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Der Detektiv – Der Löwe von Flandern – Teil 2

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 20
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der Löwe von Flandern

Teil 2

Von dreiviertel neun an gingen wir vor dem Eingang der deutschen Bierstube in der Karl Johans Gade langsam auf und ab.

Harst wollte nicht erst drinnen Platz nehmen, um nicht Zeit zu verlieren.

Pünktlich neun Uhr tauchte Inspektor Lundström auf. Wir stellten uns in den erleuchteten Eingang. Es glückte: Lundström stutzte, lüftete den Hut.

»Vielleicht Herr Hecker?«

Harst spielte den Überraschten »Allerdings. Mein Name ist Hecker. Aber …«

Der Inspektor erklärte hastig, dass Herr Harst ihm geraten habe, und so weiter. Er erkannte weder Harst noch mich.

Wir gingen, Lundström in der Mitte, die Karl Johans Gade hinunter dem Königlichen Schloss zu. Harst ließ sich die ganzen Einzelheiten des Falls genau erzählen als wüsste er noch nichts davon.

»Gut, ich will mich in der Kajüte der Brigg gern mal umschauen«, meinte er dann. »Können wir jetzt gleich an Bord gehen? Schubert und ich haben Taschenlampen mit.«

»Jetzt gleich? Meinetwegen, Herr Hecker«, sagte Lundström verdutzt. »Aber am Tag würden Sie vielleicht doch mehr …«

»… mehr sehen?«, warf Harst ein. »Oh, ich arbeite gern nachts. Haben Sie eine Wache auf der Brigg?«

»Nein. Nur die Kajüte habe ich abgeschlossen. Den Schlüssel trage ich bei mir.«

»Sehr gut. Würden Sie ihn mir geben? Sie brauchen sich nicht mit auf den Segler zu bemühen. Ich werde dort vielleicht Stunden zubringen. Ich arbeite langsam, aber sehr sorgfältig. Ihre Gegenwart würde mich nur stören. Hat Harst Ihnen nicht gesagt, dass ich nie mit der Polizei gleichzeitig etwas untersuche? Ich habe so meine Schrullen.«

Lundström lächelte. »Das merkt man! Bitte, hier ist der Schlüssel.«

Es hatte schon vorhin leicht zu tröpfeln begonnen. Wir waren nun in den Anlagen vor dem Schloss.

Harst verabschiedete sich schnell von Lundström. »Es wird sofort einen Platzregen geben. Auf Wiedersehen. Ich suche Sie morgen früh im Polizeigebäude auf.«

Wir eilten den Munkedamsvejen (Weg) entlang, fanden eine Droschke, stiegen ein und ließen uns zum Westbahnhof fahren, der unweit des Piperviken Hafens liegt.

Es goss jetzt in Strömen. Wir hatten inzwischen unsere Gummimäntel angezogen. Auf dem Bahnhof gingen wir in den Wartesaal, aßen schnell eins der warmen Gerichte, kauften noch eine Anzahl belegter Brötchen und eine halbe Flasche Rotwein und waren mit diesem Proviant versehen gegen halb elf an der Stelle des Hafens, wo unser Beiboot uns hatte erwarten sollen.

Pedersen hockte darin wie ein dunkler Klumpen. Er hatte sich in ein geöltes Segel eingewickelt, triefte vor Nässe und duftete nach Cognac, den er sehr liebte.

»Ein Sauwetter!«, brummte er. »Nun also zurück zum Optimus, Herr Harst?«

»Ne, bester Pedersen, deshalb sollten Sie nicht hier warten. Zum Löwen von Flandern; aber leise! Ich werde am besten selbst rudern. Halten Sie den Bootshaken bereit, damit wir mit dessen Hilfe schnell an Deck kommen.«

Es regnete Bindfäden. Man sah kaum die Hand vor den Augen. Wir mussten daher erst nach der Brigg suchen.

Wir kletterten dann an der Wasserseite über die Reling, Harst voran, krochen auf allen vieren das Achterdeck entlang bis zur Tür der Kajüte. Diese lag in dem erhöhten Heck. Harst schloss sehr leise auf; wir schlüpften hinein, drückten die Tür wieder zu und befanden uns nun in schwarzer, unheimlicher Dunkelheit.

Harst rührte sich nicht. Er lauschte offenbar. Aber nur das Plattern der Regentropfen gegen das Kajütdach war zu hören.

Dann, wie ein Hauch trafen die Worte mein Ohr: »Vorsicht – wir sind …«

Und dann schoss ein blendender Lichtkegel auf uns zu; danach eine Stimme, deren Klang beinahe gutmütig-ironisch war.

»Nicht den Finger rühren! Neben Ihnen steht jemand mit zum Hieb bereiten Beil! Ja, wozu kümmern Sie sich auch um Dinge, die Sie nichts angehen! Glaube gern, dass Sie auf diese Überraschung nicht vorbereitet waren!«

Ich schielte nach links. Da stand ein Mensch mit erhobenem Arm.

