Ausschreibung
Sternenlicht-Anthologie

Download-Tipp
Band 6

Heftroman der Woche

Archive
Folgt uns auch auf

Der Detektiv – Der Löwe von Flandern – Teil 1

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 20
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der Löwe von Flandern

Teil 1

»Hm«, meinte Harst und deutete auf einen kleinen Dampfer. »Er kommt drüben von Hollehne, jener kleinen Stadt an der Westseite des Fjords, deren dicken Kirchturm du mit bloßem Auge erkennen kannst. Und ich müsste mich sehr irren, wenn wir nicht sofort irgendeine wichtige Nachricht erhalten. Mit uns, einer Privatjacht, hat ein Lotsenfahrzeug hier an der Mündung des Fjords nichts mehr zu tun.«

Wir befanden uns auf dem Kajütdeck der kleinen Segeljacht Optimus, die nun durch ihren Hilfsmotor sich der nahen offenen See zutreiben ließ. Wir kamen von Christiania und wollten hinaus nach Island, wo wir auf ein Abenteuer ganz besonderer Art rechneten.

Wir wollten! Gewiss, das Abenteuer entging uns nicht, aber zunächst mussten wir nochmals nach Christiania zurück, des Löwen von Flandern wegen.

Der Lotsendampfer stoppte, winkte. Man reichte uns eine Depesche herüber. Sie war für Harst bestimmt.

Harald Harst, Jacht Optimus, unterwegs nach Förder-Leuchtturm. An Bord durch Lotsendampfer Hollehne abzugeben.

So die Adresse. Dann:

Bitte wenn irgend möglich zurück nach Christiania, da hier soeben holländische Brigg eingeschleppt worden ist, auf der ein Verbrechen verübt zu sein scheint. Die ganzen Umstände sehr rätselhaft. Dank im Voraus. Polizei-Inspektor Hijalmar Lundström.

»Na, habe ich nicht richtig prophezeit!«, meinte Harald. »Was meinst du, lieber Schraut, beißen wir an? Ich denke ja. Vielleicht lässt sich die Sache an einem Tag erledigen. Und Lundström ist ein so netter Mensch, dem ich gern einen Gefallen tue.«

Er rief zu dem Lotsendampfer zurück: »Telefonieren Sie an Inspektor Lundström, dass wir sofort wenden und in zwei Stunden wieder in Christiania sind.«

Der Dampfer schoss davon. Harst holte sein goldenes Zigarettenetui hervor und blies bald mit halb geschlossenen Augen schnell zerflatternde Rauchwölkchen in die Luft. Er lag ausgestreckt in dem flach gestellten Liegestuhl vor mir und schwieg minutenlang, blinzelte mir dann zu und sagte: »Die Brigg sah eigentlich gar nicht geheimnisvoll aus. Du hast sie auch bemerkt. Sie wurde gerade eine halbe Stunde vor unserer Abfahrt aus Christiania in den Westhafen Piperviken eingeschleppt und am Kai vertäut.«

»Bedaure, ich habe sie nicht bemerkt«, erklärte ich etwas kleinlaut.

»Soso. Und dabei gab es an ihr doch mancherlei zu sehen. Nichts Geheimnisvolles gerade. Nein, es ist ja wohl schon ein sehr alter Segler, aber der Anstrich machte ihn noch ganz stattlich. Der Name am Heck deutete nicht auf einen Holländer hin. Löwe von Flandern ist für ein Kauffahrerschiff auch beinahe zu drohend. Der Dampfer, der die Brigg einschleppte, war ein Fischdampfer! Cuxhaven 3 war am Bug zu lesen.«

»Du sprachst doch von mancherlei zu sehen, wenn ich recht gehört habe«, warf ich ein. »Bis jetzt hast du eigentlich nur das Alter, den Anstrich und den Namen erwähnt.«

»Weshalb hast du denn all das nicht auch bemerkt, mein Alter?«, fragte er und schüttelte wie missbilligend den Kopf. »Zuweilen begreife ich wirklich kaum, dass gerade ich meine Augen so ganz anders zu gebrauchen verstehe als die meisten Leute. Es ist doch zum Beispiel fraglos auffallend, wenn ein deutscher Fischdampfer ein Segelschiff, das keineswegs wrack ist, das eine tadellose Takelage hat und dessen Steuer ebenfalls in Ordnung ist, in einen norwegischen Hafen bringt. Mir jedenfalls fiel dies sofort auf. Und deshalb ließ ich meinen an sich ganz spannenden Roman sinken und schaute zu, wie der Löwe von Flandern am Bollwerk festgemacht wurde. Du saßest neben mir, aber du hattest mit Karl so eifrig den doch bereits abgetanen Fall des Gespensterwracks durchzusprechen, dass dir entging, wie zum Beispiel einer der Matrosen des Cuxhaven 3 sehr eilig in die Stadt lief. Da schon sagte ich mir: Hier ist etwas nicht so, wie es sein soll! Ebenso entging dir, dass die Leute des Fischdampfers sehr erregt auf die Brigg deuteten. Und schließlich …« Er hüstelte, fuhr dann fort: »Schließlich sah ich noch etwas sehr Merkwürdiges. Aber davon später.«

