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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter

Das Netz der Eisernen Seite – Teil 1

Tony Tanners Tagebuch

London. Manchmal überkommt mich das ungeheuer tröstliche Gefühl, dass ich bald eine Stimme an meinem Ohr hören werde, die mir befiehlt, aufzuwachen, und dann öffne ich die Augen und sehe einige weiß gekleidete Gestalten, darunter natürlich eine exklusiv hübsche blonde Krankenschwester, und einer der Ärzte sagt: »Sie haben ziemlich lange geschlafen, Herr Tanner.«

Bis zu diesem köstlichen Moment werde ich gezwungen sein, in diesem Albtraum weiterzuleben, umgeben von Unbekannten, denen es ein Herzensanliegen zu sein scheint, das zweite Datum auf meinem Grabstein festzulegen. Das ist die eine Sache. Die andere Sache ist, dass ich die Situation auf eine ziemlich konfuse Art zu genießen beginne. Ich schaue mir die Leute am Flughafen an, alle diese Wichtigtuer mit ihren Handys am Ohr – aus dem meist ein Dickicht grauer Haare wuchert, ich meine nicht das Handy – die lautstark und angeberisch mit irgendeinem dieser globalen Höker konferieren oder sich bei ihrer Alten Liebkind machen, während die hochnäsige Sekretärin (zementartig fest sitzender Kurzhaarschnitt mit blonden Strähnchen und eine rosa Wolke teuren Parfums um sich) danebensteht und schon überlegt, was sie an Vorteilen aus dem nächsten Treffen mit ihrem Chef herausschlagen kann.

 

Ich schaue mir diese aufgeblasenen Großschnauzen an, deren menschliches Selbstbewusstsein sich am Umfang der Börsennotierung ihrer Firmen orientiert, und möchte ihnen sagen: Junge, schieb dir deine Bilanzpressekonferenz in deinen Khyberpass, vergiss das nächste Kaviar-Fressen mit Senator XY, vergiss das Journalistenpack, die Talkshows, die Mega-Fusionen, das Internet, die Gewinne, die Gesellschaftsseiten – vergiss es, denn wenn du wüsstest, was wirklich abgeht, würdest du vor Angst sabbern und dich im hintersten Eckchen deines feudalen Anwesens in die Erde buddeln. Wenn du wüsstest, was hinter den Kulissen geschieht, was sich zusammenbraut, dann würde dir dein Exklusivhandy aus den manikürten geilen Fingern fallen, und du würdest deine Platinkarte geben für eine einzige Minute, in der du diese Wahrheit nicht in deinem karrieregeilen Schädel mit dir tragen musst wie einen Tumor aus Edelstahl.

Klingt stark – an mir ist ein Bußprediger von einigem Format verloren gegangen. Nun ja, kurz gesagt, wenn ich heute die Augen aufschlage, dann habe ich vielleicht Angst vor dem, was kommt, aber ich habe auch das Gefühl – und das ist neu – dass es auf genau diesen Tag ankommt. Das ist nicht irgend so ein Tag im Leben des Sesselfurzers Tony Tanner, sondern es ist ein Tag, an dem sich entscheidende Dinge ereignen können, ein Tag, der einen Unterschied macht. Ich glaube, genau das ist es.

Der Tag macht einen Unterschied, ich gehe durch ihn hindurch und immer ist dort eine Ecke, hinter die ich noch nicht geblickt habe. Meistens steht einer dahinter und will mich umnieten, aber manchmal habe ich auch Treffen auf Damentoiletten, die, wenn man gewisse missliche Begleitumstände hinten anstellt, sehr aufregend sind.

Ich hoffe, dass meine Enkel diese Eintragungen niemals zu lesen bekommen, sonst werde ich garantiert aus dem Stammbaum gestrichen. Andererseits ist die Position des Familienbösewichts bestimmt auch nicht zu verachten. Jedenfalls sind die Bösewichter in den Shakespearestücken immer die interessantesten Typen (und wenn sie nur ein klein wenig weniger böse wären, würden sie auch alle Mädels bekommen).

 

Ich habe vorhin Francine angerufen – welch ein eleganter Übergang ist mit hiermit gelungen – sie war hochoffensichtlichst sehr erfreut, von mir zu hören und bombardierte mich auch gleich mit Terminen, an denen wir uns treffen könnten. So viel habe ich verstanden, von ihr aus geht es ab jetzt bis in alle Ewigkeit und rund um die Uhr. Ich hielt mich bedeckt und schob Arbeitsüberlastung vor.

Das war noch nicht einmal eine Lüge, mein Problem ist nur, dass ich nicht einmal sicher bin, was für eine Arbeit ich erledige. Und wenn ich an meine obige Strafpredigt gegen die Unwissenden dieser Welt denke, dann muss ich mich natürlich auch fragen, was ich denn überhaupt weiß. Das ist verdammt wenig, wenn man bedenkt, dass ich in der letzten Zeit so oft das Leben riskiert habe, dass es ausreichen würde, sämtliche Uniformen einer Elitekompanie mit buntem Ordensgeklimper auszustatten. Ich glaube, dass Dorkas recht hat, wenn er mir wieder und wieder versichert, dass sich etwas aufbaut – er kann das schöner ausdrücken, aber mir wäre lieber, wenn ich nicht nur wüsste, dass die Bombe tickt, sondern auch, was für eine Bombe es ist und wie man ihren verdammten Stecker rausziehen kann.

Ich habe übrigens Francines Brief, den ich immer bei mir hatte, irgendwo und irgendwann verloren. Fingerzeig des Schicksals? Francine würde sagen: männliche Vertrotteltheit.

***

London trug schon das Grau der Dämmerung, als Tony Tanner am Piccadilly-Circus eintraf.

Die Autos fuhren mit Licht, die Neonreklamen der Geschäfte legten sich bunt auf den Asphalt. Für einen Augenblick überkam Tony Tanner die Empfindung einer tröstlichen Normalität, der milde süßliche Duft der Alltäglichkeit, und dann fiel ihm wieder ein, warum er überhaupt auf dem Weg zu diesem Schnellimbiss war und warum er diesen zweiten Koffer in der verschwitzten Hand trug. Durch die großen Außenscheiben konnte er Dorkas, den dicklichen Sir, schon von Weitem erkennen. Der hatte sich mit Blick auf den Eingang platziert, aber Tony Tanner war in diesem Geschäft des Fliehens und Verfolgens inzwischen so weit angelernt, dass er auch die Nähe von Dorkas’Tisch zur Theke und damit zur Küche und damit zum Hinterausgang registrierte. Mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge und klopfendem Herzen, als würde er sich einem Arzt nähern, der ihm einen lebenswichtigen Laborbefund mitteilen sollte, trat Tony an den Tisch. Dorkas hatte ihn schon bemerkt und winkte ihm zu.

Die Geste beruhigte Tony, bevor Dorkas auch nur ein Wort gesprochen hatte. Es war nicht das matte Winken eines Schiffbrüchigen, sondern die frohe Geste eines Mannes, der auf einem schönen Schiff den Hafen verlässt.

»Setzen Sie sich!«, sagte Dorkas aufgeräumt und rückte für Tony einen Stuhl zurecht. »Sie sehen derart gesund und gut gebräunt aus, dass Sie jedem Brathähnchen Konkurrenz machen könnten.«

»Zumindest was den Lebenszustand angeht, fühle ich mich einem Brathähnchen durchaus verwandt.« Tony stellte seinen Koffer mit der Kleidung unter den Tisch, den anderen Koffer wuchtete er auf die Platte. Er seufzte erleichtert auf, als er das Gewicht des Gepäcks nicht mehr an den Armen spürte. An seinem linken Oberarm war ein solider Bluterguss, davon hatte er sich in der Herrentoilette des römischen Flughafens überzeugt, sein rechter Arm neigte immer noch dazu, bei Belastung schmerzhaft zu verkrampfen. Als Tony das gegenüber Dorkas erwähnte, zuckte der nur die Schultern.

»Das ist wohl der Preis, den man zahlen muss. Diese Peitsche ist kein Spielzeug, sondern eine Waffe. Eine tödliche Waffe, wenn es darauf ankommt. Und ich glaube, es ist ein Lebensgesetz, dass jeder, der eine Waffe gegen einen anderen Menschen erhebt, dafür auch etwas zu bezahlen hat.«

»Hübsche Theorie. Ich hoffe, das gilt für alle die Typen, die versuchen, meine Lebensversicherung zu aktivieren, auch.«

»Wie ich bereits sagte: Es ist ein Lebensgesetz. Wissen Sie, welche Träume diese Menschen haben, wissen Sie, welche Verluste, welche Irrwege Ihnen bevorstehen?«

»Amen. Welchen Choral sollen wir anstimmen?«, antwortete Tony, dem nicht nach esoterischem Wissen zumute war.

»Zuerst sollten Sie sich einen dieser leckeren Milchshakes holen. Praktischerweise bringen Sie mir auch gleich noch einen mit. Ich hoffe, der Jubel Ihrer Zunge über diesen exklusiven Cocktail an hochchemischen Geschmacksverstärkern wird auch Ihre Stimmung heben. Und wenn das so ist, essen wir noch eine Kleinigkeit und tratschen über die neuesten Katastrophen.«

 

Die angekündigte Stimmungserhebung ließ bis zu dem gebackenen Fisch auf sich warten, aber nach der zweiten Portion der vertraut weichen und britisch-matschigen Pommes frites spürte Tony Tanner mit angenehmer Entspannung, dass sich sein Organismus jetzt weniger für Konfrontation denn milde Verdauungsarbeit interessierte. Er ließ die Plastikgabel sinken und schaute Dorkas wieder genauer an. »Haben Sie Gelegenheit gehabt, mit Ihrem Anwalt für aussichtslose Fälle zu sprechen?«

»Das habe ich«, erwiderte Dorkas. »Er war ziemlich begeistert von der Aufgabe. ›Aufregender als barfuß auf den Everest zu steigen, aber weniger Erfolg versprechend‹, das waren seine Worte. Nun ja, irgendwer an hoher Position macht der Polizei Druck, aber Ihr Anwalt beginnt, Gegendruck aufzubauen. Er hat in der Vergangenheit der Wachleute gewühlt, die Sie so hübsch ausgeschaltet haben und dann natürlich das unschuldige Opfer Ihrer männlich behaarten Geilheit …«

»Die war blönd«, fauchte Tony Tanner. »Blond und blöd, eine Blöndine.«

»Wenn Sie wirklich so blöd gewesen ist, dann waren Sie immerhin eine Nummer blöder, Tony. Nein, die war hochgradig raffiniert. Und sie wusste genau, was sie tun sollte und wie sie es anstellen musste. Das Problem ist, dass es keine Aussage von ihr gibt, jedenfalls keine, die Ihr Anwalt in die Finger bekommen hätte. Er wird immer vertröstet, mal ist die Akte unterwegs, mal hat sie ein Beamter, der gerade krank ist. Mit anderen Worten: Ihr Anwalt erlebt eine ständige Ekstase juristischer Lust und wühlt sich in den Fall ein. Sie sollten für die nächsten Tage bei mir bleiben, Ihre Wohnung ist versiegelt.«

»Wenn Sie einen Typen wie mich aufnehmen, gern. Aber dann frage ich mich, warum wir uns hier treffen und nicht gleich in Ihrer Wohnung?«

»Weil mich das Gefühl nicht loslässt, dass irgendwelche Typen in meiner Straße herumlungern, die ich vorher dort noch nie gesehen habe. So ein Weißhaariger ist mir mehrfach aufgefallen.«

»Die werden aber immer noch lungern, wenn wir später zu Ihrer Behausung gehen.«

»Herr Tanner, Sie sind ein notorischer Skeptiker. Ich habe natürlich meine Wege, um in meine Wohnung zu gelangen, ohne überhaupt besagte Straße zu betreten. Aber Sie, mein hoch geschätzter Mister Nörgler, kennen diese Wege nicht.«

»Sie haben also dieses Indianer- und Cowboy-Spiel schon vor einiger Zeit angefangen?«

»Darüber haben wir uns ja schon unterhalten. Ich war mir schon vor einiger Zeit sicher, dass wir einmal genau den Zustand haben würden, der sich jetzt auch eingestellt hat. Und damit lassen Sie uns in medias res gehen. Was ist in dem Koffer?«

Tony lächelte boshaft. »Zuerst erzählen Sie mir doch etwas von Ihrem Besuch in Wales. Haben Sie jetzt endlich die Freuden des Reisens kennengelernt? Haben Sie Ihre Ziele erreicht, und was gibt es zu berichten?«

Dorkas ließ sich nicht auf den spöttischen Ton ein. »Wales war sehr – anregend. Ich frage mich zwar, wieso dieses unwirtliche Land von Menschen besiedelt wurde, aber das ist ja nicht mein Thema. Also – Sarah Hammond. Sie wird uns erhalten bleiben.«

»Ich dachte, sie sei ermordet worden?«

»Das dachte ich auch, und eine ganze Weile wollte ich es auch glauben, verstehen Sie? Es wäre so schön, wenn ich es immer noch glauben könnte. Aber nichts da. Sarah ist ihren Weg zu Ende gegangen.«

»Gibt’s diese Nachricht auch in Klartext für die kleineren Dummen, solche wie mich?«

»Nicht so bescheiden, Herr Tanner. Mitunter sind Sie auch recht clever!« Dorkas betrachtet mit zärtlichem Blick den Koffer, der zwischen Papptellern und Getränkebechern auf dem Tisch lag.

