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Das Seegespenst

Das Seegespenst
Eine Erzählung von Robert Kraft
Aus: Das Buch für alle. Illustrierte Familienzeitung. Chronik der Gegenwart. 45.Jahrgang. 1910

Ich kam von langer Reise, die ich als Zweiter Steuermann gemacht hatte, nach Hamburg zurück. Das ganze Schiff wurde abgemustert. Ich ließ mich auf dem Seemannsamt als heuersuchender Offizier einschreiben und fuhr inzwischen in die ferne Heimat. Freilich hatte ich wenig Aussicht, auf diese Weise eine neue Heuer zu bekommen.

Schon nach wenigen Tagen aber erhielt ich ein Telegramm, das mich nicht wenig in Erstaunen versetzte: »Willst du als Erster bei mir fahren? Sofort her! Paul Müller, Kapitän der Portland, Liverpool. Zurzeit Hamburg.«

Ich war sprachlos. Mein Freund Paul Kapitän eines englischen Dampfers? Und zwar, wie mir das mitgenommene Schiffsregister sagte, eines von sechstausend Tonnen?

Wir waren zusammen als Schiffsjungen und als Matrosen gefahren, sechs Jahre lang, hatten zusammen die Steuermannschule besucht, dann erst waren wir getrennt worden. Mir gelang es, auf einem Segler als Zweiter Offizier anzukommen, und als ich zwei Jahre später wieder etwas von Paul hörte, war er zuletzt noch immer als Matrose gefahren. Wie viele haben das Steuermannspatent in der Tasche und müssen noch als Matrose vor dem Mast fahren! Ich hatte unterdessen auch schon mein Kapitänsexamen gemacht und war immer wieder froh, wenn ich als Zweiter Steuermann ankam.

Fünf Jahre waren seit unserer Trennung verflossen. Vor zwei Jahren also war Paul noch Matrose gewesen. Seitdem hatte ich nichts wieder von ihm gehört. Und jetzt war er Kapitän eines großen englischen Dampfers? Der hatte höllisch fix vorwärts gemacht!

Ich fuhr sofort nach Hamburg. Es war richtig mein alter Freund Paul. Erst siebenundzwanzig Jahre alt, aber ein ganzer Mann. Vor drei Jahren war es ihm gelungen, zum ersten Mal eine Stelle als Zweiter Steuermann zu bekommen. Auf einem englischen Dampfer war es. Der Kapitän war Mitbesitzer des Schiffes, ja der ganzen Reederei, die gar viele Schiffe fahren ließ. Und er wurde auf seinen Fahrten beständig von seiner Tochter begleitet, die sogar an Bord geboren und erzogen worden war.

Dieses Mädchen verliebte sich in den deutschen Steuermann. Nach der Rückkehr in Liverpool wurde gleich Hochzeit gemacht. Die Heirat durfte an ihrem Leben nichts ändern. Das Schiff sollte ihre Heimat bleiben, sie wollte, wie bisher ihren Vater, nun ihren Mann begleiten.

Aber ihr Gatte sollte nicht unter anderem Kommando stehen. Die inzwischen mündig gewordene Eveline hatte, da sie durch die verstorbene Mutter Mitbesitzerin der Reederei geworden war, auch ein gar gewichtiges Wort zu sagen. Ihr Mann sollte Kapitän werden. Zwar hatte er hierfür noch nicht die genügende Fahrzeit als Steuermann, aber das ließ sich schon machen.

So war es gekommen, dass Paul im Handumdrehen Kapitän geworden war. Und er bewährte sich. Man hätte gar nicht erst den Versuch mit einem kleinen Dampfer zu machen brauchen. Ob groß oder klein, das ist ja überhaupt ganz gleich. Mancher Küstenschiffer hat mehr im kleinen Finger als mancher Offizier des größten Passagierdampfers im Kopf.

Diese ideale Ehe, die im buchstäblichsten Sinne des Wortes Mann und Weib in Sonnenschein und Regensturm, in Freud und Leid vereinte, sollte leider nicht lange währen.

