Kriminalakte 2 – Der Killer, der Riese und der alte Mann
Der Killer, der Riese und der alte Mann
Mabeuge, eine französische Kleinstadt im Departement Nord, nahe der Grenze zu Belgien.
Es ist Samstag, der 14. August 1982.
Ein Auto fährt an diesem kühlen Sommertag vor den kleinen Kolonialwarenladen des Ortes und hält an. Drei Männer steigen aus.
Kurz darauf stürmen sie wieder aus dem Laden, zurück bleibt der verletzte Inhaber. Wie man später feststellt, fehlt zwar kein Geld in der Kasse, aber dafür die Waffe des Ladenbesitzers.
Eine Schrotflinte!
So steht es in der Kriminalakte der Polizei Departement Nord.
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Wavre ist die Hauptstadt der belgischen Provinz Wallonisch-Brabant. Sie liegt etwa 25 Kilometer südlich von Brüssel in unmittelbarer Nähe der Autobahn A4 von Brüssel nach Namur. In Wavre gibt es ein sehr bekanntes Waffengeschäft. Am 30. September 1982 überfallen mehrere Männer den Laden. Sie gehen dabei mit äußerster Brutalität vor. Ein Toter und drei Verletzte bleiben zurück, als die Männer mit ihrer Beute entkommen.
Am selben Tag wird in der Kleinstadt Hoeilaart auf mehrere Mitglieder der Brigade de Surveillance & de Recherche der belgischen Rijkswacht, also der lokalen Gendarmerie, geschossen. Zwei Polizisten werden dabei verletzt. Nachdem die Zeugenaussagen ausgewertet sind, ist klar, dass es sich bei den Tätern um dieselben handelt, die in Wavre das Waffengeschäft überfielen.
Danach vergehen mehr als zwei Monate, bis die Täter wieder in Erscheinung treten.
Am 23. Dezember 1982 überfallen sie in Brüssel das Hotel Chevaliers, erneut bleibt ein Toter zurück. Am 09. Januar 1983 erfolgt bei Mons ein Angriff auf einen Taxifahrer, auch hier gibt es einen Toten. Am 25. Februar folgt in Uccle der Überfall auf eine Filiale der Supermarktkette Delhaize mit einem Verletzten und am 3. März wird ein Laden der Colruyt Lebensmittelgeschäfte in Halle, einer vierzigtausend Einwohner zählenden Stadt in der Provinz Flämisch-Brabant überfallen.
Diesmal bleiben ein Toter und ein Verletzter zurück.
Vier Tote und sechs Verletzte innerhalb von kaum mehr als sechs Monaten und nach Berichten von Augenzeugen immer dieselben Täter.
Die Polizei teilt die Killerbande nach den Aussagen in drei Haupttäter ein, die in verschiedenen Konstellationen bei jeder Tat als Anführer auftreten, und in eine größere Anzahl weiterer, ständig wechselnder Täter. Die Haupttäter werden hernach in den Kriminalakten wie folgt bezeichnet:
Der Killer – le Tueur – ihm werden fast alle Morde zugeschrieben
Der Riese – le Geánt – so genannt wegen seiner Körpergröße von fast zwei Metern
Der Alte – le Vieux – angeblich ein Mann, der deutlich älter ist als der Rest der Bande
Weiterhin stellt man fest, dass die Ausrüstung der Täter, bis auf die in Frankreich, in einem Kolonialwarenladen in Mabeuge erbeutete Schrotflinte, ausnahmslos aus einem kurz darauf erfolgten Überfall auf ein Waffendepot der belgischen Polizei stammt.
Danach bleibt es ruhig, die Täter scheinen untergetaucht zu sein.
Aber die Ruhe ist trügerisch, denn bereits ein halbes Jahr später beginnt das Morden erneut.
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Am 10. September 1983 wird ein Textilgeschäft in Temse, einer belgischen Gemeinde in der Provinz Ostflandern, angegriffen, Bilanz hierbei ein Toter und ein Schwerverletzter.
Am 17. September überfallen die Männer in Nivelles erneut ein Ladengeschäft der Supermarktkette Colruyt und liefern sich noch am selben Tag ein Feuergefecht mit der Polizei. Die Täter entkommen wieder, zurück bleiben diesmal zusammengenommen 3 Tote und 2 Verletzte.