»Um es kurz zu machen. Sie wurde nicht ermordet, sie ließ sich ermorden. Oder genauer gesagt, sie ließ sich in einem genau geplanten Ritual von ihrer irdischen Hülle befreien, um in einer anderen Dimension weiterzuleben.« Dorkas sagte das mit unbewegtem Gesicht. Tony versuchte irgendwo eine Spur von Ironie zu entdecken, ein Fältchen um die Augen, ein Zucken der Mundwinkel. Es gelang ihm nicht.

 

Dorkas meinte es offensichtlich ernst.

Die Nachricht stürzte Tony in eine Art von Schwindel. Er hörte, wie sich die beiden Frauen am Nebentisch über die Unfähigkeit von Männern zur Hausarbeit unterhielten, er hörte an der Theke eine Kaffeemaschine blubbern und roch den öligen Dunst der Fritteuse. Das alles war wahr und echt, und doch wurde es in diesem Moment zur Seite gefegt von einer anderen Wirklichkeit, die ihm dieser dickliche Mann mit unbewegtem Gesicht präsentiert hatte.

»Das – ist – krank.« Tony hörte eine Stimme und brauchte eine Weile, bis er sie als seine eigene erkannte.

»Es ist zumindest etwas bizarr«, bestätigte Dorkas. »Aber nachdem ich mich kundig gemacht habe, muss ich gestehen, dass ich etwas überrascht war. Es gibt nämlich ein gutes Dutzend gut dokumentierter Fälle solcher bewusster Übertritte. Ich zähle nicht einmal den Fall Hagen Hellfritzsch dazu, der sozusagen als Späher in die astrale Welt geschickt wurde und seinen Zirkel bei Séancen mit aufregenden Neuigkeiten aus der jenseitigen Welt versorgte.

Das war in Berlin, so um 1932 herum. War natürlich ein gefundenes Fressen für die Medien. Ich frage mich, was die da in Berlin noch alles abgezogen hätten, wenn ihnen Hitler nicht in die Quere gekommen wäre. Dieser kleingeistige Spielverderber. Nein, also, ich rede von allen diesen Leuten, die sozusagen einen wirklichen Karrieresprung machen wollten. Ich schätze, die meisten endeten als subalterne Poltergeister in einem Puff an den Docks. Aber einige wenige mögen es wirklich geschafft haben. Und von Sarah weiß ich definitiv, dass sie es geschafft hat. Sie ist in einer anderen Dimension.«

»Haben Sie durch ein Schlüsselloch gepeilt – oder weshalb sind Sie sich so sicher?«

»Ich wünschte, es wäre ein Schlüsselloch gewesen. Nein, ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, Sarah zu begegnen. Ich habe sie gespürt, aber fragen Sie mich bitte nicht nach Einzelheiten, die Erinnerung daran regt mich immer noch ziemlich auf.«

»Na schön, ich lasse Ihnen dieses intime Geheimnis. Aber beantworten Sie mir eine andere Frage – obwohl wir uns beide im Klaren darüber sind, dass uns allein die Tatsache dieses Gespräches in die Klapsmühle bringen würde – was bezweckt Sarah damit? Unsterblichkeit durch frühzeitiges Ableben?«

»Macht, mein lieber Herr Tanner. Macht. Und was die Klapsmühle angeht – lesen Sie Ronald Laing, der macht Ihnen plausibel, dass in einer durchgedrehten Kultur das Durchdrehen Zeichen für seelische und geistige Gesundheit sein kann. Manchmal das einzige Zeichen für Gesundheit.«

Dorkas starrte einen Moment düster vor sich hin, und Tony fragte sich, ob sein Begleiter und Gastgeber nicht ein Musterbeispiel für Laings Theorie war – durchgeknallt und abgehoben.

Dann schnippte Dorkas mit den Fingern und sprach munter weiter. »Macht, Macht ist etwas, das Dinge verändert. Sarah will also auf ihre Art etwas in die Wege leiten.«

Dorkas erzählte von den Steinsetzungen, die er zum Teil zerstört hatte, und von dem Plan, den er in Sarahs Zimmer gefunden hatte.

»Ich verstehe den Zusammenhang nicht«, gestand Tony.

»Ich ebenso wenig«, gab Dorkas munter zurück. »Aber es gibt einen. Es kann durchaus sein, dass wir beide die Einzigen sind, die wissen, dass überhaupt ein Zusammenhang da sein müsste. Ich rede jetzt von dem Zusammenhang zwischen dem, was wir nun wissen und dem, was in diesem Koffer ist. Und damit erkläre ich: Es ist Öffnungszeit.«

 

Dorkas klopfte enthusiastisch auf den Koffer, sodass einige Gäste neugierig den Kopf wendeten. Vermutlich dachten sie an eine Geldübergabe von Rauschgifthändlern.

Tony wehrte ab. »Moment. Wieso soll es einen Zusammenhang geben? Wir reden von Tausenden von Meilen Luftlinie Entfernung und von Tausenden von Jahren, die das alles trennen!«

»Meilen, Jahre! Was ist das schon?« Dorkas schüttelte enttäuscht den Kopf und hielt Tony seinen dicklichen Daumen vor die Nase. »Erstens: Intuition. Zweitens …« – jetzt kam der Zeigefinger dran – » … gesunder Menschenverstand – ich weiß, was Sie sagen wollen, Sie wollen mich dezent darauf hinweisen, dass gesunder Menschenverstand bei unserer Untersuchung eher hinderlich ist, aber halten Sie einfach einmal die Klappe, also – gesunder Menschenverstand und drittens …« – Dorkas bog mit einiger Mühe seinen Zeigefinger hoch – »… haben wir sozusagen den esoterischen Beweis.«

»Das ist mir jetzt zu hoch!«

»Wundert mich gar nicht. Sie erinnern sich an Ihren Albtraum, den Sie in der Nacht von Sarahs – nennen wir es Karrieresprung – hatten? Als Sie das erzählten, war mir klar, dass Sie dafür besonders empfänglich sein müssen. Sie haben sozusagen die richtige Antenne. Es wäre interessant, einmal wissenschaftlich zu erforschen, welche Auswirkungen auf die Träume anderer Menschen dieses Ereignis hatte, mmmh, vielleicht Steigerung des sexuellen Erregungszustandes in den REM-Phasen oder vielleicht auch das Gegenteil. Egal – die Energieausschüttung war jedenfalls gewaltig. Es war so eine Art Kernexplosion. Aber sehen Sie, Sie haben die Nachricht sozusagen im Maßstab eins zu eins empfangen. Und das heißt wiederum, dass das Netz geschlossen ist. Verstehen Sie, wie bei einem Mobilfunkgerät, es gibt genügend Sender, um eine Nachricht im weiten Umkreis zu verbreiten.«

»Soll ich mir jetzt irgendeine geistige Pampe vorstellen, in die einer auf der linken Seite hereinpinkelt und auf der rechten Seite kommen dann die Wellen an oder wie?«

»Das Problem ist«, Dorkas blieb ganz geduldig, »dass wir keine passenden Begriffe dafür haben. Wir arbeiten mit sehr groben Bildern für etwas, was jenseits der rationalen Begrifflichkeit liegt. Also, denken Sie ruhig an die Pampe. Ach so, eines hätte ich fast vergessen. Es gibt allem Anschein nach ein Mondkind.«

»Ein Mondkind.« Tony knallte die Ellbogen auf den Tisch und verbarg den Kopf zwischen den Händen. Es war zu viel. »Ein Mondkind.« Durch seine Handflächen hindurch hörte er Dorkas über das Thema Mondkind dozieren.

»… in der Literatur keinerlei Beleg für die gelungene Erzeugung eines Mondkindes. Dass Sebastian de Borreja eines war, halte ich für eine gute Propagandageschichte, die er selbst ausgestreut hat – als Alchemist ein Versager, als PR-Mann in eigener Sache eine große Nummer. Nun denn, wir müssen vorsichtig sein. Wir wissen nicht, wie es aussieht, vor allem sind uns seine Fähigkeiten völlig unbekannt. Vielleicht ist es inzwischen schon ein verschrumpelter Geist. Und was hat es vor? Ist es mit Willensfreiheit ausgestattet oder ein Teil des großen Plans von Sarah?«

»Wir sollten mit dem Schlimmsten rechnen?« Tony Tanner lugte zwischen seinen Händen hervor.

»Und das Schlimmste ist, dass wir demnächst Kontakt mit diesem Mondkind bekommen werden. Und daran das Schlimmste ist, dass es sich um eine Art Roboter in dieser Welt handelt, der von Mama Sarah ferngesteuert wird. Das würde ganz gut zu ihr passen. Sie lässt kein Problem ungelöst. Und da Sarah mich inzwischen kennengelernt hat und über mich auch Sie, Herr Tanner, werden wir sehr gut aufpassen müssen.«

»Womit, zum Teufel noch mal, habe ich wohl in der letzten Zeit mein Überleben gesichert? Nicht durch Leichtsinnigkeit, kann ich Ihnen flüstern.«

»Den Schlüssel bitte!«

Tony starrte auf die geöffnete Handfläche, die Dorkas ihm entgegenhielt. Nach einiger Zeit verstand er, was Dorkas von ihm wollte.

»Dieser Koffer«, zischte Tony empört, »hat mich fast das Leben gekostet und im Gegensatz zu anderen Personen Ihrer persönlichen Bekanntschaft habe ich nur ein einziges Leben. Und daher war es mir nicht möglich, den Besitzer des Koffers um den Schlüssel für den Gegenstand, den ich ihm gerade geraubt hatte, zu bitten.«

Dorkas fummelte an den Verschlüssen, aber der Koffer ließ sich nicht öffnen. Ärgerlich schüttelte er den Kopf und schaute sich dann unter den Gästen um.

Die beiden Damen mit ihren Männerhaushaltsprobleme waren gegangen, stattdessen saßen zwei Männer da, die sich mit hungrigen Blicken wie mit feuchten Hundezungen beleckten und zwischen zwei

Ketchupflaschen Händchen hielten. Das war nicht, was Dorkas brauchte. Er schaute weiter.

Seine Miene hellte sich auf, als er in einer Ecke in Eingangsnähe einige junge Männer mit nietenverzierten Lederjacken ausmachte. »Bin gleich wieder da.«

Tony wunderte sich über die seltsame Bekanntschaft, die gar nicht zu Dorkas passen wollte.