Der, der die Azetylenlaterne hielt, fuhr nun fort: »Strecken Sie die Hände nach vorn aus; ganz weit. So. Danke!« Er stellte die Laterne auf das kleine Mitteltischchen. Und ich sah nun, dass da ein aufgeschlagenes Buch und ein langer Dolch lagen.

Der Sprecher hatte ein Ende starke Schnur aus der Tasche geholt, band erst Harst die Handgelenke zusammen, dann auch mir.

»So«, meinte er, »Jetzt rate ich Ihnen, nicht etwa um Hilfe zu rufen. Das hätte auch wenig Zweck bei dem Lärm, den der Regen macht.«

Er rieb ein Zündholz an, und gleich darauf brannte die Pendellampe an der Decke, beleuchtete nun die ganze Kajüte, die etwa drei Meter breit und vier Meter lang war. Links an der Wand stand ein kleines Glanzledersofa. Dort mussten wir Platz nehmen.

Die beiden Männer waren wie einfache Seeleute gekleidet, trugen blaue Wollsweater und blaue, gestrickte Kappen. Außerdem aber noch vor den Gesichtern Masken aus grünem Zeug, das von der Nase ab in Fransen geschnitten war. Diese Masken reichten bis auf die Brust hinab. Sie waren etwa gleich groß, die beiden; nur der Sprecher war schlanker.

Dieser setzte sich nun in den vor dem Schreibtisch stehenden Sessel und begann das Verhör.

»Lundström hatte uns liebenswürdigerweise auf Ihre Einmischung schon vorbereitet, Herr Hecker. Dass Sie trotz des Regens jetzt nachts hier erscheinen würden, glaubten wir allerdings nicht. Weshalb sind Sie trotz des Gusses hergekommen?«

»Weil ich morgen Vormittag eigentlich nach Bergen weiterreisen wollte«, erklärte Harst freundlich.

»So so. Sie sind mit Harst bekannt, Herr Hecker, nicht wahr? Lundström erwähnte das.«

»Ja, oberflächlich.«

Die Unterhaltung wurde immer gemütlicher.

»Ein Genie, der Harst! Auch Sie sollen als Detektiv was leisten, Herr Hecker.« Er sprach das Deutsche leicht gebrochen und suchte auch verschiedentlich nach dem richtigen Ausdruck.

»Mit Harst bin ich nicht zu vergleichen«, meinte Hecker bescheiden.

»Glaub ich gern. Was nun, Herr Hecker? Sie sind uns unbequem. Lundström allein kommt für uns nicht in Betracht. Aber Sie als Spezialist für Seeverbrechen«, das war  nun sehr ironisch gesagt , »müssen wir kalt stellen.«

»Kalt stellen!«, wiederholte Harst, als ob er sich den Ausdruck merken wollte.

»Ja. Nicht kalt machen! Das ist ein Unterschied. Wir werden Sie also vorläufig einsperren. Aber, wenn Sie wollen, können Sie sich vorher hier noch alles ansehen, wie es ja wohl Ihre Absicht gewesen ist.« Das klang wieder stark ironisch. »Sie werden nämlich doch nicht aus dieser Geschichte klug, bestimmt nicht! Die ist zu verzwickt!« Er lachte leise.

»Verzwickt!«, kam es aus Harsts Mund wie ein Echo.

»Ja, und wie verzwickt! Schade dass der große Harald Harst mit dem Optimus in der weisen Erkenntnis, hier sei doch wohl nur schwer für ihn neuer Ruhm zu ernten, wieder davongegondelt ist. Sehr schade. Ich hätte ihm diese Nuss gegönnt. Also, wenn es beliebt, schauen Sie sich hier nur ruhig um. sieht ein bisschen wüst hier aus. Und all die Blutspritzer!«

»Mit Ihrer Erlaubnis!« Harst erhob sich, ging hin und her, beugte sich über den Tisch, las halblaut aus dem aufgeschlagen Heine-Band vor:

Du hast Diamanten und Perlen

hast alles, was Menschenbegehr,

und hast die schönsten Augen:

mein Liebchen, was willst du noch mehr?

Schon wieder lachte der schlanke Maskierte spöttisch auf.

»Nicht wahr, ein hübsches Gedicht!«, meinte er. »Wissen Sie jetzt, wo die Besatzung geblieben ist?«

»Das weiß ich schon längst: Ermordet und ins Meer geworfen!«, erklärte Harst völlig ernst. »Sie sollten lieber nicht hier so höhnisch sicher tun! Auch Sie wird die Strafe ereilen. Sie beide können nur die Mörder sein!«

»Im Heine steht es!«, spottete der Maskierte. »Ja, ja, es gibt auch Dinge, die ein Detektiv nicht herausbekommt!«

Harst setzte sich wieder. »Es hat keinen Zweck, dass ich mich hier bemühe«, meinte er. »Wann werden Sie uns freilassen?«

»Bald, Herr Hecker. Vielleicht nach vier, fünf Tagen. Ihnen soll nichts geschehen, wenn Sie sich manierlich benehmen. Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, gleichzeitig muss es auch Ihr Freund Schubert tun, dass Sie nicht um Hilfe rufen wollen, dann ersparen wir Ihnen die Knebel.«

Wir gaben unser Ehrenwort.

