Neue Gespenster – 8. Erzählung
Samuel Christoph Wagener
Neue Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit
Erster Teil
Achte Erzählung
Herr Bitter in Westfalen erscheint zu gleicher Zeit zu Halle im Magdeburgischen.
Als ich in Halle studiere, pflegte ich um die Zeit der Ankunft der Berliner Post zum Postamt zu gehen, um die Briefe meiner lieben Freunde sogleich in Empfang zu nehmen. In dieser Absicht ging ich denn auch eines Abends im Jahr 1770 um Weihnachten dorthin und traf die Berliner Post, die gerade angekommen war, schon an.
Das Wetter war sehr unangenehm. Ich beschloss daher, bei meinem in der Nähe der Post wohnenden akademischen Freund, dem jetzigen Geheimen Oberacciserat zu Posen, Herrn Martins, so lange zu verweilen, bis man die Briefe ausgeben würde.
Als ich in das Zimmer des gedachten Freundes eintrat, fand ich eine kleine Gesellschaft vor; aber wie sehr stutzte ich, als ich ganz in meiner Nähe einen meiner Bekannten, Namens Bitter, vor mir erblickte, ungeachtet derselbe kurz vorher absolviert, von seinen Freunden Abschied genommen hatte und nach seiner sehr entfernten Vaterstadt in Westfalen abgegangen war, auch seitdem von dort aus bereits Nachricht von seiner glücklichen Ankunft gegeben hatte. Schon wollte ich auf ihn zu eilen und ihm meine Verwunderung über seine unerwartete Rückkehr nach Halle bezeugen, als die ganze Gesellschaft sich um mich her versammelte, um mich zu bewillkommnen.
Meine erste Frage war nun, wo Freund Bitter herkäme. Allein wie wurde ich bedrängt, als die ganze Gesellschaft mich dieser Frage wegen mit großen verwunderungsvollen Augen ansah und auf das Feierlichste versicherte, dass Bitter, wie ich ja wissen müsste, schon seit acht Wochen nicht mehr in Halle wäre; wobei man denn nicht unterließ, mich an die kleinsten Umstände seiner mir bekannten Abreise und an die Nachricht zu erinnern, welche er von seiner glücklichen Ankunft in Westfalen bereits gegeben hätte. Ich weiß nicht mehr, was ich, im hohen Grade überrascht, hierauf erwiderte. Indessen machte man mir bemerklich, dass, im Fall Bitter sich tatsächlich in der Gesellschaft befände, doch kein vernünftiger Grund vorhanden sei, mir, seinem Freund, seine Gegenwart abzuleugnen. Zugleich überließ man es mir, ihn überall im Zimmer zu suchen. Ich sah umher, und wirklich war er verschwunden, ohne dass ich mir auch nur die Möglichkeit eines so schnellen Verschwindens denken konnte.
Ich hätte darauf wetten wollen, Freund Bitter gesehen zu haben; und doch fanden meine Augen ihn nirgends. Ich befand mich in der unangenehmsten Lage des menschlichen Lebens, denn ich glaubte, mich auf meine Sinne nicht mehr verlassen zu können. Dies beunruhigte mich sehr. Ich eilte, unter dem Vorwand, meine Briefe in Empfang nehmen zu wollen, die Gesellschaft zu verlassen.
Kaum war ich allein, als ich über diese Begebenheit die ernsthaftesten Betrachtungen anstellte. Weder die Grundsätze meiner Erziehung noch eigenes Nachdenken erlaubten mir, an übernatürliche Erscheinungen zu glauben. Und doch war ich weder imstande, mir diesen Vorfall natürlich zu erklären, noch konnte ich mir irgendeinen vernünftigen Grund denken, weshalb man mir den anwesenden Bitter so geflissentlich verleugnen oder durch irgendein Gaukelspiel unsichtbar gemacht haben sollte. Mir blieb daher nichts übrig, als diese Erscheinung einer Täuschung meiner Einbildungskraft, deren große Lebhaftigkeit mir ohnehin bekannt war, zuzuschreiben. Allein diese mir so natürlich scheinende Auflösung des Rätsels versetzte mich – ich wiederhole es – in die schrecklichste Unruhe.
»So bist du also«, sagte ich zu mir selbst, »auf dem geraden Weg zur Verrücktheit! Wenn deine Einbildungskraft dir öfter einen solchen Streich spielt, und warum sollte sie nicht wiederholen können, was sie einmal tat? So wirst du, bei richtigem Verstand, die Rolle eines Wahnsinnigen spielen und es kaum wagen dürfen, jemand anzureden, aus der gesünderen Besorgnis, der Angeredete könne ein Spiel deiner lebhaften Einbildungskraft sein.«
Unter diesen traurigen Betrachtungen brachte ich einen Teil des folgenden Tages zu, zweifelhaft, ob dass, was ich sähe, Traum oder Wirklichkeit sei.
Nun besuchte mich mein Freund Martins. Ich entdeckte ihm meine traurige Lage. Gerührt von meiner bangen Besorgnis, eilte dieser, mir das Rätsel sogleich auf folgende Art zu lösen: Er versicherte zu meinem Trost, dass ich mich keineswegs geirrt habe, als ich Bitter vor mir zu sehen geglaubt hätte, denn er wäre es allerdings leibhaftig gewesen. Nach dem Willen seines Vaters habe er noch ein Jahr in Leipzig studieren sollen. Da es aber verboten wäre, fremde Universitäten zu besuchen, so habe er es nicht gewagt, dieses seinen Bekannten und Freunden zu sagen. Nur seine Hausgenossen und vertrautesten Freunde habe er von dem Plan seines Vaters unterrichtet. Nur diese hätten gewusst, dass er nicht nach Hause, sondern nach Leipzig gegangen wäre. Als ich ihn getroffen hätte, habe er die Messferien benutzen und seine vertrauteren Freunde auf einige Tage besuchen wollen. Man habe sich bei meinem Eintritt ins Zimmer verabredetermaßen dicht um mich herum gestellt, um dem Freund, der nicht erkannt sein wollte, Gelegenheit zu verschaffen, unbemerkt durch eine Seitentür zu entwischen. Übrigens sei die absichtlich allgemein verbreitete Sage, als habe er bereits aus seiner Vaterstadt geschrieben, nichts als eine gutgemeinte Dichtung seiner Freunde.
So unbedeutend dieser Studenteneinfall an sich auch immer sein mag, so möchte er doch einer sehr erbaulichen Nutzanwendung fähig sein. Lassen Sie uns zum Beispiel den Fall annehmen, Freund Martins so wenig als die Übrigen, welche um das Geheimnis wussten, hätten Beruf gefunden, mir das Rätsel zu lösen. Wer hätte mir dann je die vermeintlich wohlbegründete, aus sinnlicher Wahrnehmung entstandene Überzeugung entreißen wollen, dass Freund Bitter zu den Wundermännern gehöre, deren anschauliche Erscheinung an zwei Orten zugleich Tatsache sei. Wem würde es gelungen sein, in meiner Seele die letzte Spur des Gedankens zu verwischen, als besäße ich das traurige Talent, einen Menschen, der weit entfernt von mir lebt, auch zugleich in der Gegenwart sinnlich anschauen zu können.
Wie mancher mag ähnliche sinnliche Wahrnehmungen gemacht, körperliche Wundererscheinungen gehabt haben und nicht so glücklich gewesen sein, von der Natur der obwaltenden Täuschung so wie ich überzeugt zu werden!