Dorkas kam mit einem der Männer zurück. Es war ein hochgeschossener, dürrer hellhäutiger Typ mit Pickeln und einem nervösen Zucken um das linke Auge.

»Hei«, sagte der Dürre. »Sie haben die Schlüssel für Ihren Koffer verloren. Bloody bullshit, was? Na, mal schauen, was läuft.«

Er beugte sich über den Koffer, nachdem er sich vorher mit einem Blick rundum vergewissert hatte, dass ihn niemand außer Tony, Dorkas und seinen Kumpels beachtete. Die hageren Kiefer des Mannes zerhackten ein Kaugummi, schoben es als weißliche Masse durch seine Vorderzähne und ließen es wieder verschwinden.

»Null Problem, aber das Schloss ist hinterher im Eimer!«

»Vielleicht war das sowieso seine Bestimmung«, antwortete Dorkas.

»Alsdann.« Der Mann zog eine feste Nadel aus dem Revers seiner Jacke und steckte sie in das linke Schloss. Er legte das Ohr an den Koffer, während seine Hand die Nadel vorsichtig, wie bei einem chirurgischen Eingriff hin- und herschob. Mit einem satten Klacken schnappte der Verschluss auf. Der junge Mann schaute mit einem kumpelhaften Grinsen auf Tony, dann nahm er sich die andere Seite vor. Als auch die aufschnappte, erntete er von Dorkas ein Megapornämische Nummer, Alter! und bekam einen Geldschein in die Hand gedrückt. Er schaute auf den Geldschein und schnappte nach Luft. Die Pickel begannen hektisch zu glühen und leuchteten rot wie Landelichter.

»Der beste Stundenlohn meines Lebens«, stieß er dann hervor. Er klatschte sich mit Dorkas ab und sagte: »Wenn du noch mehr Koffer hast, lass hören, ich bin um die Zeit immer hier!«, und schlenderte dann, den Schein triumphierend schwenkend, zu seinen Kumpels zurück.

»Dafür muss ein Arbeiter ein halbes Jahr lang schuften«, kommentierte Tony empört die großzügige Entlohnung.

»Das war Künstlerhonorar, die sind immer höher«, antwortete Dorkas ungerührt. »Außerdem ist der Junge ein echtes Genie, den muss man sich warm halten!«

»Wollen Sie jetzt vollends in die kriminelle Szene eintauchen?«

Mit einem vergnügten Blick auf den Koffer sagte Dorkas nur: »Da sind wir schon längst mitten drin, ist es nicht so? Es ist!«

 

Der Inhalt des Koffers war zunächst etwas enttäuschend. Es handelte sich um zwei Tuben. In der einen war eine spezielle Sonnencreme, in der anderen eine Hämorrhoidensalbe namens Mastanal.

»Was in aller Welt ist das?«

Wegen des geöffneten Deckels konnte Tony nicht erkennen, was Dorkas in der Hand hielt.

Dorkas hielt das Gummiding in Augenhöhe, zog es in die Länge, ließ es zurückschnappen und betrachtete es aufmerksam aus allen Perspektiven.

Tony blickte verzweifelt zur Seite. Er spürte, wie seine Gesichtshaut zu kribbeln begann, als er puterrot anlief.

Auf der Straße wendete sich eine Dame, die Dorkas bemerkt hatte, empört ab.

Zwei Teenager stießen sich kichernd in die Seite.

Die beiden Männer am Nebentisch betrachteten Dorkas mit gesteigertem Interesse. Der eine ließ seine Augenbrauen auf und niederflattern, als machten sie Flugversuche, der andere machte in Richtung Dorkas einen sahnigen Kussmund.

»Das, was Sie da herumzeigen«, stöhnte Tony, »ist ein Kondom. Ein Kondom ist ein …«

»Danke, ich bin informiert.« Dorkas hielt den Gummizipfel hoch und betrachtete ihn beglückt. »Ich hatte immer gedacht, die Dinger wären so rund und flach. Ah, ich verstehe, …«

Dorkas verstummte und zog einen Umschlag aus dem Koffer. Er öffnete ihn mit einem raschen, gierigen Griff und legte einen Stapel Bilder auf den Tisch. Ein erster Blick ließ ihn befriedigt nicken.

»Das ist es, was wir gesucht haben.«

Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die Tony zu sehen bekam, erschienen ihm recht wenig spektakulär. Sie zeigten Wandmalereien im Zugang zu der Grabkammer und der Grabkammer selbst. Es waren die bekannten Darstellungen von Göttern, daneben gab es Alltagsszenen und einige Schlachtendarstellungen. Die Bilder waren offensichtlich hastig und mit schlechter Beleuchtung gemacht. Außerdem hatte der Fotograf ein Weitwinkelobjektiv verwendet, das zwar ein breiteres Bildfeld ermöglichte, an den Seiten jedoch einen stark verzerrenden Effekt hatte.

So langsam beschlich Tony der Verdacht, dass er für nichts und wieder nichts Kopf und Kragen riskiert hatte.

Dorkas besorgte sich ein schaumloses Bier und studierte die Fotos, die er auf den Tisch legte und sie mit der Nasenspitze fast berührte.

Tony stellte den Koffer zur Seite. Er wartete, aber Dorkas trank nur sein Bier aus, gab mit Zeichen zu verstehen, dass er noch eines wünschte, und schien weiter an den Fotos zu riechen.

 

Die Zeit verstrich, die Gäste wechselten, inzwischen wurde der Verkehr schon merklich geringer.

Fast wäre Tony eingeschlafen, wenn ihn nicht ein aufgeregtes Schnaufen von Dorkas aufgeschreckt hätte.

Dorkas sprang auf und stellte sich neben Tony. Seine Zeigefinger deuteten auf eine Szene in der Wandmalerei im Zugang.

Weil Dorkas’ Hand zitterte, musste Tony selbst nach der Fotografie greifen, um Genaueres erkennen zu können. Der Zeigefinger tippte auf eine stehende Gestalt, deren Männlichkeit durch ein riesiges erigiertes Glied mit seltener Eindeutigkeit dokumentiert wurde. Vor dem Mann hockte eine Frau. Ihre Hände waren gefesselt, der Mann hielt das Ende des Seils in der Hand.

»Ist das nicht sensationell«, flüsterte Dorkas.

»Mit dem Werkzeug wäre er heute ein großer Hengst in der Pornoindustrie«, mutmaßte Tony Tanner etwas hilflos.

»Unsinn, ich meine doch nicht dieses Zipfelchen da – obwohl, Sie haben recht, Zäpfchen ist vielleicht doch untertrieben. Aber das kann sogar eine Attrappe, ein künstlicher Penis, so wie der künstliche Bart der Pharaonen. Ich nehme an, das war so eine Art Machtsymbol. Der Typ trägt ja trotz seines eindeutigen Zustandes einen Rock. Hier schauen Sie, er hat die Krone von Oberägypten auf dem Kopf. Also kein Herrscher über die traditionellen Zentren, sondern einer, der sich eher nach Süden orientiert haben wird. Aber hier, diese Frau, sie hat die Attribute von Nut.«

»Oh, Nut. Tatsächlich, das ist Nut. Wer ist bitte Nut?«

Verblüfft von so viel Unwissenheit schüttelte Dorkas den Kopf. »Nut ist die ägyptische Himmelsgöttin. Manchmal dargestellt, wie sie sich in ihrem Sternengewand wie eine Turnerin über ihren Gemahl, den Erdgott Geb wölbt. Frage: Wieso wird ein Pharao dargestellt, der die Himmelsgöttin fesselt und ihr außerdem seinen Schniedelwutz herzeigt wie ein Alphatier bei ‘ner Pavianherde? So eine Form von

Größenwahn ist absolut untypisch. Vergewaltiger der Nut, Schänder der Nut, Fessler des Himmels …«

Dorkas kratzte sich am Kinn und formulierte eine Reihe von Namen, die mit diesem Bild im Zusammenhang stehen könnten. Aber es kam kein Gedankenblitz.

»Vielleicht«, warf Tony schüchtern ein, »wenn ich mal meine Studienerfahrungen auf dem Gebiet Männlein/Weiblein resümieren darf, soll es bedeuten, dass der Typ mit dem Gemächt einem anderen Typen die Freundin weggenommen hat. Die Lady hat nicht freiwillig mitgemacht, sonst wäre sie ja nicht gefesselt, aber gleich wird er sie rannehmen und sozusagen seine Besitzanspruch deutlich machen.«

Ohne Antwort, wenn man sein undeutliches Knurren als eine solche zählen wollte, setzte sich Dorkas zurück auf seinen Stuhl und verglich aufgeregt die Fotos.

»Stimmt«, sagte er dann. »Stimmt, hier ist der Beweis.«

Was Dorkas als Beweis bezeichnete, war die Figur eines liegenden gefesselten Mannes, der von einer stehenden Figur gerade mit einem Sichelmesser kastriert worden zu sein schien, während andere, kleinere Gestalten den Liegenden mit Pflöcken durchbohrten.

»Das ist Geb, der Erdgott«, erläuterte Dorkas. »Was hier geschieht, ist klar, aber warum diese Schaschlikspieße? Warten Sie einmal …« Wieder ergriff Dorkas den Stapel der Fotos, verglich und holte eine Szene hervor, die den Aufbruch einer Kamelkarawane zeigten.

»Sehen Sie, was die Kamele, hier und hier, tragen? Ich hatte das für eine Art Zeltgestell gehalten, aber es könnten diese Spieße sein. Hier erscheinen sie allerdings als ziemlich dicke Pflöcke. Und diese Noppen an ihrer Oberfläche – sie sind mit Metall beschlagen, das ist es. Mit Bronze vermutlich, es sei denn, wir müssen unsere Geschichte hinsichtlich der Entdeckung der Metallurgie umschreiben. Aber warum schlägt man Metall in Holz?«

Dorkas grübelte. Dann rief er Sa …, sprang auf und hämmerte gegen die Scheibe des Gastraumes.

 

Die Passanten auf dem Bürgersteig zuckten zusammen. Einige beschleunigten den Schritt, um möglichst schnell aus der Reichweite dieses offensichtlichen Irren zu gelangen. Bei anderen zeigte sich eher amüsierte Neugier. Und ein älteres Ehepaar, mit dem Ausdruck eines peinlichen Wiedererkennens im Gesicht, blieb stehen. Dorkas winkte und hüpfte wie eine Zwölfjährige, die ihren Lieblings-Boygroup-Sänger entdeckt hat. Die Frau zerrte am Arm des Mannes und wollte wohl die Flucht wählen, aber der Mann nickte Dorkas zu und betrat das Lokal. Er war ein hochgewachsener, hagerer Mensch mit langem Pferdeschädel, auf dem die wenigen Haare in anarchischer Freiheit herumlagen.

Auf Tony Tanner wirkte dieser Mann, als sei er das Ergebnis einer industriellen Dehydrierung: Legen Sie das Exemplar für drei Stunden in eine Wanne mit Wasser, und Sie bekommen einen normal aussehenden Menschen.

Sobald es aus der Sichtweite seiner Ehefrau war, erlaubte sich das Pferdegesicht ein spitzbübisches Grinsen. »Dorkas, Sie sollten Ihre Vorstellung auf der Straße machen und einen Hut herumgehen lassen – damit hätten Sie eine todsichere Einnahmequelle.«

Dorkas hüstelte und zeigte eine Hautverfärbung in der Farbrichtung tomatenrot. »Es scheint mir heute nicht gegeben zu sein, meine übliche Dezenz im gesellschaftlichen Umgang zu beweisen«, kommentierte er zerknirscht. »Trotzdem freue ich mich, Wilfred, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, auf meine eindeutigen Aufforderungen zu reagieren.«

»Nun seien Sie nicht allzu verzweifelt. Im Grunde habe ich in den letzten zwei Minuten mehr Spaß gehabt als vorher am ganzen Tag. Meine Frau …«, Wilfred senkte verschwörerisch die Stimme, »… meine Alte hat mich in eines dieser elenden Musicals geschleift. Und dann noch Lloyd-Webber. Ich kann diese plüschige Notenpampe einfach nicht ab. Als müsste man stundenlang Eierschaumgebäck verzehren, irgendwann wird einem schlecht. Egal – was liegt an, alter Freund, umsonst machen Sie doch nicht einen solchen Aufstand?«

Dorkas nahm begierig diesen Rettungsanker in Gebrauch und stellte zuerst seinen Begleiter vor. So erfuhr Tony, dass Wilfred Hanford Astronom war. Ein guter, wie Dorkas durchblicken ließ, dessen Karriere nur darunter gelitten hatte, dass Hanford Bootsfahrten auf der oberen Themse stets für angenehmer gehalten hatte als hochgestochene Konferenzen in New York oder sonst wo.

