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Die drei Musketiere – Zwanzig Jahre danach – 4. – 6. Bändchen – Kapitel XII

Alexandre Dumas
Zwanzig Jahre danach
Viertes bis sechstes Bändchen
Fortsetzung der drei Musketiere
Nach dem Französischen von August Zoller
Verlag der Frankh’schen Buchhandlung. Stuttgart. 1845.

XII. Das Scharmützel

Der Aufenthalt in Royon war kurz. Jeder schlief daselbst einen guten Schlaf. Raoul hatte Befehl gegeben, ihn zu wecken, wenn Grimaud ankäme; aber Grimaud kam nicht.

Die Pferde wussten wohl ebenfalls die acht Stunden vollkommener Ruhe und die ausgezeichnete Streu zu schätzen, die ihnen vergönnt waren. Der Graf Guiche wurde um fünf Uhr von Raoul geweckt, der ihm einen Guten Morgen wünschte. Man frühstückte eilig und hatte um sechs Uhr bereits zwei Meilen zurückgelegt.

Die Unterhaltung des jungen Grafen war äußerst anziehend für Raoul. Raoul hörte viel und der junge Graf erzählte fortwährend. Er war in Paris erzogen, welches Raoul nur ein einziges Mal gesehen hatte, an einem Hof, den Raoul nie erblickt, und so bildeten seine Pagenstreiche und zwei Duelle, die er bereits trotz der Edikte und trotz seines Hofmeisters gefunden hatte, Dinge vom höchsten Interesse für Raoul. Raoul war nur bei Monsieur Starron gewesen; er nannte gleich die Personen, die er dort gesehen hatte. Guiche kannte jedermann: Frau von Neuillan, Fräulein Paulet, Fräulein von d’Aubigné, Fräulein von Scudery, Fräulein Paulet, Frau von Chevreuse. Er spottete über alle Welt mit Geist und Raoul dachte mit Zittern, er könnte auch über Frau von Chevreuse spotten, für die er eine wahre und tiefe Sympathie hegte; aber mag es Instinkt, mag es Vorliebe für die Herzogin von Chevreuse gewesen sein, er sagte alles möglich Gute von ihr. Die Freundschaft von Raoul verdoppelte sich durch diese Lobeserhebungen.

Dann kam der Artikel der Galanterien und Liebschaften. In dieser Beziehung hatte Bragelonne auch mehr zu hören, als zu sagen. Er hörte also und es kam ihm vor, als erblickte er durch zwei bis drei ziemlich durchsichtige Abenteuer, dass der Graf wie er im Grunde seines Herzens ein Geheimnis verbarg.

Von Guiche war, wie gesagt, am Hof erzogen worden und die Intrigen des ganzen Hofes waren ihm bekannt. Es war der Hof, von dem Raoul den Grafen de la Fère hatte sprechen hören; nur hatte derselbe seit der Zeit, wo ihn Athos selbst gesehen hatte, bedeutend die Gestalt verändert. Die ganze Erzählung des Grafen von Guiche war daher neu für seinen Reisegefährten. Spöttisch und witzig ließ der junge Graf alle Welt Revue passieren. Er erzählte von den ehemaligen Liebschaften von Frau von Longueville mit Coligny und dem Duell des Letzteren auf der Place Royale, welches für ihn ein so unseliges Ende nahm; von den neuen Liebschaften Frau von Longueville mit dem Prinzen von Marsillac, welcher so eifersüchtig war, wie man sagte, dass er alle Welt zu töten trachtete, sogar seinen Gewissensrat, den Abbé d’Herblay; von der Liebschaft des Prinzen von Wales mit Mademoiselle, die man später dir große Mademoiselle nannte und die seitdem durch ihre geheime Verheiratung mit Lauzun so berühmt geworden ist; die Königin selbst wurde nicht verschont und Mazarin bekam auch seinen Teil vom Spott.

Der Tag ging rasch wie eine Stunde vorüber, der Hofmeister des Grafen, ein Lebemann, ein Weltmann, ein Gelehrter bis unter die Zähne, wie sein Zögling sagte, erinnerte Raoul wiederholt an die tiefe Bildung und den geistreichen, beißenden Witz von Athos. Aber was die Anmut, die Zartheit und den Adel der äußeren Erscheinung betrifft, so konnte in dieser Beziehung niemand mit dem Grafen de la Fère verglichen werden.

