbrechen erfordern neue Strafen. Ihr erinnert Euch doch jenes Traske, der das Juden­tum einführen wollte und Schweinefleisch zu essen ver­bot, der verurteilt wurde, während seiner Gefangenschaft nichts als Schweinefleisch zu essen.«

»Ich erinnere mich dessen vollkommen«, rief Tun­stall, »es war ein sehr gerechtes Urteil. Der Kerl hatte Abscheu gegen die Speise und würde lieber ver­hungert sein, als davon zu essen; aber wir zwangen ihn, die fetten Bissen hinunterzuschlucken, ha, ha! Ihr seid heiter, Sir Giles, sehr heiter; ich habe Euch seit vielen Tagen nicht so gesehen – kaum seit der Zeit, als Clemens Lanyeres Urteil vollstreckt wurde.«

»Ha! Der verwünschte Verräter!«, rief Sir Giles mit einem Ausbruche der Wut. »Ich wollte er hätte es noch einmal zu erdulden! Wenn ich ihn fange, soll er es – und ich bin gewiss, ihn bald in meine Hände zu bekommen. Aber zu unserem gegenwärtigen Gefangenen zurückzukehren. Ihr werdet ihn in jeder Hinsicht behandeln, wie sein Vater behandelt wurde, Herr Joachim – aber niemand darf in seine Nähe kommen.«

»Niemand soll sich ihm nähern, wer nicht eine Erlaubnis vom Gerichtshof hat, Sir Giles«, versetzte der andere.

»Selbst dann nicht«, sagte der Erpresser entschie­den. »Meine Befehle allein müssen befolgt werden.«

»Hm!«, rief der Aufseher ein wenig verlegen. »Nun, ich will Eure Instruktionen so genau befolgen, wie es nur möglich ist, Sir Giles. Ich vermute, Ihr habt dem Gefangenen weiter nichts zu sagen, und Grimbald kann ihn ebenso gut einschließen.«

Als er ein Nicken der Zustimmung von dem anderen erhielt, rief er dem Gefangenwärter zu, seine Aufgabe zu vollenden.

Aber Sir Jocelyn weigerte sich entschlossen, in die Zelle einzutreten und verlangte ein Zimmer in einem oberen Stock.

»Ihr sollt kein anderes Zimmer haben als dieses«, sagte Sir Giles in gebieterischem Ton.

»Ich wendete mich nicht an Euch, Herr, sondern an den Aufseher«, versetzte Sir Jocelyn. »Herr Joa­chim Tunstall, Ihr wisst wohl, dass ich weder von der Sternkammer noch von irgendeinem anderen Gerichts­hof zur Gefangenschaft in dieser Zelle verurteilt bin . Ich will nicht eintreten und gebiete Euch auf Eure Gefahr, mir ein besseres Zimmer zu geben. Dieses ist durchaus nicht bewohnbar.«

»Besprecht die Sache nicht weiter mit ihm, Grim­bald , sondern werft ihn in die Zelle«, brüllte der Er­presser.

»Ruhig und gemächlich, Sir Giles, ruhig und gemächlich«, versetzte der Gefangenenwärter. »Nun, Ge­fangener, Ihr hört, was gesagt wird – seid Ihr bereit, zu gehorchen?«

Er war im Begriff, Sir Jocelyn rau anzugrei­fen, als dieser sich an ihm vorbeidrängte, die Stufen hinauflief, Sir Giles bei der Kehle ergriff und ihn hinunterzog. Ungeachtet des Widerstandes des Erpressers, dem Grimbald beistand, gelang es unserem jungen Ritter, seinen Feind in den Kerker zu schleppen und ihn an das äußerste Ende desselben zu schieben. Während des Kampfes war es Sir Jocelyn gelungen, sich des De­gens des anderen zu bemächtigen, und nun setzte er ihm denselben auf die Brust. »Ihr habt Euch zu meinem Gefangenwärter ge­macht«, rief er, »und bei der Seele dessen, der durch Eure Mitwirkung in dieser ekelhaften Zelle umkam, will ich Euch zur augenblicklichen Rechenschaft für Eure Ver­brechen senden, wenn Ihr mir nicht versprecht, mir ein anderes Zimmer anzuweisen!«

»Ich verspreche es«, verletzte Sir Giles. »Ihr sollt das beste im ganzen Fleetgefängnis haben. Lasst mich nur hinaus, und Ihr sollt Euch selber eins auswählen.«

»Ich traue Euch nicht, falscher Schurke«, rief Sir Jocelyn. »Erteilt dem Aufseher Eure Befehle, und wenn er sein Wort gibt, dass sie befolgt werden sollen, so will ich es glauben Sonst müsst Ihr sterben.«

»Sagt Herrn Tunstall, dass er zu mir kommt, Grimbald«, stöhnte der Erpresser.

»Ich bin hier, Sir Giles, ich bin hier«, verletzte der Aufseher, vorsichtig in die Zelle tretend. »Was wollt Ihr, dass ich tun soll?«

»Befreit mich von diesem Zwang«, rief Sir Gi­les, indem er sich aufzustehen bemühte. Sir Jocelyn fasste den Degen kürzer, um ihm den Todesstoß zu versetzen, aber seine Absicht wurde von Grimbald verhindert. Mit seinem schweren Schlüsselbund gab der Gefangenenwärter dem jungen Ritter einen Schlag auf den Kopf und streckte ihn bewusstlos zu Boden.