Dorkas holte einige Fotografien von der Grabkammer heraus und legte sie auf den Tisch. »Ich hätte Sie damit sowieso in einigen Tagen belästigt, aber es wäre mir ein Anliegen, wenn Sie jetzt schon einen Blick darauf werfen könnten.«

Hanford studierte eine Weile die Fotos. Seine aufgeräumte Stimmung war verflogen, nun war er ganz der konzentrierte Wissenschaftler. »Welche Fragen haben Sie, Dorkas?«

»Eigentlich nur eine. Schauen Sie sich die Sternbilder an, die auf diesen Fotos abgebildet sind, und sagen Sie mir, ob die Darstellung wirklichkeitsgetreu ist.«

»Dazu muss ich erst einmal die genauere Position des Ortes wissen, von dem diese Darstellung stammt. Wobei es natürlich eine gewagte Annahme ist, dass dieser Ort zwangsläufig auch Bezugspunkt der Sternbilder gewesen sein muss.«

»Oberägypten, es handelt sich um einen Oasenort nahe der sudanesischen Grenze«, erklärte Tony.

Hanford nahm sich Zeit für sein Urteil. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, derartige Sternbilder gibt es und gab es in dieser Himmelsregion nie. Um so etwas zu sehen, müssten Sie sich einige Tausend Meilen, ich kann jetzt nur schätzen, weiter nördlich befinden. Außerdem scheint mir die Darstellung der Sternbilder etwas von dem abzuweichen, was wir heute sehen. Hier und hier gibt es Sterne, die besonders hervorgehoben worden sind … meines Wissens nach existieren solche Sterne nicht!«

Tony Tanner betrachtete aus den Augenwinkeln die Reaktion von Dorkas auf diese Einschätzung.

Dorkas wischte sich mit einer fahrigen Bewegung über das Gesicht und erblasste merklich. Dennoch hielt er sich gut. Er plauderte mit Hanford, verabschiedete ihn, ging sogar noch mit zu dessen wartender Ehefrau und schaffte es, sie mit einigen nicht einmal ungeschickten Komplimenten mit der Situation zu versöhnen.

 

Als er zusammen mit Tony den Weg zu seiner Wohnung antrat, war er wie ausgewechselt und starrte nur stumm vor sich hin.

Es hatte zu nieseln begonnen. Von der Straße stieg der Geruch von feuchtem Staub auf. Als sie sich Dorkas’ Wohnung näherten, legten einige Vorgärten einen süßlichen Blütenduft aus.

Dorkas bog in eine Straße ab, die Tony noch nicht kannte. Vor einem Schuhgeschäft hielt er an, öffnete die Ladentür und führte Tony durch den Lagerraum in den Hinterhof. Dort mussten sie über einen niedrigen Zaun klettern und standen dann vor einer Mauer, die einen Abstellplatz begrenzte. Die Stahltür sah in der Dunkelheit arg verrostet aus, aber sie quietschte nicht und sie ließ sich auch leise schließen, denn irgendein vorsorglicher Geist hatte an den entscheidenden Stellen Filzstücke angeklebt und war auch mit Fett und Öl nicht sparsam gewesen. Es ging noch eine Weile so weiter, wobei sie zuletzt in ziemlich kindischer Manier über die Trittsteine einer Rasenfläche hüpften, bis sie endlich durch den Keller in Dorkas’ Behausung vordrangen.

Beim ersten Schritt in den Flur bemerkte Tony den Geruch von Weihrauch. Es roch tatsächlich wie in einer orthodoxen Kirche kurz nach der Ostermesse.

Kaum war die Tür geschlossen, kroch Dorkas auf dem Boden herum und erneuerte einen Kreidestrich und einige Zeichen, die er vor die Tür gemacht hatte.

»Erlauben Sie mir die Bemerkung, dass ich Ihr Verhalten als ziemlich kindisch einstufe«, sagte Tony in gestelzter Höflichkeit. Das hartnäckige Schweigen von Dorkas hatte ihn verärgert.

Nachdem er einige kuriose Bewegungen vollführt hatte, die vermutlich seinem Rücken wohl tun sollten, bequemte sich Dorkas zu einer Antwort.

»So ihr nicht werdet wie diese Kinderlein, so steht es doch im Neuen Testament? Also warum die Aufregung?«

»Lenken Sie nicht ab, Dorkas.«

»Nun gut, es ist kindisch. Aber es soll auch nicht dem Verstand gefallen, sondern dem Unbewussten, verstehen Sie. Das ist ein magischer Kreis, sozusagen das Sicherheitssystem gegen Attacken aus anderen Dimensionen …«

»Ich verstehe – Sie fürchten den Besuch von Sarah.«

»Psst – vermeiden Sie bitte diesen Namen!« Dorkas blickte ernsthaft empört. »Sagen Sie mal, Herr Tanner, haben Sie eigentlich nie einen echten Gespensterroman gelesen? Da bekommt man doch das Grundwissen über diese Dinge. Also, keine Namen. Zweitens: Solche magischen Kreise und dieses Zeug sind total unsinnig, aber sie wirken unbewusst. Darauf kommt es an. Wenn unser, und damit meine ich auch das Ihre Werte solche, Unbewusstes auch nur Anflüge von Unsicherheit empfindet, kann das zu ernsthaften Konsequenzen führen. Sie kennen das, man hat das Gefühl, dass man eine Sache nicht kann und dann kann man sie tatsächlich nicht. Daher ist es also durchaus positiv, kindische Dinge zu tun.«

Bei dieser Erklärung beließ es Dorkas und begann mit der Routine des Nach-Hause-Kommens. Er versteckte sich hinter seiner Geschäftigkeit und wies jeden Versuch von Tony, mit ihm ins Gespräch zu kommen, höflich aber konsequent ab. Tony akzeptierte schließlich, obwohl er genügend Fragen hatte, und begann seinerseits, Sachen zu sortieren. In einer Tasche fand er einen harten Gegenstand. Er schaute ihn verblüfft an und knallte ihn dann lautstark auf den Küchentisch.

»Himmel, müssen Sie mich denn so erschrecken? Was ist das denn?«

»Dieses Ding hatte von Puttkammer in der Hand, als er verschüttet wurde. Ich habe es gestohlen. Irgendwann werde ich mir darüber Gedanken machen, wie viele Gesetze ich damit übertreten habe. Es fängt vermutlich mit Leichenschändung an.«

Ohne auf Tonys elegische Betrachtungen zu achten, nahm Dorkas den Stab und begutachtete ihn von allen Seiten. Dann geriet er in eine seiner Phasen heftiger körperlicher Aktivität, die auf den Betrachter ebenso überraschend wirkten wie der plötzliche Angriff eines Elefantenbullen auf den Jäger. Dorkas hüpfte über den Kreidekreis und wetzte das Treppenhaus hinunter. Seine Pantoffeln klatschten in eifrigem Rhythmus die Stufen entlang.

Es dauerte eine Weile, bis er mit einem kleinen verstaubten Kasten zurückkam. Sorgfältig kontrollierte er den Kreidestrich und stellte den Kasten auf den Küchentisch. Er musste eine Weile wischen und putzen, bevor er überhaupt den Verschluss entdecken konnte.

»Das gute Stück hat ganz hinten in der Ecke gestanden. Ich habe es sozusagen zusammen mit dem Laden übernommen.«

 

Der Kasten enthielt zwei goldene Stäbe, die in rechtem Winkel zueinander fixiert waren.

Mit Erstaunen bemerkte Tony, dass diese Stäbe große Ähnlichkeit mit dem von ihm mitgebrachten Stab hatten, den Dorkas nun vom Tisch nahm und sorgfältig zu den anderen legte.

Die Stäbe bildeten nun ein gleichseitiges Dreieck. Nichts geschah – was Tony nicht verwunderte, der auch nichts erwartet hatte, was Dorkas aber in verzweifelte Aufregung versetzte. Er pustete Staubkörnchen weg und verschob die Stäbe, bis sich ihre Enden berührten. Ein kaum wahrnehmbares Klicken erklang, als Metall auf Metall stieß.

Als hätten sie sich abgesprochen schwiegen die beiden Männer und hielten den Atem an. Und dann stieg von dem goldenen Dreieck ein Summen auf; zuerst schien es vom Gehör kaum zu erfassen, ein federleichtes Geräusch, das zwischen der Stille und dem Rauschen in den Ohren der beiden Männer pulsierte.

Dann gewann das Geräusch an Kraft, schwang sich in die Höhe, stieg empor und bäumte sich auf wie eine Riesenwelle, die einen flachen Strand überragt.

Dunkel wie das Dröhnen einer Bronzeglocke überschwemmte der Ton den Raum: Wellen fluteten näher, schienen die Körper der Männer bis in die kleinste Pore zu durchdringen und weiter ins Unendliche hinaus zu wandern. Langsam breitete sich wieder Stille aus. Aber es war eine andere Stille, neu und frisch und voll rosiger Erwartung.

»Was war das?«, stieß Tony hervor. Er legte die Hand auf den Bauch. Sein Solarplexus schien immer noch zu vibrieren.

Dorkas klatschte in die Hände. »Was das war? Das war genau das, was ich in diesem Moment brauchte. Es funktioniert also doch noch. Und ich befürchtete schon, alles wäre verloren und wir wären zu spät gekommen.«

Trotz der Eile, die seine Worte auszudrücken schienen, musste das Ritual des Teekochens vollzogen werden, bevor Dorkas endlich zu weiteren Erklärungen bereit war.

»Haben Sie Ovid gelesen oder einen anderen der antiken Schriftsteller? Natürlich nicht. Denn sonst wüssten Sie, dass man noch in der römischen Zeit bei Sonnenfinsternissen und Mondfinsternissen große Gongs geschlagen hat, um dem Gestirn zu helfen.«

»Punkt eins: Meine literarische Bildung stand nicht zur Debatte. Punkt zwei: Die Chinesen machen doch heute noch Lärm, um den Drachen zu verjagen, der die Sonne verschlingen will. Eine ziemlich primitive Vorstellung. Aber was hat das mit diesem – Klang zu tun? Ich habe immer noch ein Vibrieren im Bauch.« Tony rieb sich unwillkürlich über den Leib.