»Dann hättest du es lieber gar nicht andeuten sollen. Du machst es wie stets: Du reibst einem die geistige Blindheit unter die Nase, denn es handelt sich hier ja mehr um ein Sehen mit dem Verstand! Und behältst das Beste nachher für dich! Was war es denn, – lass mich nicht lange bitten.«

»Hm …« Pause. »Es war ein Mann.«

»Ein Mann? Was heißt dass …«

»Nun, ein bärtiger Mann in abgerissener Seemannstracht, der blitzschnell aus einem der Heckfenster der Brigg an einem Seil hinabkletterte, das Seil nach sich zog und die drei Meter bis zu dem nächsten Kohlenkahn unter Wasser schwamm, wieder auftauchte und sich schleunig hinter dem dreckigen Kohlenkahn verbarg. Er kam auch nicht mehr zum Vorschein, bis wir abfuhren. Wenn ich nicht so versessen auf Island und Palperlons Rebus gewesen wäre, hätte ich mir den Menschen gern genauer angesehen. Aber so …«

Meine bisherige Gleichgültigkeit gegenüber dem Löwen von Flandern war wie weggewischt.

»Du, das ist ja aber von allergrößter Wichtigkeit«, meinte ich eifrig. »Der Mann kann weiß Gott was auf dem Gewissen haben. Es wäre vielleicht richtiger gewesen, deine Beobachtung doch noch schnell der Polizei zu melden oder aber noch einfacher zu dem Kohlenkahn hinüberzufahren und den Kerl festzunehmen.«

»Stimmt! Und hätte ich es getan, dann hätten wir als Zeugen vielleicht noch stundenlang in Christiania bleiben müssen! Ich bin eben zu begierig darauf, was unser intelligenter Todfeind James Palperlon dort auf Island für ein Bubenstück ausgeheckt hat. Jetzt, wo Lundström um meine Unterstützung bittet, muss Palperlon freilich warten. Selbstverständlich verschweigst du dem Inspektor gegenüber diesen Matrosen, lieber Schraut. Du kennst mich ja: Ich gebe keine Trümpfe aus der Hand, spiele sie stets erst zum Schluss aus.«

Als wir dann kaum im Pipervilken wieder an der alten Stelle den Optimus vertäut hatten, kam auch schon der blonde Riese Lundström das Bollwerk entlang, stieg zu uns an Bord, schüttelte uns die Hände, setzte sich und begann: »Vielen Dank, Herr Harst, dass Sie so liebenswürdig waren und umgekehrt sind. Ich hätte nie gewagt, Sie in dieser Weise zu belästigen, wenn eben nicht auf der Brigg sich sehr seltsame Dinge abgespielt hätten.«

»Was denn?«, fragte Harst, dem nichts unangenehmer war als Weitschweifigkeit.

»Der Fischdampfer begegnete 330 Seemeilen südwestlich der Fjordmündung einem Segler, der mit halb gerefftem Zeug (Segel) bei dem schwachen Wind dahintreibt. Die Leute des Cuxhaven 3 wären nun nie auf diese Brigg besonders aufmerksam geworden, wenn nicht einer der deutschen Matrosen gerade ein Glas bei der Hand gehabt und damit festgestellt hätte, dass an Deck der Brigg kein lebendes Wesen zu sehen war. Nur deshalb näherten sie sich ihr, setzten ein Boot aus und fuhren hinüber, kletterten an Bord, riefen, brüllten, alles umsonst! Kein Rattenschwanz zeigte sich. Sie durchsuchten das ganze Schiff mehrmals, aber es war kein Mensch dort zu finden. Nur in der Kajüte des Kapitäns, der nach den Schiffspapieren Pieter Planboom heißen musste, bemerkten sie etwas, das ihnen zu denken gab: Der Schreibtisch war gewaltsam eaufgebrochen, der Inhalt der Fächer auf dem Boden verstreut und mit Blut besudelt. Blutspritzer auf den Papieren, den Büchern, dem Teppich. Ein blutiger Dolch lag auf dem Tisch mitten auf einer aufgeschlagenen deutschen Ausgabe von Heinrich Heines Gedichten. Der Kapitän des Cuxhaven namens Hollborn hat dann selbst nochmals aufs Allergenaueste die Brigg von oben bis unten durchstöbert. Aber der Erfolg blieb derselbe: Kein Mensch war an Bord; das Steuer war festgebunden, und in der Kombüse bewies ein bereits sauer gewordenes, auf dem Herd halb gar gekochtes Erbsengericht, dass die Besatzung des Löwen von Flandern kurz vor dem Mittagessen vor etlichen Tagen schon das Schiff verlassen haben musste. Da nun aber die beiden Boote der Brigg noch vorhanden sind, so ist es geradezu unbegreiflich, wo die sechs Mann geblieben sein könnten.«

»Woher kam die Brigg?«, fragte Harst, der nun mit völlig geschlossenen Augen halb aufrecht in seinem Liegestuhl saß.