»Nur ein Jahr dauerte sie«, jagte Paul finster. »Sie fand ihren Tod …«

»Ihren Tod gefunden?«, wiederholte ich erstaunt.

»Eine Sturzsee wusch sie über Bord auf der Höhe von Trinidad.«

Mehr erfuhr ich nicht. Wir hatten es auch sehr eilig. Der Erste Steuermann hatte den Arm gebrochen. Ich kam an seine Stelle, hatte bei der Übernahme der letzten Fracht alle Hände voll zu tun und alle Gedanken zusammenzunehmen.

Wir fuhren nach Lissabon. Während der achttägigen Fahrt kam es zu keiner weiteren Aussprache. Zwischen dem Kapitän und der ganzen übrigen Besatzung, die Offiziere mit einbegriffen, ist ja überhaupt eine unübersteigbare Schranke gezogen. Der Kapitän auch des kleinsten Schiffes nimmt eine gesonderte Stellung ein wie der Kaiser von Japan in seinem Reich. Er isst allein, hält sich auch sonst immer allein. Jede vertrauliche Annäherung zwischen Kapitän und Steuermann ist an Bord des Schiffes vollkommen ausgeschlossen.

Nun allerdings kann es ja, wie überall, auch hier einmal eine Ausnahme geben. Nur nicht im Dienst. Aber wenn ich von der Freiwache war, hätte der Kapitän mich schon einmal in die Kajüte rufen können, um ein Stündchen freundschaftlich mit mir zu plaudern. Doch hierzu war keine Zeit. Wenigstens der Kapitän hatte sie nicht. Immer schlechtes Wetter, immer Nebel, dabei die auf eigene Rechnung gehende Fracht sehr gefährlich – Düngersalze! Deshalb war er nur schwach versichert, sonst wäre kein Verdienst dabei gewesen. Beim kleinsten Leck wäre das Schiff wie ein vollgesaugter Schwamm weggesackt. Paul kam nicht von der Kommandobrücke, nicht aus den Stiefeln, schlief nur am Tage wenige Stunden im Kartenhaus auf dem Sofa. Nein, da war keine Zeit zu Privatunterhaltungen.

Glücklich erreichten wir Lissabon. Noch vor dem Einlaufen in den Hafen brachte ein Dampfboot den kaufmännischen Vertreter der Reederei an Bord, der neue Dispositionen gab. Die Fracht sollte nicht in Lissabon gelöscht werden, sondern aus irgendeinem Grund in Collare, an der Westküste der großen Landzunge gelegen, welche die Bucht von Lissabon einschließt.

Wir dampften in wenigen Stunden hin. Der kleine Hafen konnte uns wohl aufnehmen, aber nicht sogleich, denn die Einfahrt ist sehr ungünstig, für tiefgehende Schiffe viel zu seicht. Wir mussten die Flut abwarten, die erst in vier Stunden eintrat.

So gingen wir auf Reede vor Anker. Als das Manöver unter meinem Kommando beendet war, ging Paul selbst noch einmal zur Back, wo die Ankerkette ausgesteckt war, und blickte über die Bordwand.

Mit einem Mal fuhr er zurück, und ich sah, wie sein Gesicht ganz blass wurde.

»Mein Trauring! Und heute ist Evelines Todestag!«

Der Goldreif war ihm, als er die Hand über Bord gehalten, vom Finger gefallen. Er mochte schon immer lose gesessen haben, und während der letzten so aufreibenden Tage war Paul wirklich ganz merklich abgemagert.

Also heute vor einem Jahr war seine unglückliche Gattin über Bord gespült worden. Merkwürdiger Zufall!