»Vorsicht – primitive Vorstellungen sollte man nie unterschätzen. Sie sind nämlich nicht, wie man oft glaubt, Ausdruck eines Denkens, das sich noch nicht genug entwickelt hat. Im Gegenteil – derartiger Aberglaube ist oft ein Verfallsprodukt alten Wissens – etwas sehr Wertvolles! Es geht nämlich ursprünglich nicht darum, Lärm zu machen, sondern darum, die Klänge zu stärken, die das Universum durchfluten. Die Melodie der Welt – verstehen Sie?«

»Die Melodie der Welt – Nein!«

»Ich hatte es befürchtet. Also, im Kurzdurchlauf – Pythagoras, die Sphärenharmonien, der heilige Laut Om, der heilige Namen Gottes, das Glöckchen bei der Wandlung in der katholischen Messe, Beschwörungsformeln – alles ist Klang. Die Welt ist von Klängen, Tönen und Harmonien durchzogen. Verstanden? – Na endlich. – Das, was gerade geschehen ist, wurde in der Antike als Reinigungszeremonie durchgeführt. Und zwar nur innerhalb bestimmter Kreise – der Priesterschaft, einigen Sekten, bei Mysterieneinweihungen. Der Witz ist, dass nur Personen in unmittelbarer Nachbarschaft diesen Effekt bemerken. Wären Sie eben im Nebenzimmer gewesen, hätten Sie vielleicht gemerkt, dass sich Ihre Laune etwas bessert, aber Sie hätten womöglich den Ton nicht gehört. So konnten sich also beispielsweise die Priester hinter einem Vorhang versammeln, sich reinigen und dann ihren Pflichten nachkommen, ohne dass Zuschauer etwas bemerkten.«

»Eine hübsche Geschichte. Und so aufregend neu.«

Dorkas äugte misstrauisch zu Tony hinüber und brauchte eine Weile, bis er die Ironie in dessen Worten erkannte. »Sie glauben also, ich würde mir wieder was aus den Fingern saugen? Sie haben doch selbst bemerkt, dass es funktioniert. Und dass solches Wissen nicht alle Tage auf dem offenen Markt gehandelt wird, sollte Sie auch nie mehr erstaunen. Tatsache ist, dass es eine ganze Reihe solcher Stäbe in unseren Museen gibt. Sie wurden aber immer entweder als Schmuckstück oder als Rollsiegel eingestuft. Der Witz ist – das ist nicht einmal falsch. Aber keiner ist auf den Gedanken gekommen, dass diese kleinen Dinger einen ganz anderen Effekt haben, wenn man sie zusammenlegt. Also, die Priester konnten so etwas als Siegel benutzen, aber sie nutzen die Stäbe eben auch auf diese spezielle Art.«

»Woher kommt die Energie, die für diese Lauterzeugung notwendig ist?«

»Jedenfalls nicht aus der Autobatterie, wie bei den Idioten, die hier nachts mit aufgedrehter Stereoanlage vorbeifahren. Ich weiß es nicht genau. Vielleicht ist es die Luftelektrizität, denn diese Stäbe bestehen aus mehreren Schichten von Metallen. Jedenfalls, und das war meine Befürchtung, könnten schon gewisse Dinge geschehen sein – ich brauche jetzt wohl nicht in die Einzelheiten zu gehen – die diesem uralten heiligen Instrument die Kraftquelle entziehen. Wie sehen, beziehungsweise gehört haben, ist das nicht der Fall. Zum Glück.«

»Wo kommen die beiden Stäbe her, die schon in dem Kasten waren?«

»Ich habe wirklich keine Ahnung. Aber es gibt vergleichbare Objekte aus verschiedenen Kulturen. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass von Puttkammer diesen Stab in einem Grabmal gefunden hat.«

»Wieso? Es ist doch naheliegend, einen derart wertvollen Gegenstand auch mit in die andere Welt zu nehmen?«

»Diese andere Welt ist die Welt des Schweigens und der Schatten. Das ist so, als würden Sie mit einem dröhnenden Transistorradio durch ein Museum ziehen wollen. Es gäbe die Möglichkeit, dass man nicht wusste, um was für einen Gegenstand es sich handelte und ihn daher als bloßes Schmuckstück in die Grabkammer legte. Aber das halte ich für unwahrscheinlich. Ich glaube, dass die – wer immer es auch war – die Stäbe verschwinden lassen wollten. Ein reinigender Klang gehörte nicht in ihr Konzept. Und damit wären wir bei den Sternbildern in der Grabkammer …«

 

Dorkas beendete seinen Satz mit einem großen Fragezeichen, das im Raum stehen blieb, und schaute Tony erwartungsvoll an.

Der fühlte sich unbehaglich wie bei einer Schulprüfung in Mathematik und hatte genauso wenig Ahnung, was man von ihm wollte.

Endlich fuhr Dorkas mit einem Seufzer fort: »Die dritte Genesisvariante – die Sterne, die am Himmel verrückt geworden sind. Da haben wir den Beweis.«

»Den Beweis wofür?«

»Den Beweis dafür, dass …« Dorkas kam ins Stottern, » … nun, dass, dass …«

»Dass sich einige altägyptische Maler einen Anflug von Fantasie leisteten? Oder wir haben es mit einer Erinnerung an einen alten Wohnort zu tun, bevor sich die Stämme auf eine Wanderung machten? Das ist wohl die naheliegendste Erklärung.«

Dorkas vermied eine Diskussion und erklärte, er sei müde und müsse jetzt schlafen. Dann kam er aber noch einmal in die Küche und zeigte Tony eine Zeitung.

Der ahnte das Schlimmste. »Bitte nicht wieder dieser Unfug mit dem Mondkind«, bettelte er.

Dorkas lächelte milde, mit einem Anflug von Boshaftigkeit. »Herr Tanner, Sie sollten inzwischen etwas vorsichtiger mit der Bezeichnung Unfug umzugehen gelernt haben. Hier …« Dorkas blätterte die Seite 3 der Zeitung auf und deutete auf das Foto eines Mädchens, das verwirrt und verwahrlost in die Kamera starrte. Vermisstes Mädchen an den Docks gefunden titelte die Schlagzeile.

»Hören Sie«, maulte Tony Tanner, »mein soziales Gewissen schwindet bei zunehmender Müdigkeit. Also lassen Sie uns morgen über das traurige Schicksal dieser Ausreißerin sprechen.«

»Sie behauptete, von einem Außerirdischen vergewaltigt und gefangen gehalten worden zu sein«, sagte Dorkas ruhig.

Tony verspürte wieder dieses Kribbeln im Nacken. Kein gutes Zeichen, denn es bedeutet, dass Dorkas wieder mal einen seiner Geschichten in der Hinterhand hatte. Tony schüttete sich den letzten Rest Tee aus der Dreiliterkanne ein und beugte ergeben den Kopf.

»Zu diesen Vorgängen kann ich Ihnen bei Gelegenheit gern die Interpretationen eines gewissen Mr. Mac Morley weitererzählen, die möglicherweise nicht ganz unvernünftig sind. Aber das vielleicht ein anderes Mal. Ich höre …«, sagte er.

»Besagtes Mädchen verschwand vor vier Monaten und tauchte erst, obwohl die Polizei intensiv suchte, gestern wieder auf. Sie behauptete, wie gesagt, von einem Außerirdischen vergewaltigt worden zu sein. Sie habe dann ein Kind geboren und sei frei gelassen worden.«

»Laut Mac Morley dürfte das ein Ablenkungsmanöver sein, das den wahren Vater verheimlichen hilft. Wissen Sie denn, wie viele sogenannte Kinder von Außerirdischen auf dieser Welt sind? Mehr als je auf einem Rücksitz eines Morris Minor gezeugt wurden – und das will was heißen!«

»Die Ärzte habe das Mädchen untersucht. Sie sind der Meinung, dass kurz vorher eine normale Geburt stattgefunden haben muss.«

»Sie konnte also fünf Monate lang ihre Schwangerschaft verheimlichen, verschwand für vier Monate, bekam das Kind und tauchte wieder auf. Vielleicht eine Geschichte für ein Romänchen. Oder hatte sie eine Fehlgeburt?«

»Ich meine eine normale Geburt.«

Tony kratzte sich am Kopf. »Also der ideale Plot für einen Liebesroman!«

»Vielleicht für einen Science-Fiction-Liebesroman, Herr Tanner. Denn hier haben wir den Knackpunkt. Zwei Tage vor ihrem Verschwinden – und nun fragen Sie mich nicht, aus welchen Quellen ich diese Information habe – war sie mit ihrer Mutter bei einem Gynäkologen. Und der stellte beiläufig fest, dass sie eine virgo intacta, also unberührt, war. Zwei Tage später verschwand sie.«

»Die Geschichte der menschlichen Sexualität beweist, dass eine Jungfernschaft innerhalb von fünf Minuten verabschiedet werden kann. – Natürlich nur, wenn der Typ das Mädchen wirklich lieb hat. Sonst zwei Minuten.«

»Das finde ich nicht witzig, Mr. Tanner. Das Mädchen war wegen einer Erkrankung beim Arzt. Und deswegen musste sie auch in den nächsten zwei Tagen das Bett hüten. Da ist also nichts mit einem Liebhaber. Und vor allem eines ist damit noch nicht geklärt: Nehmen wir an, sie hatte tatsächlich etwas mit einem Mann, wie kann es nach vier, ich wiederhole vier, Monaten zur Geburt eines lebensfähigen Kindes kommen? Das fällt uns doch etwas auf!«

»Normale Geburt bedeutet noch nicht, dass das Kind lebensfähig war, denke ich, Herr Dorkas. Aber nehmen wir den Fall einmal an, es gebe ein lebensfähiges Baby, das nur vier Monate getragen wurde. Eine Art Superfrühchen. Hat das etwas mit Ihrem Mondkind zu tun?« Tony fasste sich wieder auf den Leib.

»Mag sein, dass Ihre Bedenken richtig sind. Doch sehen Sie die Fakten: Eine normale, junge Frau verschwindet. Da ist sie noch Jungfrau. Nach vier Monaten ist sie wieder da, hat ein Kind zur Welt gebracht, erinnert sich an kaum etwas, kann nicht sagen, wo sie war, was mit dem Kind geschah. Sie kommt nicht aus asozialen Verhältnissen und hat ein verständnisvolles, aufgeklärtes Umfeld. Kein Grund, warum sie etwas verheimlichen sollte. Zumindest ist die Sache kurios. Das Mädchen war in einem total verwirrten Zustand. Aus dem Artikel war nur zu entnehmen, dass der Leiter einer renommierten Privatklinik zu einer kostenlosen Behandlung bereit war.«

»… womit dieses Mädchen derzeit also aus der Öffentlichkeit verschwunden wäre«, ergänzte Tony nachdenklich.

»Richtig. Und hier ist ein leises Misstrauen angebracht. Leider weiß ich noch nicht, um welche Klinik es sich handelt. Aber das finde ich heraus. Übrigens sollten Sie jetzt endlich schlafen gehen. Morgen …«, Dorkas schaute aus kleinen Augen zur Uhr, »heute stehen uns noch eine Menge Aufgaben ins Haus.«

 

Der folgende Morgen seines Lebens erfreute Tony Tanner mit dem Anblick eines auf dem Boden herumkriechenden Dorkas, der sein voluminöses Hinterteil wacker in die Luft streckte, ein Körperteil übrigens, dessen Anblick auch bei einem weniger zur Boshaftigkeit neigenden Menschen wie Tony Tanner sofortige Assoziationen an die hintere Hälfte eines belgischen Kaltblüters ausgelöst hätte.

»Sind Sie zwecks Ausübung Ihrer morgendlichen Parterregymnastik dem Teppich Ihrer Behausung so nahe gekommen?«, erkundigte sich Tony hinterhältig, denn wenn er auch den Sinn von Dorkas’ Aktion nicht durchschaute, so verbot schon die Fasson des einzigen Mitwirkenden dieser Vorstellung jeden Gedanken an eine sportliche Veranstaltung.

Dorkas hatte einige Karten auf dem Teppich ausgebreitet und versuchte nun, durch Verschieben und Aneinanderlegen einen Zusammenhang herzustellen. Eine Weile war er damit beschäftigt, lange genug, um Tonys spöttisches Lächeln wieder verschwinden zu lassen.

Schnaufend richtete sich Dorkas auf. »Ich verstehe es nicht«, sagte er enttäuscht.

»Was verstehen Sie nicht?«

»Die Karte, die ich aus dem Zimmer jener Dame, der zu Ehren diese Zimmer jetzt nach schützendem Weihrauch duften, geholt und kopiert habe. Ich kann sie mit keiner realen Geografie in Verbindung bringen.«

»Vielleicht gibt es keine dazu passende wirkliche Landschaft.«

Dorkas schlurfte in die Küche und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Die Hoffnung darauf, einen Tee zu bekommen, trieb Tony in dieselbe Richtung.