Mehr geschont als am Tage zuvor, hielten die Pferde gegen vier Uhr abends in Arras an. Man näherte sich dem Kriegsschauplatz und beschloss, bis zum nächsten Tag in dieser Stadt zu bleiben, da Abteilungen von Spaniern zuweilen die Nacht benutzten, um Streifzüge bis an die Gegend von Arras zu machen.

Das französische Heer hielt sich von Pont-à-Marr bis Valenciennes. Man sagte, der Prinz selbst sei in Bethune.

Das feindliche Heer erstreckte sich von Cassel bis Courtray, und da es keine Art von Plünderungen und Gewalttaten gab, welche es nicht verübte, so verließen die armen Bewohner der Flecken ihre vereinzelten Wohnungen und suchten Zuflucht in den befestigten Städten, welche ihnen Schutz verhießen.

Man sprach von einer nahe bevorstehenden Schlacht, welche entscheidend werden sollte, während der Monsieur Prinz nur in Erwartung von Verstärkungen, die ihm zukommen sollten, manövriert hatte. Die jungen Leute freuten sich, gerade zu rechter Zeit anzukommen.

Sie speisten miteinander zu Nacht und schliefen in demselben Zimmer. Sie waren in dem Alter rascher Freundschaften. Es kam ihnen vor, als kannten sie sich seit ihrer Geburt und als wäre es ihnen unmöglich, sich je wieder zu verlassen.

Der Abend wurde zu Gesprächen über den Krieg benutzt; die Lakaien putzten die Waffen, die jungen Leute luden ihre Pistolen für den Fall eines Scharmützels, und sie erwachten in Verzweiflung, denn beide hatten geträumt, sie kämen zu spät, um an der Schlacht teilzunehmen.

Am Morgen verbreitete sich das Gerücht, der Prinz von Condé habe Bethune geräumt, um sich nach Carvin zurückzuziehen, jedoch nicht ohne eine Garnison in ersterer Stadt zu lassen. Da aber diese Nachricht nichts Bestimmtes ausdrückte, so beschlossen die jungen Leute, ihren Weg nach Bethune fortzusetzen, da es ihnen freistünde, wenn sie unterwegs bestimmte Kunde erhielten, schräg abzureiten und nach Carvin zu marschieren.

Der Hofmeister des Grafen von Guiche kannte das Land vollkommen. Er schlug daher vor, einen Weg zu wählen, welcher die Mitte zwischen der Straße nach Lens und der nach Bethune hielt, wobei man in Albain Erkundigungen einziehen sollte. Für Grimaud wurde eine Marschroute zurückgelassen.

Man brach um sieben Uhr morgens auf.

Von Guiche, welcher jung und begeistert war, sprach zu Raoul: »Wir sind drei Messieurs und drei Knechte; unsere Knechte sind gut bewaffnet und der Eurige scheint mir ein Starrkopf zu sein.«

»Ich habe ihn nie bei der Arbeit gesehen«, antwortete Raoul, »aber er ist ein Bretagner und das verspricht etwas.«

»Ja, ja«, versetzte von Guiche, »ich bin überzeugt, er würde bei Gelegenheit einen Musketenschuss tun. Ich, was mich betrifft, habe zwei sichere Männer, welche mit meinem Vater den Krieg machten. Wir bilden auf diese Art sechs schlagfertige Männer. Wenn wir eine kleine Truppe von Parteigängern, der unsrigen an Anzahl gleich oder sogar überlegen fänden, würden wir nicht angreifen, Raoul?«

»Holla! Ihr jungen Leute, holla!«, sprach der Hofmeister, sich in das Gespräch mischend. »Wie rasch geht Ihr doch? Gottes Blut! Und meine Instruktionen, Monsieur Graf? Vergesst Ihr, dass ich Befehl habe, Euch gesund und wohlbehalten zum Monsieur Prinzen zu führen? Seid Ihr einmal bei dem Heer, so mögt Ihr Euch töten lassen, wenn es Euch Vergnügen macht. Aber bis dahin erkläre ich Euch, dass ich in meiner Eigenschaft als Heerführer den Rückzug befehle und bei der ersten Feder, die ich erblicke, den Rücken wende.«

Bon Guiche und Raoul blickten sich lächelnd aus dem Augenwinkel an. Das Land wurde ziemlich bedeckt und man traf von Zeit zu Zeit kleine Truppen von Bauern, welche, ihr Vieh vor sich hertreibend und ihre kostbarsten Gegenstände in Karren führend oder auf den Armen tragend, sich zurückzogen.