Am 2. Oktober erfolgt ein Überfall auf ein Restaurant in Ohain mit einem Toten, am 7. Oktober ein Überfall in Beersel, einer kleinen Gemeinde am Südrand von Brüssel. Ziel ist dabei zum zweiten Mal ein Supermarkt der Filialkette Delhaize mit einem Toten und drei Verletzten als Ergebnis.
Am 1. Dezember erfolgt schließlich ein Überfall auf ein Juweliergeschäft in Anderlues, einem zwölftausend Einwohner zählenden Ort in der belgischen Provinz Hennegau.
Diesmal lassen die Täter zwei Tote zurück.
Jetzt ist ganz Belgien in Aufruhr.
Eine Sonderkommission wird gebildet.
Der belgische Senat beginnt sich in einer parlamentarischen Untersuchung mit dem Fall zu beschäftigen. Doch die Täter scheinen zu ahnen, dass man Jagd auf sie macht, sie tauchen unter. Das Jahr 1984 vergeht, ohne dass es erneut zu Gewalttaten kommt.
Das erste Halbjahr 1985 ebenso, aber dann, es ist wieder September, schlägt die Bande, die man inzwischen als die Killer von Brabant bezeichnet, da sie fast alle ihre Taten in der gleichnamigen Provinz verübt haben, erneut zu.
Diesmal brutaler und blutiger als je zuvor.
Wieder ist die Supermarktkette Delhaize ihr Ziel.
Sie überfallen drei ihrer Filialgeschäfte und diesmal hinterlassen sie mehr als ein Dutzend Tote.
Der erste Überfall erfolgt am 27. September 1985 in Braine-l’Alleud, einer vierzigtausend Einwohner zählenden Stadt, in deren Nähe sich teilweise die Schlacht von Waterloo zutrug.
Die Beute ist angesichts von drei Toten und zwei Schwerverletzten geradezu lachhaft. Aber es kommt noch schlimmer. Noch am gleichen Tag überfallen sie den Delhaize-Supermarkt in Overijse. Der Blutzoll, den dieser Überfall fordert, ist angesichts der Höhe der Beute ungleich größer. In Overijse gibt es fünf Tote, ein Mensch wird schwer verletzt, drei leicht.
Der finale Höhepunkt ihres Mordens erfolgt dann in Aalst.
Aalst ist bis zu diesem Überfall lediglich für seine Bierspezialitäten, als Karnevalshochburg und als Zentrum der belgischen Schnittblumenzucht bekannt.
Danach ist in der belgischen Stadt, die nordwestlich von Brüssel an dem Flüsschen Dender liegt, nichts mehr, wie es einmal war.
In den Abendstunden des 9. Novembers 1985 fährt ein dunkler Golf GTI auf den Kundenparkplatz des hiesigen Delhaize-Supermarkts. Drei Männer steigen aus. In den Händen halten sie Pumpguns und eine MAC.10 Maschinenpistole. Wortlos betreten sie den Supermarkt. Im Laden schießen sie alles nieder, was sich bewegt. Schließlich flüchten sie mit einer Beute von mehreren tausend Euros.
Diesmal bleiben 8 Tote und 9 Verletzte zurück, zum Teil mit lebensgefährlichen Schusswunden. Trotz einer eingeleiteten Großfahndung gelingt es den Mördern wieder einmal zu fliehen. Der König von Belgien selbst ruft Fallschirmjäger zu Hilfe, die mit Sturmgewehren und Maschinenpistolen Landstraßen und Straßenkreuzungen kontrollieren.
Aber wieder gelingt es den Tätern unterzutauchen und von diesem Tag an hört und sieht man nie wieder etwas von ihnen.
Doch die Polizei gibt nicht auf. Sie vermutet, dass die Überfälle nur deshalb so ein jähes Ende gefunden haben, weil ihren Erkenntnissen nach einer der Anführer der Bande beim Überfall in Aalst angeschossen wurde und daran vermutlich gestorben ist.
Dutzende von Ermittlern, zusammengefasst in zwei SOKOs, von denen die SOKO Delta die bedeutendere ist, versuchen fieberhaft alles, um die Killer zeitnah zu fassen, denn in Belgien verjähren alle Straftaten.
Im Gegensatz zu Deutschland und fast allen anderen europäischen Staaten auch Mord!