»Es könnte doch gut sein«, führte er seinen Gedanken weiter aus, »dass diese Karte gar nichts mit Geografie zu tun hat, sondern viel mehr mit Romantik und Fantasie. So etwa wie diese Landschaften der Liebe aus dem 17. Jahrhundert.«

Eine Weile dachte Dorkas nach, den Kopf in die Hände gestützt, und schaute dabei aus dem Fenster auf den verlassenen Hof. »Nein«, sagte er dann energisch, als hätte er sich zu einer abschließenden Beurteilung durchgerungen, »eine paysage d’amour passt nicht zu ihr. Person X tändelt nicht und grübelt nicht, Person X handelt. Davon bin ich fest überzeugt, auch wenn es mir absolut nicht weiterhilft.«

»Wer sagt Ihnen, dass diese Karte wirklich von – äh, dieser Person X stammte?«

Dorkas schaute Tony aufmerksam an. »Wie meinen Sie das?«

»Nun ja, wenn Ihnen jemand diese Karte klauen würde, dann würde er wahrscheinlich davon ausgehen, dass es Ihre Karte ist, weil sie in Ihrer Wohnung war. Aber tatsächlich ist die Karte nicht ursprünglich aus Ihrem Besitz. Genauso könnte es im Fall der Person X gewesen sein.«

Die Beine von Dorkas wurden nach vorn ausgefahren, der Oberkörper fiel nach hinten, und dieses Mal fixierte Dorkas einen Punkt an der Decke, während seine Finger nervös auf der Tischplatte trommelten. »Stimmt«, stellte er fest. »Ich bin einem logischen Fehlschluss erlegen. Tatsächlich war der Zustand der Originalkarte so, dass es sich um eine Kopie gehandelt haben könnte. Leider habe ich nicht genau darauf geachtet. Tja, dann ist es natürlich möglich, dass auch Person X nicht wusste, welche Bedeutung die Karte hatte!«

»Wenn es denn überhaupt eine Bedeutung gibt«, tröstete Tony und nahm auch zur eigenen Beruhigung einen Schluck Tee.

»Es gab da einen etwas schwierig erklärbaren Vorfall, der mich von der Wichtigkeit dieser Karte überzeugt hat. Aber das alles bringt uns nicht weiter.« Dorkas setzte sich wieder zurecht und schaute Tony finster an. »Nehmen wir mal an, Sie würden auf der Straße einem Mann begegnen und hätten plötzlich das unüberwindliche Bedürfnis, Ihre Faust in seinem Gesicht zu versenken – was würden Sie dann denken?«

Tony zuckte nachlässig die Achseln. »Ich würde zunächst denken, dass ich meinem Kollegen Heathercroft begegnet bin. Und dann würde ich denken, dass ich dem Bedürfnis nicht unbedingt widerstehen sollte.«

»Ganz falsch. Sie sollten sich überlegen, ob dieser Gedanke wirklich von Ihnen stammt oder sozusagen implantiert worden ist – von außen!«

»Könnte es sein, dass Sie mein Leben wieder etwas komplizierter gestalten wollen, Dorkas? Soll ich demnächst meinen Schädel in Alufolie einwickeln, oder haben Sie vielleicht zufälligerweise einen Schutzhelm gegen Einflüsterungen aus der vierten Dimension in Ihrem Laden? Und nun fragen wir uns, bin ich aggressiv, weil Sie mir auf den Wecker gehen – oder lacht sich Freundin Sarah gerade jetzt eins ins Fäustchen? Es wird wohl Zeit, mir einen Kreidekreis um den Kopf zu malen. Oder noch besser: Wir machen die Reinigungsklänge in dem Moment, wo Sarah hier eintritt …«

Dorkas zuckte bei der Nennung des Namens Sarah zusammen und wedelte mit der Hand, als wolle er einen üblen Rauch aus dem Zimmer vertreiben. »Grundsätzlich«, sagte er, und man konnte seiner Stimme anmerken, dass er sich bemühte, ganz ruhig zu bleiben, »grundsätzlich ist das Leben tatsächlich kompliziert. Oder auch nicht. Es kommt ganz auf die Sichtweise an. Ich will Sie lediglich darauf hinweisen, dass in der jetzigen Situation etwas Selbstkontrolle nötig ist. Es soll keine Drohung sein, keine düstere Prophezeiung, sondern lediglich eine Bitte um etwas Aufmerksamkeit. Keine Meditation – fangen Sie jetzt bloß nicht mit so was an – keine geistige Aerobic. Einfach die Frage, was tue ich jetzt, warum tue ich es?. Ist das zu viel verlangt?«

»Wieso kommen Sie mir jetzt mit so was?« Jawohl, ich bin misstrauisch und ich weiß, warum, dachte Tony Tanner, als er diesen Satz aussprach.

Dorkas grinste: »Erstens überhaupt. Zweitens hatte ich Gelegenheit, während Sie es bevorzugten, sich in Morpheus Armen auszuruhen, einen kleinen Blick in einschlägige psychologisch-esoterische Werke zu werfen, und drittens, und das ist der Hauptgrund, habe ich gestern absoluten Mist gebaut.«

»Dorkas, woher kommt diese Selbstkritik, das war doch nicht etwa Sar …«

»Nicht dieser Name«, zischte Dorkas dazwischen, und das bisschen Selbstgefälligkeit verflog vollständig. »Fakt ist, aber darauf bin ich leider zu spät gekommen, dass meine Aktion mit den Stäben ungefähr so hilfreich war, als würde ich ein Feuerzeug in einen Benzintank werfen.«

Mit schräg gelegtem Kopf wartete Dorkas darauf, dass Tony angesichts dieses farbigen Bildes Anzeichen von Erschütterung zeigte.

Aber Tony lächelte nur versonnen und dachte daran, dass es für Dorkas nichts Ungewöhnliches wäre, ein Streichholz in einen Benzintank zu werfen.

»Verstehen Sie«, fuhr Dorkas schließlich fort, »es war eine Art Feuerwerk, ein Fanal, ein Signal …«

»Ich verstehe, Sie meinen, dass jetzt diese idyllische Straße von Wesen aus der anderen Dimension bevölkert wird.« Tony prustete vor Lachen. »Seit dreihundert Jahren kann man in diversen Schlössern des britischen Adels zum ersten Mal wieder richtig schlafen, weil die Weiße Frau unterwegs zum Feuerwerk ist. Verzeihung, die Vorstellung hat einen leicht komischen Aspekt, mein Lieber!«

»Es gibt Menschen«, schnaufte Dorkas, »die können alles ins Lächerliche ziehen. Aber selbst wenn diese Eigenschaft heutzutage mit Witz und Intelligenz verwechselt wird, ist sie selten hilfreich. Sie wissen genau, was ich meine. Es geht nicht um feinstoffliche Überbleibsel zart besaiteter adliger Fräuleins, sondern um einen Gegner, der angetreten ist, weil er siegen will. Und sollte er siegen, dann gnade uns Gott. Und jetzt ist Schluss mit diesen Kindereien. Wir haben etwas zu besprechen. Aber vorher muss ich ins Bad.«

 

Dorkas rauschte ab, und Tony hatte eine Minute, in der er sich in aller Ruhe darüber klar werden konnte, dass er keine Lust auf Geschirrspülen hatte und dass dieser Lustmangel in einem Teil seines ureigensten, männlichen, haushaltsfeindlichen Wesens wurzelte, als das Telefon klingelte.

»Gehen Sie bitte dran«, schrie Dorkas durch die Badezimmertür.

Tony meldete sich mit »Hier bei Dorkas«. Einen Moment hatte er nur das Rauschen in der Leitung, und es schien fast so, als sei die Verbindung zusammengebrochen, aber dann bat ihn eine Stimme, Dorkas an den Apparat zu holen. Es war eine tiefe, klingende Stimme, die gewohnt zu sein schien, große Räume zu füllen, und sie hatte einen deutlichen italienischen Akzent. Pflichtgemäß streckte Tony das Spiralkabel des Telefonhörers und schob diesen durch den Spalt, um den Dorkas seine Badezimmertür öffnete. Da Dorkas den Wasserhahn laufen ließ und daher laut sprach, konnte Tony das Gespräch mit anhören.

Eigentlich war es kein richtiges Gespräch, denn Dorkas begnügte sich mit Stichworten wie Sofort?, Nizza? und pelidianisches Fragment. Einige Wirklich! und Ist das so, ist es nicht? waren auch noch zu vernehmen, vermochten für Tony aber nicht zu größerer Sinnfindung beizutragen.

Dann allerdings geschah etwas gänzlich Unerwartetes: Dorkas stürmte, ein Handtuch um die nasse Hüfte, aus dem Bad, warf Tony den Hörer zwecks Auflegen zu, und begann, Reisevorbereitungen zu treffen. Tony war dermaßen verblüfft, dass ihm jedwede Bemerkung im Halse stecken blieb. Allerdings schwante ihm auch, dass er seinerseits gefordert sein würde.

Unauffällig beäugte er die Dinge, die Dorkas in einen offensichtlich neuen Koffer quetschte. Aus der Auswahl der Kleidungsstücke war nur zu schließen, dass Dorkas entweder zu einer Swinger-Party auf die Bermudas oder zum Extrem-Trekking in die höheren Lagen des Himalaja aufbrach, aber beide Varianten konnten Tonys Neugier nicht stillen. In seiner Verzweiflung begann er, mit Dorkas’ heiligen Töpfen Tee zu kochen, aber schließlich fragte er doch – und holte sich eine glatte Abfuhr.

»Ich bin gleich fertig!«, sagte Dorkas nur. Nach einer Weile schleifte er den Koffer in den Flur und musste sich der Tatsache stellen, dass Gepäckstücke nicht nur Volumen, sondern auch Gewicht haben. Immerhin war Dorkas jetzt auch völlig bekleidet, allerdings in einer Weise, dass seine Ehefrau, wenn er eine gehabt hätte, die Worte Total farbenblind! hervorgebracht hätte, ehe sie vor Scham im Erdboden versunken wäre.

Inzwischen hatte Tony den Tee zubereitet und sich ebenfalls um seine Kleidung gekümmert. Dabei hatte er den Zettel gefunden, der ihn in Kairo zu der sufitischen Vereinigung geführt hatte. Er legte den Zettel achtlos auf den Küchentisch und ging wieder nach nebenan.

Ohne große Begeisterung sortierte er Hemden und Unterwäsche, als aus dem Nebenraum ein Schrei ertönte. Tony fuhr auf, sprang durch die Tür und prallte mit Dorkas zusammen, der in Gegenrichtung unterwegs war.

»Woher haben Sie das?«, fragte Dorkas und hielt den Zettel wie eine Reliquie vorsichtig zwischen den Fingerspitzen. Ganz ohne Zweifel hatte Dorkas den Zusammenprall besser überstanden als Tony Tanner, der nach Luft schnappend auf den Boden gesackt war.

Nachdem er wieder zu Atem gekommen war, erklärte er die Herkunft dieses Zettels.

»Ich glaube, diese Schrift zu kennen«, sagte Dorkas und lieferte damit zugleich eine Begründung für sein Erstaunen. »Ich glaube, nein, ich bin sicher, dass es die Handschrift von Fritz Weiss ist.«

Er ließ sich auf den Stuhl plumpsen und verbrachte die nächste halbe Stunde damit, Tony einem inquisitorischen Verhör über alle Vorgänge rund um die Sufi-Schule zu unterziehen.

Bisher hatte Tony weder Zeit noch Lust gehabt, alle Ereignisse zu berichten, nun aber quälte er sich, unterbrochen von Fragen, Nachfragen und Nachfragen zu Nachfragen durch seine Erinnerungen. Gut, dass jetzt duftender Tee auf dem Tisch stand.

»Können Sie sich an die Schnitzerei an der Tür erinnern, auf die der Mann deutete?«

»Nein, ich …«

»Wie sah der Mann genau aus?«

»Also, ja, er hatte … eine Nase eben …« Am Schluss jammerte Tony nach neuem Tee, und Dorkas zeigte wieder Anflüge von ehrlicher Fürsorge für seinen Gast.