Man kam ohne Zwischenfall nach Albain. Hier erkundigte man sich und erfuhr, der Monsieur Prinz habe sich wirklich von Bethune entfernt und halte sich zwischen Cambrin und Venthie auf. Man schlug nun, beständig eine Anweisung für Grimaud zurücklassend, einen Querweg ein, welcher in einer halben Stunde die kleine Truppe an das Ufer eines schmalen Baches führte, der sich in die Lys ergießt.

Das Land war reizend von smaragdgrünen Tälern durchschnitten. Von Zeit zu Zeit fand man kleine Gehölze, durch welche sich der Pfad zog, dem die Reiter folgten. Bei jedem von diesen Gehölzen ließ der Hofmeister aus Furcht vor einem Hinterhalt zwei Lakaien des Grafen an die Spitze reiten, welche so die Vorhut bildeten. Der Hofmeister selbst und die jungen Leute stellten das Armeekops vor, und Olivain, den Karabiner auf dem Knie, den Blick auf der Lauer, betrachtete sich als Nachhut.

Seit einiger Zeit erblickte man ein dichtes Gehölz am Horizont. Bis aus hundert Schritte zu demselben gelangt, traf Monsieur d’Arminges seine gewöhnlichen Vorsichtsmaßregeln und schickte die zwei Lakaien des Grafen voraus.

Die Lakaien verschwanden unter den Bäumen, die jungen Leute und der Hofmeister folgten lachend und plaudernd ungefähr auf hundert Schritte. Olivain hielt sich in gleicher Entfernung hinter diesen, als plötzlich fünf bis sechs Musketenschüsse erschollen. Der Hofmeister schrie Halt, die jungen Leute gehorchten und parierten ihre Pferde. In demselben Augenblick sah man die zwei Lakaien im Galopp zurückkehren.

Ungeduldig, die Ursache dieses Musketenfeuers zu erfahren, ritten die zwei jungen Leute den Lakaien entgegen. Der Hofmeister folgte ihnen.

»Seid Ihr angehalten worden?«, fragten lebhaft die jungen Leute.

»Nein«, antworteten die Lakaien, »wir sind sogar wahrscheinlich nicht gesehen worden. Die Flintenschüsse erschollen ungefähr hundert Schritte vor uns in dem dicksten Teil des Gehölzes, und wir sind zurückgekommen, um Befehl einzuholen.«

»Meine Meinung«, sprach Monsieur d’Arminges, »und im Falle der Not mein Wille ist, dass wir uns zurückziehen. Dieses Gehölz kann einen Hinterhalt verbergen.«

»Habt Ihr denn nichts gesehen?«, fragte der Graf einen Lakaien.

»Es kam mir vor, antwortete dieser, »als erblickte ich gelb gekleidete Reiter, welche zu dem Bett des Baches eilten.«

»So ist es«, sprach der Hofmeister, »wir sind in eine Abteilung von Spaniern gefallen. Zurück, Messieurs, zurück!«

Die jungen Leute beratschlagten aus dem Augenwinkel und in derselben Sekunde hörte man einen Pistolenschuss, worauf ein zwei- oder dreimaliges Hilferufen erfolgte.

Die zwei jungen Leute versicherten sich durch einen letzten Blick, dass jeder von ihnen geneigt war, nicht zurückzuweichen, und da der Hofmeister bereits sein Pferd umgedreht hatte, so ritten sie rasch vorwärts.

Raoul rief: »Herbei, Olivain!«

Der Graf von Guiche rief: »Herbei, Urbain und Blanchet!«

Ehe sich der Hofmeister von seinem Erstaunen erholt hatte, waren sie im Wald verschwunden.

Zu derselben Zeit, wo sie ihren Pferden die Sporen gaben, nahmen die jungen Leute die Pistole in die Faust.

Fünf Minuten danach waren sie an der Stelle, von welcher der Lärm gekommen zu sein schien. Dann ließen sie ihre Pferde langsam gehen und rückten vorsichtig vor.

»Still«, sagte von Guiche, »Reiter!«

»Ja, drei zu Pferde und drei, welche abgestiegen sind.«

»Was machen sie? Seht Ihr?«

»Ja, es scheint mir, sie durchsuchen einen Verwundeten oder Toten.«

»Das ist eine feige Mordtat«, sprach von Guiche.

»Es sind jedoch Soldaten«, versetzte Bragelonne.

»Wohl, aber Parteigänger, das heißt Straßenräuber.«

»Vorwärts!«, sagte Raoul.

»Marsch!«, sprach von Guiche.