Angesichts von 28 Toten und beinahe 40 Verletzten beschließt die belgische Regierung im Juni 2013 in einer geschichtsträchtigen Sitzung, die Verjährungsfrist für Mord um zehn Jahre zu verlängern, da die Mörder ansonsten 2015 straffrei davongekommen wären.
Trotz dem einen oder anderen Hinweis, oder vielleicht gerade deswegen wird der Fall immer seltsamer und geheimnisvoller.
Er ist bis heute nicht gelöst.
Bei der Frage nach dem Warum und Wieso kommen immer wieder drei Thesen auf, die zwar ständig wieder verworfen werden, die aber nach Meinung der Öffentlichkeit allesamt einen wahren Kern besitzen. Wir haben sie anhand von zugänglichen Quellen aufgegriffen und legen sie an dieser Stelle dem Leser dar.
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Die erste These besagt, dass die Mörderbande aus einer Verschwörung innerhalb der belgischen Stay behind Organisation SDRA4 hervorgegangen sein soll. Diese Organisation war eine geheime, gemischte Zivil- und Militäreinheit, die von 1951 bis 1990 existierte. Sie wurde in Zeiten des Kalten Krieges zusammen mit dem britischen SIS und dem CIA gegründet mit dem Ziel, Aufklärung und Widerstand im Fall eines Einmarsches russischer Truppen in Belgien zu tätigen und zu koordinieren. Nachdem diese Organisation aufgelöst wurde, was zum Teil an dem immer stärker werdendem Einfluss des CIA lag, soll sie versucht haben, durch Terroranschläge das demokratische Regierungsgefüge in Belgien zum Einsturz zu bringen, um einen rechts gerichteten Machtapparat im Land zu installieren.
Unterstützt wird die These durch die Tatsache, dass viele Mitglieder von SDRA4 inzwischen bei der Polizei oder Justizbehörden beschäftigt sind. Ferner wurden diesbezügliche Ermittlungen von Untersuchungskommissionen und den SOKOs von den Leitern mehrerer belgischer Geheimdienste massiv behindert, indem sich diese weigerten, den Kommissionen
Namenslisten der SDRA4 auszuhändigen, was ein rechtswidriger Verstoß gegen die Anweisungen sowohl des belgischen Verteidigungsministers als auch des Justizministers war.
Die zweite These beruht auf den sogenannten Rosa Balletten.
Dieser Begriff umschreibt angeblich Sexpartys, bei denen es wiederholt zu Geschlechtsverkehr und anderen sexuellen Handlungen zwischen minderjährigen Jungen und Mädchen sowie mehreren Mitgliedern der belgischen High Society gekommen sein soll. Darin verwickelt sollen nicht nur hohe Beamte, Politiker, Minister, Industrielle und hochrangige Polizisten, sondern auch Adlige sein.
Diese Behauptungen beziehen sich auf den Umstand, dass die Killerbande am 17. September 1983 bei ihrem Überfall auf einen Supermarkt der Filialkette Colroyt kaum Geld erbeutet hat, aber in dem Laden den Grundstücksmagnaten Jacques Fourez und dessen Sekretärin Elise Dewil erschossen hat, die zentrale Figuren der Rosa Balletten gewesen und darüber hinaus auch über diverses Filmmaterial verfügt haben sollen. Auch Jaques van Camp, der am 2. Oktober 1983 in einem Restaurant in Ohain erschossen wurde, und der Bankier Leone Fi’nne sowie Constantin Angelou, die man am 27. September 1985 bei den Überfällen auf die Delhaize-Supermärkte getötet hat, wurden immer wieder mit solchen Veranstaltungen in Verbindung gebracht.
Die dritte These schließlich bezieht sich auf Verbindungen zum illegalen Waffenhandel, der zu dieser Zeit ein Betätigungsfeld der Mafia war, der ebenfalls Beziehungen bis in höchste Kreise nachgesagt werden. Leone Fi’nne, der in Overijse im Supermarkt erschossen wurde, galt aufgrund seiner Verwicklungen auch in solcherart von Geschäften als Schlüsselfigur.
Alle Thesen haben ihr Für und Wider, Tatsache aber ist, keine lässt sich wirklich beweisen, die Täter sind nach wie vor unbekannt und das Jahr 2025 bis zur endgültigen Einstellung sämtlicher Ermittlungen in dieser beispiellosen Mordserie rückt immer näher.