»Welche Bedeutung hatte dieser Mann?«, fragte Tony schließlich, mehr als Ablenkung, denn aus Interesse.

»Keine Ahnung«, antworte Dorkas. »Aber wenn er eine Bedeutung hat, dann wird er zu uns finden. Die Dinge entwickeln sich. Ich gehe auf eine Reise. Und für Sie habe ich auch eine Aufgabe. Es gibt das sogenannte peladianische Fragment, benannt nach dem ersten Besitzer, dem Achille Peladiano. Ein venezianischer Kaufmann des 14. Jahrhundert übrigens, aber das tut nichts zur Sache. Dieses Fragment ist Teil einer altpersischen Städtepalette, einer Art Landkarte. Das Fragment ist der wichtigste Teil für uns. Beschaffen Sie dieses Fragment oder machen Sie wenigstens eine Fotografie davon. Seit 1755 ist der Verbleib unklar. Aber seit eben wissen wir, dass es sich in einer Privatsammlung befindet. Und darum«, Dorkas lehnte sich genüsslich zurück, »werden Sie jetzt schnellstens nach Nizza aufbrechen.«

»Was war das für ein Anrufer?«, machte Tony noch einen letzten neugierigen Anlauf.

»Ich denke, Sie haben gelauscht, ist es nicht so?« sagte Dorkas und zupfte sich zweideutig am Ohr. »Aber wie dem auch sei – Destination ist Nizza. Welchen Koffer soll ich diesmal für Sie holen?«

»Ich nach Nizza?«, sagte Tony Tanner. »Nach Nizza? Den Teufel werde ich tun!« Und nach einer Weile ergänzte er mit erschöpftem Schnaufen: »Holen Sie den Karierten mit dem Lederhenkel!«

***

Nizza empfing Tony Tanner mit einer Sinfonie von Blau und Grün. Als er am Morgen auf den Balkon seines Hotelzimmers trat, wölbte sich ein tiefblauer Himmel über der Bucht, das Meer schimmerte verführerisch, Wellenkämme schäumten marmorweiß auf und verschwanden sanft wieder im trägen Dunkelblau, als würde sich eine Schar von neckischen Wasserwesen mit einem Versteckspiel vergnügen. Tanzende Blütenblätter auf der Straße markierten den Weg des erfrischenden Windes, der den würzigen Duft von Salzwasser, Waldboden und Gewürzen mit sich trug.

Tony lehnte sich an das Geländer und genoss mit geschlossenen Augen die sanfte Wärme der Sonne, die ihn einhüllte wie ein kostbares, safrangelbes Gewand. Es war einer dieser Momente, die ewig dauern sollten, in denen das Leben plötzlich die Form annimmt, die es immer haben sollte und selten wirklich hat. Nach einer Weile verabschiedete sich Tony Tanner seufzend aus diesem zeitlos paradiesischen Zustand und ging zurück in sein Zimmer. Er war nicht zum Vergnügen hier – Dinge mussten getan werden, die vielleicht das Schicksal dieser Erde mitbestimmten. Außerdem hatte er Hunger.

Derart motiviert verlegte Tony Tanner das Feld seiner Aktivitäten in den Frühstücksraum und schaffte es in der nächsten anderthalben Stunde, dem Ruf der Engländer als trunksüchtige und krakeeleifrige Fußballfans denjenigen der grausamen Plünderer von Frühstücksbuffets hinzuzufügen – zumindest in den Augen des moderat entsetzten Personals.

Während Tony munter kaute, dachte er daran, dass es sehr angenehm wäre, diesen Genuss mit einer gut ausgeschlafenen und hübsch proportionierten Person weiblichen Geschlechts zu teilen. Mit Francine zum Beispiel. Oder mit … na ja, dachte er dann, belassen wir es bei Francine. Vorerst.

Aber als er zum wiederholten Male einen vollen bis übervollen Teller an seinen Tisch zurückbrachte, fiel ihm ein, dass Francine ihn schon längst mit ihren weiblich unfairen Hinweisen auf Cholesteringehalte, Übersäuerung des Blutes und – ihr boshaftester Trick – mit scherzhaften Hinweisen auf anwachsende Taillenmasse gebremst haben würde.

Manchmal, so stellte Tony Tanner fest, war ein Mann sich selbst genug. Nur ich und meine Gabel.

»Monsieur Tanner? Hier ist ein Telefax für Sie.« Der Kellner hielt Tony das Papier boshaft hin, und Tony war gezwungen, das Blatt mit melonensaftgetränkten Fingern anzufassen.

Heathercroft schien wirklich eine Menge Leichen im Keller zu haben, so wie der sich ins Zeug gelegt hatte. Das Fax enthielt eine Reihe von Adressen bekannter Kunstsammler in Nizza. Darunter stand die Frage: »Was ist der Posten Pyrotechnik, diverse in deiner letzten Spesenabrechnung? Die Numero Uno würde das gern wissen, hat aber schon abgezeichnet. PS. Ich muss dich unbedingt mal sprechen.«

Tony lächelte befriedigt. Pyrotechnik, diverse klang irgendwie wesentlich seriöser als Raketengeschoss, panzerbrechend, russisch und Munition, Pistole. Aber irgendwann musste er sich wohl doch etwas einfallen lassen, um seinem Vorgesetzten eine befriedigende Erklärung zu liefern. Irgendetwas mit den Jungs vom Sicherheitsdienst, denen er im Ausland aushelfen musste …

 

Das Hotel, in dem er logierte, lag etwas außerhalb von Nizza an einem Hang oberhalb der Straße, die an der Küste entlang nach Villefranche führte. Es war ein exklusives Haus in schönster Umgebung, und jedem, der das Gebäude erblickte, war klar, dass ungeheure Mengen an Schmiergeld geflossen sein mussten, um die Baugenehmigung für das Fleur de Nice zu erhalten. Entsprechend astronomisch waren die Preise, aber das hätte Tony Tanner nur dann gestört, wenn er selbst bezahlt hätte. Das war nicht der Fall, denn er befand sich wieder auf einer offiziellen Mission, deren Spuren, so war zumindest zu hoffen, sich in dem Dickicht der Amtsbürokratie zwischen Tea-Time und vorzeitigem Arbeitsschluss am Freitagnachmittag verlaufen würden.

Eine Kunstausstellung, zu deren Schirmherren auch ein Mitglied der Royals gehörte, sollte in den nächsten Monaten konzipiert und zusammengestellt werden, und er, Tony Tanner, wollte vorfühlen, ob die Herren Sammler bereit wären, einen Teil ihrer Schätze als Leihgaben für das Victoria and Albert zur Verfügung zu stellen. Das Ganze war plausibel und dabei derart schwammig und nebulös, dass es nie Nachfragen geben würde.

Tony war nicht wenig stolz auf seinen Geniestreich, musste sich aber bald darauf in der Kunst der Frustrationsbewältigung üben. Als er dem Portier seine Liste zeigte und von seiner Absicht berichtete, bekam er als Antwort ein Grinsen, das von Ohr zu Ohr reichte.

»Der da«, der Portier tippte auf die letzte Adresse, »den können Sie vergessen, sobald es um antike Kunst geht. Der ist bekannt dafür, dass er nur den modernsten Kram sammelt. Er hat den ganzen Park voller Skulpturen – es sieht dort meistens aus, als wäre ein ganzer Jumbojet voller Gerümpel abgestürzt, wenn Sie mich fragen, aber heutzutage ist ein Haufen Schrott eben moderne Kunst.«

Der Finger des Portiers fuhr die Liste herauf. Ein Kichern sorgte dafür, dass der gesamte Leib des korpulenten Mannes in Vibration geriet.

»Den können Sie auch streichen. Der sitzt nämlich in Haft, irgendwo in Thailand. Er war ein bekannter Sammler erotischer Kunst, aber leider hatte er auch eine Vorliebe für kleine Mädchen. Ich müsste lügen, wenn ich ihn bedauern würde, das couchon, je’ais on vie de vomir …!«

 

Es war Abend, als Tony Tanner auf der Promenade des Anglaises auf einer Bank saß.

Hinter ihm rauschte der Verkehr, vor ihm öffnete sich die Bucht. Er hatte eine Unzahl an Telefonaten geführt, hatte mit schnippischen Sekretärinnen, schnöseligen Butlern und verständnislosem Dienstpersonal und in einigen Fällen sogar mit dem Besitzer der Kunstsammlung selbst gesprochen. Das Ergebnis war, abgesehen von einer Steigerung an Menschenkenntnis, gleich null. Alles hätte so wunderbar einfach sein können, und nun stellte sich diese Reise als weitere Abfolge von Hindernissen und Hürden dar.

Warum wollte Dorkas keine japanischen Erotika, keine rumänische Zigeunerkunst oder keine äthiopischen Ikonen? Das alles war hier leicht zu bekommen. Warum musste es dieses peladianische Fragment sein, von dem die wenigsten Menschen überhaupt je gehört haben.

Außerdem war Tony inzwischen klar geworden, dass es zwei Sorten von Sammlern gab, nämlich diejenigen, die sich mit ihrer Sammlung brüsten wollten, und diejenigen, die eine Privatsammlung als unantastbaren Teil ihres Intimlebens betrachteten.

Letztere Sorte, das war klar, hatte kein Interesse an Öffentlichkeit, sondern wollte Kunstwerke in einer Mischung aus fast krimineller Besitzgier und religiöser Ergriffenheit ganz für sich allein haben. Selbst wenn einer dieser Kunstanbeter das peladianische Fragment besitzen sollte, so würde er dies nie zugeben – schon allein deshalb, weil Skrupellosigkeit in der Beschaffung der gewünschten Werke, im Klartext Kunstraub, zu den Eigenheiten dieser kleinen, aber finanzkräftigen Sammlerszene gehörte.

Es war gut möglich, dass irgendein Millionär, ein gesellschaftlicher Aufsteiger, der in dieser Stadt als Muster eines Kulturbanausen galt, irgendwo in seiner geschmacklos-protzigen Villa eine Geheimtür hatte und dahinter eine kleine Kammer, in der Gemälde oder Skulpturen untergebracht waren, die den größten Museen der Welt zur Ehre gereicht hätten und die seit Jahren auf der Liste verschollener Weltkulturgüter standen.

Eine letzte Adresse stand noch auf seiner Liste, und bisher hatte er telefonisch nur einen Anrufbeantworter erreicht und vor einem verschlossenen Tor gestanden. Hier lag noch eine theoretische Chance, aber was war, wenn morgen oder übermorgen immer noch kein Kontakt zustande kam? Dann musste er sich unverrichteter Dinge zurück nach London aufmachen und sich vermutlich eine Strafpredigt seitens Dorkas anhören.

Überhaupt Dorkas! Plötzlich stieg blanke Wut in Tony auf. Was hatte er eigentlich mit diesem Menschen zu schaffen, was hatte dieser Dorkas für ihn getan, außer dafür zu sorgen, dass er in ebenso regelmäßigen wie kurzen Abständen deftige Prügel bezog und in Lebensgefahr geriet. Fahren Sie nach Nizza und holen Sie dieses Fragment oder fotografieren Sie es wenigstens, es ist wichtig.

Tonys Wut kollerte wie eine Steinlawine durch seine Gedanken. Wie kam dieser lächerliche Mensch Dorkas dazu, ihn in diese Situation zu bringen? In dieses französische Kaff, dieses steinerne Geschwür in einer überflüssigen Weltgegend.

Seine Hände zerfetzten die Adressliste und verteilten die Schnipsel im Umkreis.

Hatte ihn dieser Passant etwa schief angeschaut? Hatte dieser stinkige Franzmann etwa die Frechheit gehabt, ihn schief anzuschauen? Willst du Ärger haben, du Sack? Kannst du kriegen, ich bin gerade in Stimmung. Tony fuhr in die Höhe und ballte die Fäuste. Dorkas würde vielleicht Augen machen, wenn er statt geheimnisvoller Artefakte einen Bericht über eine Prügelei zurückbringen würde.

