Als E-Book erhältlich

Archive

Nick Carter – Ein Kampf um Millionen – Kapitel 3

Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Ein Kampf um Millionen
Ein Detektivroman

Ein aussichtsloser Auftrag

Am nächsten Morgen saß der Detektiv gerade in seinem Arbeitszimmer, als seine bejahrte Wirtschafterin mit der Meldung eintrat, eine Dame wünsche ihn zu sprechen. Zugleich überreichte sie eine Visitenkarte mit dem Namen Mrs. Reginald Crombie. Links unten war noch der weitere Vermerk: Cromfrey, Yorkshire.

Die gleich darauf ins Zimmer Geführte war eine stattliche, hochgewachsene Dame in Trauerkleidung mit einem stolzen, noch Spuren früherer hervorragender Schönheit aufweisenden Gesicht, welches indessen durch Kummer und Sorgen frühzeitig gealtert schien.

»Habe ich die Ehre, Mr. Nick Carter, den großen Detektiv, vor mir zu sehen?«, erkundigte sich die Besucherin, als sie dem Hausherrn gegenüber Platz genommen hatte.

»Ich bin Nick Carter, der Detektiv«, bestätigte der Gefragte höflich.

»Ich komme von London, um Ihren Beistand zu erbitten«, eröffnete die Dame die Unterredung. »Hier ist ein Brief, den mir Inspektor Mostyn von Scotland Yard (Hauptquartier der Londoner Kriminalpolizei) als Einführungsschreiben mitgab.«

Nick Carter öffnete den Brief und überflog hastig dessen wenige Zeilen, welche lauteten:

 

Nick Carter, Esq.
Überbringerin dieses Schreibens, Mrs. Reginald Crombie, eine Dame von guter Herkunft und gesellschaftlich höchst angesehen, wünscht die Aufklärung eines komplizierten Falles, die nur in Amerika und auch dort nur von Ihnen bewirkt werden kann. Ich bitte Sie, sich der Lady anzunehmen, mit dem Bemerken, dass Sie sich auf deren Angaben völlig verlassen können. Ihr getreuer Freund

W.A. Mostyn, Inspektor,
M.P. London

 

»Was wünschen Sie von mir, wenn ich fragen darf?«, erkundigte sich Nick, den Brief zur Seite legend.

»Ich wünsche, mein geraubtes Kind ausfindig zu machen.«

Nick stutzte. »Ihr eigenes Kind?«, fragte er, und als die Besucherin kaum merklich nickte, fuhr er fort: »Wann und wo wurde Ihr Kind geraubt?«

»Am 26. Januar 1883, nachmittags vier Uhr, hier in New York«, lautete die Antwort.

»Also vor achtzehn Jahren. Wie alt war das Kind damals?«

»Damals war mein Töchterchen zweieinviertel Jahre alt«, seufzte die unglückliche Mutter.

»Dann wäre sie heute zwanzig Jahre alt und erwachsen. Unter welchen Umständen geschah der Raub?«

»Auf Veranlassung meines damaligen Mannes«, versetzte Mrs. Crombie leise.

Nick schaute sie erstaunt an. »Der eigene Vater stahl das Mädchen?«, meinte er gedehnt.

»Nein, er war ihr Stiefvater und mein zweiter Gatte.«

»Und wie lautet der Name dieses Stiefvaters?«

»Alton Julian, er war von Beruf Schauspieler. Doch er ist längst tot.«

»Aber aus welchem Grund ließ er das Mädchen entführen?«, fragte der Detektiv erstaunt.

»Er hasste sie bitter. Erst nach unserer Verheiratung erfuhr er, dass ein Kind aus meiner ersten Ehe vorhanden war. Dann drang er unausgesetzt in mich, das Mädchen wegzugeben, sie von anderen Leuten adoptieren zu lassen oder einer öffentlichen Anstalt zu überweisen.«

Der Detektiv legte die Hand an die Stirn. »Well, hatte Ihr zweiter Gatte hierzulande Verwandte?«, fragte er.