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Werfen wir zum Abschluss noch einen Blick auf den Stand der Ermittlungen bis Juni 2020, soweit sie der Öffentlichkeit zugänglich sind.
Die SOKO, die im September 1985 die Vorfälle untersucht, macht einen Mann namens Bruno Vandeuren als Bandenmitglied aus. Kurz bevor er vernommen werden kann, wird er von Unbekannten erschossen. Der zweite Verdächtige ist der Ingenieur Juan Mendez. Er war bei der belgischen Waffenfabrik FN in Herstal bei Lüttich beschäftigt und soll vor dem Überfall in Aalst eine der Waffen gestohlen haben, die danach in Aalst zum Einsatz kam. Mendez wird ein knappes Jahr danach im Herbst 1986 von Unbekannten erschossen.
1987 werden in einem Kanal bei Ronquie’res ein Plastiksack mit Gewehren, kugelsicheren Westen und anderen Waffen entdeckt. Diese Waffen wurden allesamt bei den Taten benutzt. Aufgrund der Art der Waffen und auch durch die Aussagen verletzter Polizisten wird immer deutlicher, dass die Mitglieder der Killerbande eine polizeiliche oder militärische Ausbildung durchlaufen haben. Aufgrund der Handhabung und der Art des Zielens und der erstaunlichen Geschicklichkeit im Umgang mit diesen Waffen bleibt nur diese Vermutung. Ein ungeübter Schütze könnte aufgrund des Rückstoßes der Pumpguns damit überhaupt nicht richtig zielen. Spezialeinheiten der Polizei und des Militärs allerdings schon.
1990 wird der SOKO Delta der Fall ohne Angaben von Gründen entzogen.
1999 sagt ein Anwalt der Opfer, dass er der Polizei detaillierte Hinweise zu den Tätern übergeben hat. Die Hinweise sind verschwunden, passiert ist nichts.
Im Januar 2012 beantragt Eddy Vos, einer der wichtigsten Ermittler der ehemaligen SOKO Delta plötzlich seinen Wechsel zu einer anderen Dienststelle.
Im Mai 2013 erstattet er Anzeige gegen Unbekannt wegen Todesdrohungen.
Am 21. Oktober 2017 häufen sich die Meldungen, dass der Riese, einer der Anführer der Bande, enttarnt sei. Der Bruder des ehemaligen und inzwischen verstorbenen Polizisten Christiaan B. aus Aalst sagt aus, dass dieser auf dem Sterbebett zugegeben hat, einer der Anführer zu sein. Weitere Zeugenaussagen bestätigen das übereinstimmend. Außerdem gleicht Christiaan B. dem von der Polizei erstellten Phantombild in frappierender Weise. Ferner wird nach Durchsicht der Dienstpläne festgestellt, dass er an jenen Tagen, an denen die Überfälle stattgefunden haben, immer frei oder Urlaub hatte.
Ebenfalls im Jahr 2017 behauptet der belgische Justizminister Koen Geensvor in einem Parlamentsbeschluss, dass es massive Versuche gegeben hat, die Ermittlungen in diesem Fall zu manipulieren.
Im April 2018 werden die Ermittlungen mit der Aussage, Christiaan B. ist nicht der Riese, überraschend beendet.
Im Februar 2019 begeht Roger Romelart, Mitglied der Sonderkommission Delta Selbstmord. Wenige Wochen zuvor war ein gewisser Philippe V., ebenfalls damals ein Mitglied der SOKO Delta, verhaftet worden. Romelarts Tochter behauptet, ihr Vater war seither auffallend nervös und unruhig und er bekräftigte immer wieder, dass damals während der Ermittlungen vieles nicht mit rechten Dingen zugegangen sei.
Im Januar 2020 wird eine DNA-Analyse für mehrere hundert verdächtige Personen angeordnet.
Am 17. Juni 2020 veröffentlicht die Polizei ein Foto, das einen Mann mit Sonnenbrille in einem Wald zeigt, der eine bei den Überfällen benutzten Waffe in der Hand hält.
Die Polizei bezeichnet dieses Foto als eine entscheidende Spur.
Seither ist nicht mehr viel geschehen.
Inzwischen sind es aber nur noch 48 Monate, dann gehen die Mörder straffrei aus.
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