»Klar den Taucherapparat!«, sagte Paul ganz ruhig und ging in die Kajüte, um sich darauf vorzubereiten. Er wollte selbst tauchen. Er musste es wohl gelernt haben. Denn gelernt will das sein. Das weiß jeder, der es einmal probiert hat. Ich habe mich des Spaßes halber einmal in dem Gummianzug stecken und mir den Helm aufschrauben lassen, bin aber nur bis in eine Tiefe von vier Meter gekommen. Da hatte ich schon genug. Das Sausen in den Ohren wurde zu grässlich. Und hier betrug die Tiefe vierzehn Meter. Einen Menschen, der noch nie getaucht hat, in solch eine Tiefe hinabzuschicken, so einfach sonst auch alles ist, ist eine Unmöglichkeit. Ganz langsam nach und nach muss man sich an den Wasserdruck gewöhnen, der das furchtbare Ohrensausen erzeugt.

Unten musste der Ring leicht zu finden sein. Es war fester, weißer Muschelkalkboden, der Ring musste gleich neben dem Anker liegen, dessen Kette bei dem jetzt herrschenden Stauwasser fast lotrecht hinablief.

Die Taucherpumpe und alles, was dazu gehörte, wurde an Deck gebracht. Dabei stellte es sich so im Gespräch heraus, dass noch kein Einziger der ganzen Mannschaft getaucht hatte. Es war eine in Liverpool neu angemusterte Besatzung. Einige wussten wohl, dass des Kapitäns junge Gattin voriges Jahr über Bord gespült worden war, aber sonst auch nichts weiter, so wenig wie ich.

Der Kapitän kam, brachte alles in Ordnung und instruierte uns über die Handhabung der Pumpe. Alles Übrige war einfach genug. Wenn der Himmel es nicht anders wollte, konnte trotz unserer sonstigen Unkenntnis gar nichts passieren. Auch ein Telefon war vorhanden, sodass die Signalleine ganz überflüssig gewesen wäre. Die Lampe wurde elektrisch gespeist. Wir hatten zur Beleuchtung des ganzen Schiffes eine Dynamomaschine, die Akkumulatoren lieferten noch genug Strom.

Erst wurde eine Prüfung außerhalb des Wassers vorgenommen. Alles funktionierte tadellos. Dann ging der Kapitän mit ausgeschraubtem Helm am Fallreep hinab, langsam sahen wir ihn untersinken, bis er in etwa drei Meter Tiefe unseren Blicken entschwunden war.

Zehn, elf, zwölf Meter wurden von Schlauch und Sicherheitsleine ausgesteckt. Nun musste er unten sein, und das den Druck anzeigende Manometer sagte dasselbe.

»Noch etwas nachgeben!«, meldete das Telefon.

Wir gaben noch einen Meter Schlauch und Leine nach.

Fünf Minuten vergingen. Regelmäßig hoben und senkten sich die Pumpenschwengel.

»Auf – auf!«, schrie es da mit heiserer Stimme aus dem Telefon, und zugleich wurde der Schlauch denn ihn haltenden Matrosen fast aus der Hand gerissen.

Schnell holten wir die Sicherheitsleine ein, aber noch schneller arbeitete sich der Taucher Hand über Hand an dem Schlauch empor. Mit auffallender Hast griff der Kapitän nach den Sprossen des Fallreeps, konnte nicht schnell genug die bleibeschwerten Füße darauf setzen, glitt ab, stürzte noch einmal ins Wasser, dann benahm er sich noch kopfloser. Kurz, wir sahen sofort, dass ihm etwas passiert war. Entweder unten auf dem Meeresboden oder im Inneren des Helmes war etwas nicht in Ordnung. Vielleicht bekam er keine Luft, wenn auch bei uns hier oben alles richtig funktionierte.

Das Abschrauben des Helmes erschwerte er uns dadurch, weil er ihn sich vom Kopf reißen wollte, als ob das möglich gewesen wäre.

Endlich kam sein Gesicht zum Vorschein – ein fahles, vor Todesangst ganz verzerrtes Gesicht.

»Um Gottes willen, Kapitän, was ist Euch?«

Er gab keine Aufklärung, es war auch töricht, sie nun von ihm zu verlangen. Er stürzte davon, soweit ihm die schweren Bleisohlen ein Gehen erlaubten, glitt aus, schlug hin, raffte sich auf und verschwand in der Kajüte.