Mrs. Crombie verneinte. »Nein, er war Engländer und hier nur eine einzige Saison tätig.«

»Dann kehrte er nach England zurück.«

»Allerdings, und ich begleitete ihn damals.«

»Sie ließen Ihr Kind hier im fremden Land zurück, ohne um seinen Aufenthalt zu wissen?«

Die Besucherin saß mit niedergeschlagener Miene da. »Ich glaubte, dadurch am ehesten meinem Kind auf die Spur zu kommen«, erwiderte sie zögernd. »Julian hat mir gestanden, dass die Entführung der Kleinen sein Werk war, und mir gelobt, mir nach unserer Rückkehr in England deren Aufenthaltsort zu offenbaren. Doch er starb schon ein Jahr später als Mitglied einer die Provinz bereisenden Truppe. Ich weilte damals nicht bei ihm. Unsere Ehe war eine tief unglückliche, und wir hatten uns getrennt.«

»Aber warum kehrten Sie nicht hierher zurück und nahmen die Suche nach dem Kind auf?«

»Mein Himmel, ich war so arm damals und sah mich gezwungen, nur um mein Leben fristen zu können, meine frühere Beschäftigung wieder aufzunehmen – ich stand Modell für Künstler.«

Der Detektiv nickte nachdenklich. »Well, auf welche Weise wurde das Kind entführt?«

»Wir wohnten damals hier in New York in einem Boardinghaus an der 12th Street«, begann Mrs. Crombie gedrückt. »Das Haus ist seitdem abgerissen worden. Wir hatten im zweiten Stock zwei Zimmer inne. Ich war ausgegangen, um einige Einkäufe zu machen. Unten auf der Straße vor dem Haus fuhr das Kindermädchen meine Kleine in einem Wagen auf und ab. Kaum hatte ich mich entfernt, so rief der in der Wohnung zurückgebliebene Julian vom Fenster aus das Mädchen unter irgendeinem Vorwand herauf, indem er ihr bedeutete, den Wagen ruhig vor dem Haus stehen zu lassen; er wollte am Fenster stehen bleiben und auf das Kind aufpassen. Er wusste das Mädchen etwa zehn Minuten oben in der Wohnung zu beschäftigen. In der Zwischenzeit sprang ein elegant gekleideter junger Mann aus einer nahebei haltenden Kutsche, nahm die Kleine aus dem Kinderwagen, eilte mit ihr zu seinem Gefährt zurück und fuhr schleunig davon. Als das Mädchen auf die Straße zurückkehrte, war mein Kind verschwunden.«

»Hm, hm«, machte Nick nachdenklich. »Was geschah nun bei Ihrer Rückkehr?«

»Julian stellte sich an, als ob er des Vorfalls wegen außer sich sei«, fuhr die unglückliche Mutter seufzend fort. »Doch ich durchschaute seine Heuchelei alsbald und ruhte nicht eher, bis er mir die Wahrheit eingestanden hatte. Doch so verzweifelte Anstrengungen ich auch machte, um mein Kind wiederzuerlangen, es schlug alles fehl.«

»Wer mag der elegant gekleidete junge Mann, der die Kleine raubte, gewesen sein?«

»Ich hatte immer Arthur Bellew, einen Vetter meines Gatten, der bei derselben Truppe gleichfalls Schauspieler war, im Verdacht der Täterschaft«, versetzte Mrs. Crombie lebhaft.

»Angenommen, Ihr Verdacht ist richtig, was fing der Mensch mit dem Kind an?«

»Jedenfalls hat er mein Kind in irgendeiner Anstalt untergebracht. Gott allein weiß, in welcher und wo; ich konnte es nie ausfindig machen!«

»Und wo hält sich dieser Arthur Bellew jetzt auf?«

Die Besucherin zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Noch am selben Tag, an dem der Raub geschah, verschwand er, und ich habe ihn seitdem niemals wiedergesehen.«

»Hatte das Kind irgendein Erkennungszeichen an sich, etwa ein Mal oder einen Schmuck?«

»Nichts dergleichen. An dem Tag ihres Verschwindens war das Kind mit einem langen Tragkleid aus ziegelrotem Seidenstoff bekleidet … das ist alles, was ich sagen kann.«

»Freilich wenig genug«, brummte Nick. »Sie waren Witwe, als Sie Julian heirateten?«

»Jawohl. Mein erster Mann war ein junger Künstler, für den ich Modell gestanden habe. Er hieß Heyworth. Nach kaum einjähriger glücklicher Ehe musste ich ihn verlieren. Ich sah mich gezwungen, zu meinem alten Gewerbe zurückzukehren. Durch Zufall lernte ich dann Julian kennen, der sich auch als Maler und Bildhauer versuchte, und zu meinem Unglück heirateten wir.«