Ich wurde aus alledem nicht klug. Harsts Verhalten war mir genau so rätselhaft wie das des Maskierten, der sich in so zynischer Frechheit als Spötter aufspielte. Unwillkürlich dachte ich an den Mann, den Harst beobachtet hatte, als er hier aus einem der beiden Fenster stieg, die nun von innen durch Decken dicht verhängt waren, damit kein Lichtstrahl hinausdrang.  Ob etwa einer dieser beiden Leute jener Mann war? Sehr wahrscheinlich doch!

Der mit dem Beil flüsterte jetzt mit seinem Kumpan. Dann zerschnitten sie den Vorhang eines Bücherbretts, auf dem allerlei Klassiker standen, verbanden uns die Augen und fesselten uns die Hände so an die Sofabeine, dass wir die Augenhüllen nicht entfernen konnten. Sie begannen nun in der Kajüte hin und her zu gehen, beklopften die Wände, rückten Möbel ab, flüsterten, fluchten leise, gingen wieder hin und her und benahmen sich ganz so, als ob sie etwas suchten.

Wir standen dicht dabei. Kein Zweifel: Die beiden wollten hier ein geheimes Fach, ein schlau angelegtes Versteck finden.

Nach einer schier endlosen Zeit gaben sie die Suche auf. Sie waren nun schlechterer Laune als vorhin. Das merkten wir an dem Ton, in dem der Schlanke mit uns sprach.

Ich will die folgende Ereignisse nur kurz streifen. Sie sind nicht besonders wichtig. Wir wurden bei strömendem Regen mit verbundenen Augen in ein Boot geschafft, das wohl eine Stunde mit uns unterwegs war. Dann brachte man uns auf irgendein größeres Schiff, in dem es ekelhaft nach Fisch und nach dem charakteristischen Geruch von Dampfmaschinen stank. Ein kleiner Verschlag wurde unser Kerker. Hier nahm uns der Schlanke die Fesseln und die Tücher ab. Wir saßen auf ein paar großen Wolldecken. In einer Ecke stand eine brennende Schiffslaterne.

Vier Tage dauerte unsere Gefangenschaft. Am dritten Tag abends hörten wir das Stampfen einer Schiffsmaschine. Unser Kerker begann zu schwanken. Der Dampfer war unterwegs. Wohin?

Nun, das sahen wir am Abend des folgenden Tages. Der Schlanke erschien, band uns die Hände, steckte uns unsere Pistolen in die Tasche, und dann brachte uns ein Boot an Land. Auch die Augen hatte man uns wieder verbunden.

Nun hörten wir, als wir auf lockerem Sand eine Strecke vom Strand weggeführt worden waren, ganz höflich vor uns sagen: »Leben Sie wohl, meine Herren! Nun ist Ihnen gestattet, alles zu tun, was in Ihren Kräften steht, um hinter das Geheimnis der verlassenen Brigg zu kommen. Wir werden uns nicht wiedersehen. Mag es Ihnen gut gehen. Uns wird es fortan gut gehen!« Er lachte leise.

Das Lachen verklang. Wir waren allein. Harst knotete meine Handgelenkschlingen auf; wir entfernten die Tücher von den Augen.

Der Mond schien. Vor uns das Meer; rechts von uns Häuser, ein Dorf scheinbar.

Nein, es war doch eine Stadt, die dänische Hafenstadt Esbjerg an der Westküste. Harst hatte genügend Geld bei sich. Wir fuhren sofort mit dem nächsten Zug nach Kopenhagen, setzten nach Malmö in Schweden über und reisten nach Christiania zurück, wo wir am sechsten Tag nach unserer Gefangennahme abends eintrafen. Am Hafen erfuhren wir von einem Lotsen, dass niemand hier etwas von dem Verschwinden zweier Berliner Herren wüsste.

»Liegt vielleicht eine kleine Privatjacht hier?«, fragte Harst weiter. »Sie heißt Optimus. Der Detektiv Harst war an Bord.«

»Bedauere. Hier ankert jetzt nur eine amerikanische große Motorjacht.«

Wir, die wir noch immer äußerlich Hecker und Schubert waren, schritten wieder der Stadt zu. Es war halb elf abends jetzt.

»Hm, ob der Optimus noch immer in seinem Versteck zwischen den Inseln auf uns wartet?«, fragte Harst. »Am besten, wir gehen zu Lundström.«