Ich lief ihm nach.

»Hinaus, hinaus, lasst mich allein!«

Ich musste gehorchen.

Zehn Minuten später wurde ich vom Steward in die Kajüte gerufen. Paul hatte sich unterdessen des Taucheranzugs vollends entledigt, stürzte soeben ein großes Glas Selters mit Kognak hinab. Sein Gesicht war nicht mehr so verzerrt, aber noch fahl genug.

»Robert, ich muss mit einem Menschen sprechen. Glaubst du – an Gespenster? Glaubst du, dass Tote wiederkommen?«

Er stieß es hervor, noch immer in furchtbarer Aufregung.

»Nein!«, entgegnete ich mit größter Bestimmtheit.

»Ich ja auch nicht. Und doch ich habe sie gesehen, dort unten, Eveline, meine Frau. Und sie winkte mir – winkte mir!«

Er setzte sich an den Tisch und starrte finster vor sich hin.

Dann beherrschte er sich und erzählte ganz ruhig.

Unten angekommen, hatte er eben in der Nähe des Ankers den Meeresboden abgeleuchtet. Der Blendstrahl drang etwa drei Meter durchs Wasser. Er konnte den Ring nicht erblicken.

»Ich war einmal niedergekniet, richtete mich wieder auf, drehte mich um, und da sehe ich drei Meter von mir entfernt eine Frau stehen, von einem grünen Schleier umflossen, so wie sich auch Eveline immer zu kleiden liebte, wenn sie zu ihrem Vergnügen eine Nixe darstellte, was sie öfters zu tun pflegte. Aber auch ihre Haare, die im Wasser hin und her schweben, sind jetzt ganz grün. So steht sie aufrecht da und es ist Eveline, wie sie leibt und lebt. Ich erkenne jeden Zug in ihrem weißen Gesicht, und sie winkt mir mit der erhobenen Hand, winkt mir …«

Wenn er daran glaubte, so war seine wieder ausbrechende furchtbare Aufregung begreiflich.

Ich blieb möglichst kühl. »Wie lange hast du sie beobachtet?«

»Ich weiß nicht.«

»Und dann verschwand sie?«

»Dann schrie ich ins Telefon, floh nach oben, und als sie nicht mehr von dem Lichtstrahl getroffen wurde, musste sie ja verschwinden.«

»Du hattest sie wirklich im Lichtschein deiner Laterne?«

»Ganz deutlich!«

»Du hast natürlich nur eine Vision gehabt. Du hast während dieser acht Tage so wenig geschlafen, musst ja erschöpft sein. Und dann sagtest du nicht, dass heute der Todestag deiner Frau sei?«

»Heute vor einem Jahr war es ja«, murmelte er. »Natürlich, es war nur eine Vision. Aber dieses seltsame Zusammentreffen! Ich habe mein leichtsinnig gegebenes Wort, einen Schwur gebrochen.«

»Was für einen Schwur?«, fragte ich gespannt.

