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Aus dem Wigwam – Der Himmel der Delawaren

Karl Knortz
Aus dem Wigwam
Uralte und neue Märchen und Sagen der nordamerikanischen Indianer
Otto Spamer Verlag. Leipzig. 1880

Vierzig Sagen
Mitgeteilt von Chingorikhoor

Der Himmel der Delawaren

ie Delawaren, welche die Stammväter aller anderen Nationen sind, glauben, dass sich hinter dem Himmel die Wohnung der Geister befände und der Weg dahin über einen schrecklichen Felsen, auf welchem sich das Firma­ment mit donnerähnlichem Getöse hin und her bewege, führe. Aber wie wissen sie das, werdet ihr fragen. Ich will es euch sagen.

Einst waren in dem Stamm der Unami oder Schildkröten, der mächtigsten Familie der Delawaren, zwei brave Krieger, die nichts mehr fürchteten als Verachtung und Schande. Der eine davon liebte ein schönes Mädchen desselben Stammes und wurde von ihr wieder geliebt. Diese äußerte eines Tages den Wunsch, doch Nachricht von ihrer verstorbenen Schwester zu haben, und ob dieselbe auch den Vogel, der an ihrem Begräbnistag tot auf ihren Leichnam gefallen war, mit süßen Beeren füttere.

Der andere Krieger hatte seine zärtlich geliebte Mutter verloren und wollte einmal gern mit eigenen Augen sehen, wie man sie im Paradies behandele und ob man ihr dort nicht zu schwere Lasten auflade. Beide beschlossen also, trotz mehrfacher Warnungen, die Reise zum Land der Seelen zu wagen.

Nachdem sie einige Monde lang gewandert waren, kamen sie an einen mächtigen Felsen, auf dem sich der Himmel beständig hin und her bewegte. Die Winde brausten mit furchtbarer Wut und nahmen allerlei schöne und hässliche Gestalten an. Die Sterne, die doch sanft wie festgebunden scheinen, bewegten sich gleich einem Kanu auf der hochgehenden See tanzend in der Luft, aber die beiden gingen mutig weiter und erreichten glücklich das ersehnte Land.

Es war ein wundervolles Land. Der Himmel war beständig wolkenlos und auf der Erde herrschte ein ewiger Frühling. Die Wälder waren voller Hirsche und Büffel und die Flüsse voll großer Fische, die mit der größten Leichtigkeit gefangen werden konnten. So erzählten sie, aber ein anderer Stamm der Delawaren glaubt, dass das Paradies in einer ganz anderen Gegend des Himmels liegt, und dass die Reise dahin nicht mit so großen Schwierigkeiten verknüpft ist. Zwei furchtlose und kluge Jäger, so erzählen die Unalachta, welche alle Gebote des Großen Geistes treu erfüllt hatten, wünschten einst zu sterben, um die Wohnung der abgeschiedenen Seelen, von der ihnen so viel erzählt worden war, mit eigenen Augen zu sehen, und um sich selbst zu überzeugen, ob es dort keine Krieg, keinen Hunger und keine Kälte gäbe.

»Herr des glücklichen Landes«, sprachen sie zu dem Meister des Lebens, »es ist nicht nötig, dass wir dir unsere Wünsche mitteilen, denn du bist allwissend und kennst sie bereits. Gewähre uns also unsere Bitte und lass uns auf kurze Zeit durch den Tod in die Freuden des zukünftigen Lebens eingehen.«

Sie baten ihn nicht umsonst.

Ihre Geister waren so leicht, dass sie den dünnsten Grashalm, über den sie schritten, nicht bewegten, und dass sie auf den Sonnenstrahlen hinauf zum Weg der Seelen, der Milchstraße, klettern konnten. Unzählige Geister von allen denkbaren Farben sahen sie dort und reisten mit ihnen weiter, bis sie in eine große Stadt kamen, die von einer hohen Mauer umgeben war. Innerhalb dieser Mauer, welche die schönsten Felder, Wälder und Flüsse einschloss, wohnten die Seelen der guten Männer, und außerhalb schwebten gleich hungrigen Habichten die Geister der Bösen. Häufig versuchten dieselben sich in das glückliche Land zu stehlen, aber der Meister des Lebens hielt sorgsam Wacht und trieb sie jedes Mal mit unbarmherziger Hand zurück.

Der Wohnplatz der Seligen enthielt alle guten Sachen, die sich nur jemand wünschen konnte. Die Flüsse enthielten die schmackhaftesten Fische; unabsehbare Scharen großer Seevögel verdunkelten die Seen, und Büffel und Rehe waren der Schnelligkeit der Geister gegenüber so gut wie lahm.

Als sie sich dort ungefähr drei Sommer aufgehalten hatten, befahl ihnen der Große Geist, wieder zurückzukehren und auf der Erde ihren Pflichten nachzukommen, wenn sie späterhin die glückliche Stadt bewohnen wollten. Danach belebte er ihre Körper wieder, und sie traten die Heimreise an. Sie lebten noch viele Jahre. Als endlich die Tage kamen, an denen sie den Bogen ihrer Jugend nicht mehr zu spannen vermochten, rief sie der Meister des Lebens zum Glück des Jenseits ab.