»Messieurs!«, rief der arme Hofmeister, »Messieurs, in des Himmels Namen …!«

Aber die jungen Leute hörten nicht. Sie waren wetteifernd fortgesprengt, und das Geschrei des Hofmeisters harte keinen anderen Erfolg, als dass es die Spanier aufmerksam machte.

Die drei Parteigänger zu Pferde galoppierten sogleich den jungen Leuten entgegen, während die drei anderen die zwei Reisenden vollends plünderten, denn, der Gruppe näher kommend, bemerkten die jungen Leute, dass statt eines Körpers zwei ausgestreckt waren.

Auf zehn Schritte von den Spaniern schoss von Guiche zuerst und verfehlte seinen Mann. Der Spanier, welcher Raoul entgegen ritt, schoss ebenfalls, und Raoul fühlte am linken Arme einen Schmerz, einem Peitschenhieb ähnlich. Auf vier Schritte drückte Raoul ab und der Spanier streckte, mitten in die Brust getroffen, die Arme aus und fiel rücklings auf sein Pferd, welches sich umwandte und ihn forttrug.

In diesem Augenblick sah Raoul durch eine Wolke einen Musketenlauf auf sich richten. Er erinnerte sich des Rates von Athos und ließ durch eine Bewegung, rasch wie der Blitz, sein Ross sich bäumen; der Schuss ging los.

Das Pferd machte einen Seitensprung und stürzte, das Bein von Raoul unter sich drückend, nieder. Der Spanier warf sich, seine Muskete beim Lauf nehmend, um Raoul mit dem Kolben den Schädel einzuschlagen, vorwärts.

Unglücklicherweise konnte Raoul in seiner Lage weder den Degen aus der Scheide noch die Pistole aus dem Halfter ziehen. Er sah den Kolben über seinem Haupt schwingen und drückte unwillkürlich seine Augen zu, als Guiche mit einem Sprung zu dem Spanier gelangte und diesem die Pistole an die Kehle setzte.

»Ergebt Euch«, sagte er, »oder Ihr seid des Todes!«

Die Muskete entfiel den Händen des Soldaten, und dieser ergab sich in demselben Augenblick.

Guiche rief einen von seinen Lakaien, übergab ihm den Gefangenen zur Bewachung, mit dem Befehl, ihm den Hirnschädel zu zerschmettern, wenn er eine Bewegung zur Flucht machen würde, sprang von seinem Pferd und näherte sich Raoul.

»Meiner Treu, Monsieur!«, sagte Raoul lachend, obwohl seine Blässe die unvermeidliche Aufregung einer ersten Affäre verriet, »Ihr bezahlt Eure Schulden schnell und wolltet keine lange Verbindlichkeit gegen mich haben. Ohne Euch«, fügte er die Worte des Grafen wiederholend bei, »wäre ich tot, dreimal tot!«

»Mein Feind ließ mir, die Flucht ergreifend, die Möglichkeit, Euch zu Hilfe zu kommen«, antwortete von Guiche. »Aber seid Ihr ernstlich verwundet? Ich sehe Euch voll Blut.«

»Ich glaube«, erwiderte Raoul, »ich habe etwas wie eine Schramme am Arm. Helft mir, dass ich mich unter dem Pferd vorziehe, und ich hoffe, wir werden unsere Reise sogleich wieder fortsetzen können.«

Monsieur d’Arminges und Olivain waren bereits abgestiegen und versuchten das Pferd aufzuheben, welches sich im Todeskampf befand. Es gelang Raoul, seinen Fuß aus dem Steigbügel und sein Bein unter dem Pferd hervorzuziehen, und in einem Augenblick stand er aufrecht.

»Nichts gebrochen?«, fragte Guiche.

»Meiner Treu, dem Himmel sei Dank, nichts«, antwortete Raoul.

»Aber was ist aus den Unglücklichen geworden, welche die Elenden töteten?«

»Wer sind zu spät gekommen, sie haben die Armen, wie ich glaube, umgebracht und, ihre Beute mit sich schleppend, die Flucht ergriffen. Meine zwei Lakaien sind bei den Leichnamen.«

»Wir wollen sehen, ob sie tot sind oder ob man ihnen nicht vielleicht Hilfe leisten kann«, sprach Raoul. »Olivain, wir haben zwei Pferde geerbt, aber ich habe das meine verloren. Nimm das bessere von beiden für dich und gib mir das deine.«

Sie näherten sich dem Ort, wo die Opfer lagen.