»Ach, Robert, meine Ehe war keine so glückliche, wie sie hätte sein können. Weißt du, sie war ja ein gutes Mädchen und wurde eine gute Frau, aber voller Launen war sie, fantastisch im höchsten Grade. Sie war an Bord geboren, an Bord groß geworden, sie hielt das Schiff oder vielmehr das Meer für ihre wahre Heimat, fühlte sich gewissermaßen als Nixe. Sie ließ sich, gerade wenn die ärgsten Sturzseen überkamen, oft an den Mast festbinden in der Nacht, wenn das Wasser phosphoreszierte, und da sang und deklamierte sie, da war sie die Meerkönigin. Es war ja Spielerei, aber sie nahm es für ernst. Sie behauptete, sobald sie einen Fuß an Land setze, müsse sie sterben. Sie hat auch tatsächlich nie festes Land betreten. Auch unsere Hochzeit fand an Bord statt. Und nun noch eine ganze Masse solcher Schrullen. Ich habe einen Mann gekannt, der hatte eine hübsche, junge Frau – sonst ganz vernünftig, nur sehr rührselig – die kannte kein größeres Vergnügen, als von ihrem einstmaligen Leichenbegängnis zu sprechen, alles so recht schön auszumalen, wie Eltern und Verwandte weinend am Grabhügel stehen, wenn sich ihr Sarg hinabsenkt. Sie bedauerte nur, dass sie dann nicht selber mit dabeistehen und weinen konnte. Schrecklich, solch eine Frau! So ein Mann ist zu bedauern. Und meine Eveline hatte ganz genau dieselbe Manie. Nur in einem anderen Genre. So in jugendlicher Schönheit dahinsterben – natürlich auf oder im Meer – so im Meer dahinschweben bis in alle Ewigkeit, unsterblich im Fleisch, zur Meerfrau geworden das musste doch herrlich sein! Und dann sagte sie jedes Mal: ›Und nicht wahr, Paul, wenn ich tot bin, mein Grab im Meer gefunden habe, aber nicht etwa in Segeltuch genäht und auf ein Brett genagelt und mit einem Kohlensack beschwert, dann folgst du mir mich? Nicht wahr, du wirst ohne mich nicht mehr leben können? Du stürzest dich mir nach. Bringst nur noch das Schiff in den nächsten Hafen, dann folgst du mir nach, auf dass wir vereint im herrlichen Meer umherschweben können, als freie Seegeister. Nicht wahr, Paul, das tust du?‹ Und da ließ sie, noch als meine Braut, nicht locker. Ich musste ihr mein Wort geben, musste es ihr schwören …«

»Und das tatest du?«, fragte ich erschrocken.

»Was tut man nicht als verliebter Mensch. Sie ließ nicht locker, bis ich ihr lachend das Versprechen gab. Sie wollte es ernst genommen haben, ich sollte schwören. Ich tat ihr den Gefallen. Ich wollte sie mir schon noch erziehen, wenn Sie nur erst meine Frau war. Aber es gelang mir nicht. Eine gute, herzige Frau, die mir alles an den Augen absah, nur für mich lebte, aber von ihrem Wahn konnte ich sie nicht abbringen. Und dann immer und immer wieder das Erinnern an mein Versprechen. Ich wurde schließlich ärgerlich und grob. Sie weinte. Da war ich wieder besiegt. Ich sprach von unseren Kindern, was denn aus denen werden sollte, wenn ich ihr in den Tod folgte. Ja, aber wir hatten ja noch keine Kinder. Und sie behauptete einfach, sie wisse bestimmt, sie bekomme keine. Sonst eigentlich ein heiterer Charakter, aber dieser Wahn ach, wie hat mich das alles gequält!«

Paul stützte die Arme auf den Tisch und legte die Hände vors Gesicht. Ich konnte ihn nur bemitleiden.

»Heute vor einem Jahr«, fuhr er dann leise fort, »befanden wir uns auf der Höhe von Trinidad. Das schönste Wetter, wohl hohe See, aber kein Überkommen. Eveline stand hinten am Heck. Da rollte eine mächtige Woge heran, der Flutwelle vorausgehend. Ich sah sie rechtzeitig kommen, sie musste als Sturzsee übergehen. Ich schrie, Eveline hörte es nicht, sah nichts. Ich sprang mit beiden Füßen von der Brücke, stürzte nach hinten, da stürzte das Wasser schon über. Ich konnte mich gerade noch an den Wanten halten. Als ich wieder auftauchte, da sah ich sie schon weit vom Schiff treiben. Noch einmal hob sie den Arm und winkte mir, winkte mir …«

Er konnte nicht weitersprechen. Und ich fragte natürlich nicht erst, ob denn kein Boot ausgesetzt worden sei. Ich war doch selbst Seemann.

»Und heute, an ihrem Todestag, fällt mir der Trauring vom Finger!«

»Ja, ein merkwürdiges Zusammentreffen«, sagte ich ruhig.