»Well, Mrs. Crombie«, versetzte Nick nun mit einem scharfen Blick auf die Besucherin. »Sie ließen 18 Jahre verstreichen, ohne sich um den Verbleib Ihres Kindes zu kümmern. Was veranlasst Sie jetzt dazu?«

»Ja, das ist eine seltsame Geschichte«, räumte die Dame freimütig sein. »Durch eine Verkettung von Unglücks- und Todesfällen ist meine Tochter, falls sie noch lebt, heute die Erbin eines der reichsten Grundbesitze von ganz England – doch hören Sie selbst. Mein Mädchenname lautet Alice Ruthven. Mein Vater war ein sehr reicher und hochangesehener Mann in der Grafschaft Kent und der größte Grundbesitzer in dieser Gegend. Doch an diesen Besitz knüpften sich eigenartige Bedingungen. Gemäß der letztwilligen Verfügung des Begründers des Familienreichtums, eines Ruthven, der schon über einhundertfünfzig Jahre tot ist, sollte der Besitz im Mannesstamm forterben. Erst wenn kein Zweig der Familie mehr männliche Erben aufzuweisen hatte, sollten weibliche Abkömmlinge in Betracht kommen. Nun war ich zwar das einzige Kind meines Vaters, doch da in der Familie männliche Erben reichlich vorhanden waren, so gab es für mich keinerlei Aussicht, jemals in den Besitz der Erbschaft zu gelangen.

Da ich meine Mutter schon im zarten Kindesalter verlor, wuchs ich unter der Leitung von bezahlten Gouvernanten heran und entwickelte mich zu einer echten Ruthven. Ich war jähzornig, leidenschaftlich und hochmütig. Als ich bereits achtzehn Jahre alt geworden war, heiratete mein Vater wieder und gab mir zur Stiefmutter eine junge schöne Frau, die ebenso leidenschaftlich und heißblütig wie ich selbst war. Sie können sich denken, Mr. Carter, dass von Anfang an ein gespanntes Verhältnis zwischen uns herrschte, welches sich bald zum unheilbaren Bruch erweiterte. Nach einem besonders heftigen Auftritt beschloss ich in jähzorniger Aufwallung, aus dem Vaterhaus zu flüchten und mich in London auf meine eigenen Füße zu stellen.

Ich besaß zwar eine selten schöne Stimme und hoffte mit ihr mein Brot zu verdienen, doch ich vermochte weder auf der Bühne noch im Konzertsaal Erfolge zu erringen, und schließlich sah ich mich genötigt, aus der Schönheit meines Körpers Kapital zu schlagen und Modell zu stehen. Doch das geschah erst hier in New York, wohin ich gekommen war, um mich den Nachforschungen meines Vaters zu entziehen. Was mir hier in Amerika begegnete, was ich durchlebt und durchlitten habe, das wissen Sie bereits, Mr. Carter.«

»Fahren Sie fort«, bat der Detektiv. »Sie kehrten nach England zurück. Was geschah dann?«

»Ich stand wieder Modell, bis ich schließlich Mr. Reginald Crombie, einem in Yorkshire ansässigen Landedelmann, begegnete. Er kannte meine sämtlichen Familienverhältnisse, den Zwiespalt im Vaterhaus – und er heiratete mich. Wir führten seitdem in Cromfrey fern von aller Welt ein glückliches Leben, das nur durch den Gedanken an mein armes Kind getrübt wurde.«

»Söhnten Sie sich nicht mit Ihrem Vater wieder aus?«, erkundigte sich der Detektiv.

»Erst an seinem Totenbett, als er vor zwölf Jahren starb. Sein Besitztum ging auf einen männlichen Verwandten über.«

»Doch inzwischen ist der Mannesstamm ausgestorben?«, fragte Nick Carter interessiert.