»Aus Colombo auf Ceylon mit Bananen für Christiania. Deshalb hat der Fischdampfer den Löwen von Flandern auch hier eingeschleppt. Die Ladung ist für die hiesige Firma Knudsen & Kompagnie bestimmt. Nach den Schiffspapieren bestand die Besatzung aus dem Kapitän Pieter Planboom, einem Amsterdamer, dem Steuermann Rouvier, einem Franzosen, und vier indischen Matrosen. Die Brigg ist Eigentum des Kapitäns Planboom.

So, das wäre alles, Herr Harst. Vielleicht kommen Sie nun mal mit hinüber auf den Segler. Ich habe in der Kajüte alles so belassen, wie es war.«

Harst hob nun, sehr zu meinem Erstaunen, wie bedauernd die Schultern und erwiderte: »Auch ich werde in diesem Fall nichts ausrichten können, bester Lundström. Ich bin in seemännischen Dingen fast gänzlich Laie. Für dieses Geheimnis, denn das liegt ja bestimmt vor, gehört ein Fachmann. Ich habe nun zufällig gestern Abend hier in Christiania einen Berliner Kollegen getroffen, einen Berufsdetektiv namens Hecker.«

Er log fraglos. Was sollte dies?

»Dieser Hecker ist heute nach Frederikstadt gefahren, kommt jedoch abends zurück. Sie treffen ihn sehr wahrscheinlich noch nach neun Uhr in der deutschen Bierstube in der Karl Johans Gade (Straße) an. Ich rate Ihnen dringend, Hecker zu bitten, Ihnen beizustehen. Er ist Fachmann für alles, was die Seefahrt angeht. Sie erkennen ihn leicht an dem rötlichen Spitzbart und der Hornbrille. Wo er hier in Christiania wohnt, weiß ich nicht. Er dürfte seinen Freund Schubert noch bei sich haben, einen Berliner Rechtsanwalt. Wie gesagt: Ich kann Ihnen wirklich hier kaum nützen. Also entschuldigen Sie schon, wenn ich mich wieder empfehle. Sie wissen, ich will noch nach London und dann nach Hause.«

Lundström erhob sich sofort. Er war offenbar etwas verletzt, weil Harst ihn jetzt plötzlich doch im Stich ließ. Der Abschied war kühl und förmlich.

Unsere Jacht steuerte dann abermals den Fjord entlang. Es war nun gegen halb sechs und es dunkelte bereits.

Harst war gleich nach dem Weggang Lundströms im Wohnsalon verschwunden, ohne mir irgendeine Erklärung für sein merkwürdiges Benehmen zu geben. Ich stand nun mit dem Besitzer der von uns nur gemieteten Jacht, dem alten Kapitän Tiessen, mit unserem jungen Freund Karl Malke und mit unserem Matrosen und Koch Pedersen am Heck neben der Treppe in den kleinen Maschinenraum, hinter dem auch das Steuerrad sich befand, das Tiessen bediente.

Ich hatte unseren Gefährten soeben mitgeteilt, weshalb Harst diesen Fall abgelehnt hätte, und Tiessen hatte soeben gebrummt: »Unsinn, Harst versteht von seemännischen Dingen nicht viel weniger als ich!«

Da öffnete Harst die vertiefte Tür des Kajütaufbaus und rief uns zu: »Es geht wohl über mein Fell her? Na, beruhigt euch nur! Detektiv Hecker ist schon an Bord des Optimus

Und nun erst gewahrten wir, als er einen Schritt vor trat, dass es nicht mehr der bartlose Harald Harst, sondern ein bärtiger, Brille tragender Mann war, der sich diesen Scherz leistete.

Und da ging mir ein Licht auf!

»Du willst dem Löwen von Flandern also in einer Verkleidung sein Geheimnis entreißen?«, fragte ich lachend. »Du wirst Hecker spielen, und ich soll den Rechtsanwalt Schubert mimen!«

»Allerdings! Denn, als Harst in Christiania auftreten, hieße von vornherein die Sache erschweren. Falls die Zusammenhänge dieser dunklen Geschichte des Löwen von Flandern so sind, wie ich vermute, hätten gewisse Leute in Christiania Vorsorge getroffen, dass ich überall auf Schwierigkeiten stieße. Hecker dagegen werden Sie nur halb so sehr fürchten und sich daher weniger in Acht nehmen. Halbe Kraft nur noch, Pedersen, halbe Kraft! Wir werden drüben zwischen den Inseln für unseren Optimus ein Versteck suchen, werden den Mast entfernen und die Jacht überhaupt möglichst unkenntlich machen. Sobald es dunkel ist, bringt Pedersen uns im Beiboot in die Stadt zurück.«

Fortsetzung folgt …

 

Eine Antwort auf Der Detektiv – Der Löwe von Flandern – Teil 1

  • W. Brandt sagt:

    Und weiter geht es mit dem Band 20 der Reihe um Harald Harst und Max Schraut.

    Die E-Books zu Band 17, 18 und 19 sind in Arbeit und werden in Bälde im Download-Bereich zur Verfügung stehen.