»Und da erscheint sie mir und winkt mir genau so wie damals!«

»Sie hat wohl nur die Arme hilfeflehend ausgestreckt.«

»Und winkt mir. Sage, muss ich denn meinen Schwur halten?«

»Um Gottes willen«, rief ich, »was denkst du!«

»Ich weiß es selbst. Es war schwach, furchtbar schwach von mir, dass ich nachgab, wenn es anfangs auch nur Scherz war. Ich bin der Menschheit andere Pflichten schuldig, als ein leichtsinnig gegebenes, unsinniges Versprechen zu halten.«

»Dachtest du denn daran, als du vorhin den Ring suchtest?«

»Ich natürlich dachte ich an all das«, erklärte er. »So ist die Vision eben entstanden. Komm, hilf mir, dass ich die Bleistiefel wieder anziehe.«

»Du willst doch nicht nochmals hinab?«, rief ich erschrocken.

Er sah mich groß an. »Warum denn nicht? Es war doch nur eine Vision. Oder denkst du, ich glaube an Gespenster? Nein, ich will meinen Ring wiederhaben. Kapitän Paul Müller kann wohl einmal erschrecken, aber so etwas wie Furcht gibt es nicht. Lass alles wieder in Ordnung bringen, ich gehe nochmals hinab.«

Aber es sollte nichts daraus werden. Die Flut hatte eingesetzt, das Schiff war abgetrieben, ehe der Anker gefasst hatte. Nun konnte jene Stelle gar nicht mehr bestimmt werden.

Paul wäre trotzdem noch einmal getaucht, allein er musste schließlich das Vergebliche solchen Beginnens selbst einsehen.

Wir gingen in den Hafen von Collare, löschten innerhalb vier Tagen die Ladung, nahmen Ballast und bekamen Order nach Buenos Aires.

Seit sieben Tagen befanden wir uns wieder auf hoher See. Immer war gutes Wetter, der Kapitän konnte den versäumten Schlaf nachholen, er bekam schnell sein früheres, gesundes Aussehen wieder.

Es war früher Nachmittag, ich hatte Wache. Der Bootsmann meldete, dass das Patentlog nicht mehr funktioniere. Es ist dies eine Art von Uhr, hinten am Heck angebracht: Eine an einem Seil nachschleifende kleine Schraube dreht sich durch den Widerstand des Wassers, dreht auch das Seil mit, in der Uhr werden dadurch Räder gerückt, Zeiger melden die gefahrenen Knoten.

Die Zeiger rückten nicht mehr.

Der Kapitän ging selbst hin. Ich holte eine neue Uhr aus dem Kartenhaus.

Wie ich mittschiffs unter der Brücke hervorkomme, sehe ich den Kapitän allein hinten an der Bordwand stehen, mit ausgestrecktem Arm, höre ihn einen lauten Schrei ausstoßen.

Mit zwei Sätzen war ich dort.

»Da … da war sie wieder! Eveline! Und sie winkte mir … winkte mir!«

Ganz außer sich war er. Wieder wollte er sie deutlich gesehen haben. Hinten im Kielwasser, zwar nicht mit dem Kopf herauskommend. aber doch ganz, ganz deutlich sichtbar, mit dem grünen Kleid, mit dem grünen, nachschwebenden Haar, ihm immer zuwinkend. Lange, lange wollte er sie gesehen haben. Ein Zeitmaß fehlte natürlich. Und diesmal im hellsten Sonnenschein! Er ließ sich nicht davon abbringen.

»Vision soll es wieder gewesen sein? Bin ich denn ein wahnsinniger Narr? Lasst Euch doch nicht auslachen, Steuermann!«

Er ließ mich stehen.

Nun wurde mir die Sache doch bedenklich. Paul sah doch gerade jetzt so gesund aus, hatte auch sonst nicht die geringste Spur von Nervosität gezeigt. Was sollte man davon denken?

Er blieb den ganzen Tag unter Deck, kam erst des Nachts wieder auf die Brücke.