»Wie ich Ihnen schon sagte. Der Tod hielt reiche Ernte, und nun würde meine Tochter die einzige legitime Erbin sein. Zwar hat sich ein männlicher Erbe gemeldet, ein gewisser Sidney Cariston, welcher der entfernte Verwandte einer nicht minder weitläufigen weiblichen Seitenlinie ist, und es ist ihm wirklich gelungen, den Besitz von den Gerichten ausgehändigt zu erhalten, weil dieser seiner Behauptung beipflichtet, mein Kind sei entweder tot oder habe überhaupt nicht existiert. Wie mir indessen mein Anwalt, einer der berühmtesten Juristen in ganz England, sagte, ist das ungesetzlich.«

»Sie haben also die Nachforschung nach der Verschwundenen mit Rücksicht auf das in Aussicht stehende Erbe begonnen«, bemerkte Nick Carter gelassen. »Ist Ihr Gatte damit einverstanden, Mrs. Crombie?«

»Oh, Mr. Crombie ist schon seit drei Jahren tot, und ich wurde seine Universalerbin. Ich bin reich und will mein Vaterserbe nicht aus gewinnsüchtigen Beweggründen beanspruchen. Ich will lediglich meinem gequälten Mutterherzen Genugtuung verschaffen, mein Kind ausfindig zu machen und an den ihm gebührenden Platz setzen.«

Nick Carter erhob sich und schritt, in tiefem Nachdenken versunken, im Zimmer auf und nieder. Dann blieb er vor der Besucherin wieder stehen. »Haben Sie mir irgendetwas verschwiegen?«, erkundigte er sich. »So interessant Ihre Lebensgeschichte sich auch anhört, sie bietet verzweifelt wenig Handhaben, was die Wiederentdeckung Ihrer schon vor so langen Jahren verschwundenen Tochter anbetrifft. Es ist ein schwieriges, hoffnungsloses Problem, dessen Lösung Sie mir auftragen wollen – ich muss das rundweg eingestehen.«

»Mein Gott, ich sagte Ihnen alles, was ich selbst nur erfahren konnte!«, erwiderte die Frau gedrückt.

»Hm, hm, so spielten Julian und Bellew damals hier in New York?«

»In Wallacks Theater.«

»Sie waren an diesem Theater als Schauspieler angestellt?«

»Nein, sie gehörten einer englischen Truppe an, welche bei Wallacks gastierte.«

»Aber sie traten unter ihren richtigen Namen auf? Well, das ist wenigstens etwas«, meinte der Detektiv, als seine Besucherin bejahend nickte. »Hörten Sie jemals von einer Suzanne?«

Mrs. Crombie schaute ihn erstaunt an, dann schüttelte sie mit dem Kopf. »Niemals!«, sagte sie.

»Sie war eine Zirkuskünstlerin und als Panneauxreiterin ziemlich bekannt.«

»Ich habe ihren Namen nie gehört, doch warum fragen Sie, Mr. Carter?«

»Hm, ein seltsamer Zufall ließ mich gestern Abend die Bekanntschaft einer jungen Dame machen, die gleichfalls in zarter Kindheit ihren Eltern gestohlen worden ist. Die junge Lady könnte identisch mit Ihrer Tochter sein.«

»Wer ist das junge Mädchen?«, fragte Mrs. Crombie, sich erwartungsvoll erhebend.

Nick Carter wehrte beschwichtigend mit der Hand ab. »Eine junge Künstlerin, Mlle. Viola …«

»… sie wurde im Folly Varieté-Theater letzte Nacht vom sicheren Tode gerettet. Sie war es, welche Sie gerettet haben, Mr. Carter? Ich las den Bericht in den Zeitungen. Wäre es möglich, dass …«

»… dass die junge Lady identisch mit Ihrer Tochter ist?«, unterbrach sie der Detektiv unter erneutem Kopfschütteln. »No, Ma’m, das scheint mir gänzlich ausgeschlossen zu sein. Es tut mir aufrichtig leid, den Namen überhaupt erwähnt zu haben. Ich wünschte keine Hoffnungen bei Ihnen zu erwecken, welche notwendig zu einer bitteren Enttäuschung führen müssen.«

»Bitte geben Sie mir Gelegenheit, die junge Lady sehen und sprechen zu können!«

Nachdenklich blickte der Detektiv auf die in unbeschreiblicher Erregung Befindliche. »Well, wenn Sie sich mir anschließen wollen, Mrs. Crombie«, entschied er dann. »Ich stand ohnehin im Begriff, Mlle. Viola aufzusuchen.«

In der Wohnung der Trapezkünstlerin wurde ihnen indessen der Bescheid gegeben, dass die Letztere sich im Theater befinde.

»Dann begeben wir uns ebenfalls um Folly Varieté«, meinte Nick Carter zu seiner Begleiterin.