»Ihr denkt natürlich noch immer, es wäre wieder nur eine Vision gewesen«, begann er.

»Was soll denn …«

»Schon gut. Eine Erklärung kann ich nicht geben, aber gesehen habe ich sie doch.«

Schon bei Sonnenaufgang stellte er sich am anderen Morgen wieder ein, als ich abermals Wache hatte. Nun sah er wieder recht schlecht aus, sehr hohläugig, mochte nicht geschlafen haben, sagte aber das Gegenteil.

»Heute Nacht«, begann er von selbst, »ist sie mir im Traum erschienen. Nun käme sie nur noch einmal, erklärte sie, dann aber würde sie mich auch holen, ob ich nun wolle oder nicht. Glaubst du an solchen Unsinn, Robert?« Er lachte grimmig.

Dieses Lachen gefiel mir gar nicht, so wenig wie sein Aussehen, wie sein ganzes Benehmen.

Da brach etwas an der Maschine. Die Reparatur musste einige Stunden in Anspruch nehmen.

»Da … da … da!«, schrien plötzlich einige Matrosen, über die Steuerbordreling deutend. »Ein Seegespenst, eine Wassernixe!«

Ich sprang an die Bordwand.

Was soll ich sagen?

Da schwebte dort unten im Wasser eine Frau, von einem grünen Gewand umgaukelt, um den Kopf grüne Haare, sie blickte zu uns empor, den rechten Arm erhebend. Der Kopf war vielleicht noch einen halben Meter unter dem Wasserspiegel, die ganze Gestalt aber bis zu den Füßen vollkommen sichtbar.

Wir waren an die zwanzig Mann, die den Spuk sahen.

Sie schien wieder zu verschwinden, immer winkend.

»Himmel und Hölle, jetzt mache ich dem Teufelsspuk ein Ende, so oder so!«, knirschte es da neben mir. Es war der Kapitän, und da sauste er auch schon in weitem Hechtsprung über die Brüstung weg, direkt auf die Gestalt zu.

Und er hatte sie! Ich sah deutlich, wie er die Arme um sie schlang, und sie auch die ihren um ihn. Oder doch den einen. Dann aber waren die beiden auch gleich in die Tiefe gegangen, waren sofort verschwunden.

Wir starrten und starrten. Die Gestalt war verschwunden. Der Kapitän kam nicht wieder.

Lange dauerte unser entsetztes Starren nicht.

Ein Boot wurde ausgesetzt, mit Stangen und mit Haken an langen Seilen gefischt.

Und wir brachten sie wirklich herauf – sie, das Meerweib.

Und was war es?

Eine hölzerne Galionsfigur, wie eine solche noch heute fast jedes Segelschiff vorn am Bugspriet führte, meist den Schiffsnamen symbolisierend. Das hier war ein Weib von menschlicher Größe oder noch etwas größer, hatte den rechten Arm ausgestreckt, der aber am Ellbogen gebrochen war, der Unterarm mit der Hand hing nur noch durch einen Holzspan mit dem Ganzen zusammen. Daher bei der leisesten Wasserbewegung die winkende Bewegung des Armes. Und mit unserem Schiffe war die Figur mit einem langen Strick verbunden, der sich wahrscheinlich am Kupferbeschlag des Kiels festgeklemmt hatte. Das Holz hatte sich vollgesaugt, schwebte eben noch in Wasser. Das grüne Gewand war Seetang, der sich auch in den Rillen der hölzernen Locken festgesetzt hatte.

Die abgebrochene Galionsfigur hatte sich uns offenbar irgendwo angeheftet, vielleicht erst auf der Reede von Collare. Jedenfalls hatte der Kapitän schon dort beim Tauchen sie erblickt. Gestern hatte er die nachgeschleifte Figur hinten im Kielwasser gesehen, und heute tauchte sie vor unser aller Blicken auf.

Ja, nun war alles erklärt.

Und der Kapitän?

Der war weg. Er tauchte nicht von selber wieder auf, wir fischten ihn auch nicht heraus.