Aber der Name Dorkas wirkte wie eine Nabe, um die sich das Rad seiner Emotionen drehte.

Plötzlich war er wieder völlig ernüchtert und fand sich selbst, aus blutunterlaufenen Augen stierend und wie ein Betrunkener torkelnd, auf einer Promenade wieder. Er legte die Hände auf seine verschwitzte Stirn. Was hatte Dorkas noch gesagt? Achten Sie darauf, ob Ihre Gedanken wirklich von Ihnen stammen oder so ähnlich. War er, Tony Tanner, auf diese Welt gekommen, um Raufereien mit französischen Pensionären anzuzetteln? Wenn nicht, dann blieb nur eine Schlussfolgerung!

Er versuchte, den entsetzten und empörten Blicken der Umstehenden zu entgehen und floh, mehr als dass er ging, in Richtung des nächsten Taxistands.

 

Während der Fahrt zum Hotel versuchte er sich noch einmal daran zu erinnern, was ihm Dorkas eindringlich mit auf den Weg gegeben hatte.

»Wissen Sie, was ein Tsunami ist«, hatte Dorkas gefragt, kurz bevor Tony den Flieger bestieg, der ihn nach Nizza bringen sollte.

»Nein, aber ich werde das Zeug nicht essen.«

»Tsunami heißt auf Japanisch so viel wie große Welle im Hafen. Die Auswirkung eines Seebebens.«

»So was wird mich in Nizza kaum belästigen!«

»Halten Sie sich bitte einmal mit Ihren unqualifizierten Zwischenbemerkungen zurück. Was ich sagen will, ist Folgendes: Eine Riesenwelle entsteht, wenn irgendwo ein Energieausbruch ist – ein Vulkan oder ein Seebeben. Eine solche Welle kann über Tausende von Seemeilen unterwegs sein kann, ohne dass überhaupt etwas von ihr bemerkt wird. Kommt sie aber in die Nähe von Land, wird ihre Fortbewegung gestört und sie bäumt sich zu einer zerstörerischen Naturgewalt auf. Ist Ihnen das klar? Mit sieben- oder achthundert Stundenkilometern rast ein unbemerkter Wasserwall um die Welt – um in Sekunden irgendwo eine Katastrophe auszulösen!«

»Klar. Ich darf also nicht am Strand mit Förmchen spielen?«

»Ich versuchte, Herr Tanner, Ihnen mithilfe eines physikalischen Modells klarzumachen, dass Sie Ihre Sinne beieinander halten sollen. Denn wir wissen, dass Person X eine Energiequelle ersten Ranges darstellt, und wir wissen auch, dass Sie und in geringerem Maße meine Wenigkeit so etwas wie Inseln oder Untiefen in diesem – nennen wir es Energiefeld – darstellen. Was bedeutet, dass Person X also ihre Störwellen loslassen kann, die sich vermutlich mit Lichtgeschwindigkeit und global verbreiten. 99, 99 Prozent aller Erdbewohner werden davon nichts bemerken. Vielleicht könnte man eine statistisch relevante Erhöhung von Gewaltverbrechen oder Einweisungen in geschlossenen Anstalten registrieren. Aber wer macht sich schon diese Mühe? Fazit: Passen Sie auf sich auf. Das ist ernst gemeint.«

Natürlich hatte Dorkas es ernst gemeint. Aber Tony hatte ihn nicht ernst genommen; nicht wirklich jedenfalls. Jetzt hatte er dazugelernt, und es behagte ihm wenig.

 

Im Hotel saß immer noch, oder schon wieder, derselbe Portier am Empfang. Tony ließ sich den Zimmerschlüssel aushändigen.

»Ich hoffe, dass Sie heute Erfolg hatten?«, bemerkte der Portier freundlich und sah ganz so aus, als habe er genau bemerkt, dass Tony heute rein gar nichts gelungen war.

Wenn es etwas gab, wonach Tony im Augenblick nicht der Sinn stand, dann war es eine Diskussion über sein Tagewerk mit einem Hotelangestellten. Er wollte mit einem minimalhöflichen Es geht so abdrehen, aber dann stellte er sich das leere Zimmer vor, das ihn erwartete, und dieser Ausblick war noch weniger erfreulich.

»Sagen wir mal, ich bin viel herumgekommen«, antwortete er daher. »Sie scheinen ja kein Interesse mehr an Nizza zu haben, sonst würden Sie nicht ständig hier an der Rezeption arbeiten.«

Der Portier zuckte die schwabbeligen Schultern. »Was soll ich sonst tun? Meine Familie ist in Paris, meine Bekannten haben selbst Familie und wollen nicht ständig einen Besucher haben – da schiebe ich lieber eine Schicht mehr.«

»Vielleicht sollten Sie besser in Paris arbeiten, um wieder bei Ihrer Familie zu sein?«, schlug Tony vorsichtig vor.

Der Mann schaute Tony ein wenig traurig an, sortierte beiläufig ein paar Bestellungen, die vor ihm auf dem Tresen lagen, und schüttelte langsam den Kopf. »Soll ich Ihnen den Stapel an Bewerbungen zeigen, die ich abgeschickt habe? Glauben Sie bloß nicht, es wäre einfach, in Paris in einem guten Hotel eine Anstellung zu bekommen. Und in einer Klitsche will ich auch nicht arbeiten. So ab und zu sollte auch mal ein bisschen Prominenz vorbeikommen. Dann macht die Arbeit Spaß, und ich halte mich, bei aller Bescheidenheit, für einen ganz passablen Mitarbeiter. Ich hätte damals nicht im Ritz aufhören sollen – das war ein Fehler. Aber meine Kleine war so krank, und der Sommer in Paris hat ihr furchtbar zu schaffen gemacht. Wir sind nach Genf gezogen, da habe ich Arbeit im Grosvenor bekommen, war nicht schlecht. Aber meine Familie war dort auch nicht glücklicher.«

»Das verstehe ich nicht. Ein guter Bekannter in Paris von mir jammert ständig über die Schwierigkeiten, gutes Personal zu bekommen – nicht genügend qualifiziert, keine Lust auf die Arbeit, keine Fremdsprachen, schlampig – da kommen mir jedes Mal fast die Tränen!«

Tony Tanner lehnte die Unterarme auf den Tresen.

Während er noch sprach und an den Manager des Ville d’Or, einen Ernest Delaney, dachte, der ein wirklich guter Bekannter war, auch wenn ihn Tony im Verdacht hatte, für den MI 5 oder MI 6 oder MI-was-weiß-ich zu arbeiten, kam Tony eine Idee.

Er verließ den Portier mit der Bemerkung »will mal was versuchen …« und verzog sich in sein Zimmer, griff zum Telefon und verlangte eine Verbindung zum Ville d’Or. Erwartungsgemäß versuchte die Telefonistin in dem Pariser Hotel, ihn abzuwimmeln, aber es gab in solchen Fällen immer einige Passwörter, und in diesem Fall lautete es Monsieur Dupont ruft wegen der Rolltreppe an.

Nach einigen Sekunden meldete sich tatsächlich Delaney. »Hallo Ernie, hier spricht Tony Tanner …«

Sie hatten sich seit gut einem Jahr nicht mehr gesehen und brauchten daher eine horrende Telefongebühren fressende halbe Stunde, um Informationen über den Stand der Dinge auszutauschen: über die Arbeit, die Familie, die Gesundheit, um dann langsam zu den wirklich wichtigen Themen des Lebens wie Fußballvereine, Boxer und neue Witze zu kommen.

Schließlich rückte Tony, nachdem sie eine weitere Weile ausführlich geblödelt hatten, mit seinem Anliegen heraus.

»Ich glaube, du brauchst einen wirklich guten Portier.«

»He, machst du jetzt auf Arbeitsamt?«

»Sagen wir mal, ich tu dir einen Gefallen, damit du mir einen Gefallen tust, damit er mir einen Gefallen tut.«

»Ich habe das sofort verstanden, je ne suis pas stupide, Tony. Ist der Mann denn wirklich brauchbar? Man tut keinem einen Gefallen, wenn man ihn nach der Probezeit wieder auf die Straße setzen muss, weil er nichts bringt.«

»Er sieht aus wie ein Walross, aber er hat einen Blick für die Menschen. Er ist nett – auf die richtige Art, so in etwa der Typ, auf den man sofort zusteuert, wenn man ein Problem hat, genauso wie du sofort nach dem Feuerlöscher grapschen würdest, wenn du Rauch riechst. Und er ist gut informiert. Alles, was er mir gesagt hat, war – leider – wirklich richtig! Hat was Väterliches, das brauchen die Leute!«

»Klingt gut. Man sollte ihm so einen der fixen geschniegelten Jungs zur Seite geben, dann ist der Empfang ideal besetzt. Du verbürgst dich für ihn?«

»Absolut. Der ist kein Griff ins Klo!«

»Nun, da du bei deinem nächsten Parisaufenthalt nicht unter der Brücke pennen willst, nehme ich an, dass du es dir gut überlegt hast. Wie schnell brauchst du deinen Gefallen?«

»Sehr schnell.«

»Gut, dann gib mich mal weiter zur Rezeption.« Tony Tanner verband seinen Freund zurück zur Rezeption.

»Also, reden wir Klartext«, sagte Tony Tanner eine halbe Stunde später zu dem Portier, der sich vor Aufregung ständig mit dem Taschentuch durch das Gesicht fuhr.

»Habe ich Ihnen helfen können?«

»Das haben Sie, Monsieur, das haben Sie wirklich, mon dieu. Ich werde Sie und auch Monsieur Delaney nicht enttäuschen und …«

Tony bremste die Dankesrede mit einer Handbewegung. »Sehen Sie, ich wünschte, ich wäre in der Situation, meinen Mitmenschen uneigennützige Dienste leisten zu können. Leider stehen dem ein paar Umstände entgegen. Vielleicht auch mein Charakter. Im Klartext – ich muss Sie auch um einen Gefallen bitten.«

Der Portier nickte begeistert und signalisierte erhöhte Aufmerksamkeit.

Tony schaute sich um. In der Empfangshalle standen einige Gäste und unterhielten sich, andere saßen in den bequemen Sesseln und lasen in den neuesten internationalen Zeitungen.

Tony dämpfte die Stimme. »Sie kennen sich doch in Nizza aus?«

»Es ist nicht meine Heimatstadt, aber ich kenne mich gut aus, wenn ich das sagen darf.«

»Dann kennen Sie doch auch viele Leute?«

»Das bringt mein Beruf mit sich.«

»Gut, dann können Sie mir sicherlich etwas vermitteln.«

Der Portier beugte sich vertraulich zu Tony vor, soweit es seine Körperfülle zuließ. »Wollen Sie Mädchen?«, flüsterte er verschwörerisch.

»Aber nein doch!«, protestierte Tony empört.

Das Gesicht des Portiers verfinsterte sich merklich. »Wenn es sein muss, kenne ich jemanden, der Ihnen Kontakt zu einigen – hübschen Jünglingen vermittelt. Diskretion ist zugesichert, aber es kostet eine Kleinigkeit!«

Tony schüttelte sich. »Nein, nein, wir verstehen uns völlig falsch. Ich brauche etwas anderes. Informationen.«

Die Miene des Portiers hellte sich schlagartig wieder auf, um dann alle Zeichen angestrengten Grübelns aufzuweisen.

»Dann verzeihen Sie. Ich bin doch noch ganz verwirrt – Paris! Es geht Ihnen um Kunst, Sie deuteten das ja bereits an?«

»Exakt, ich brauche jemanden, der sich in der Stadt und ihrer Kunstszene auskennt und mir meine Fragen beantworten kann.«

»Das ist schwieriger, als Jungs oder Mädchen zu organisieren. Gefällt mir aber sehr, sehr viel besser, wenn ich ehrlich bin – ich werde Ihnen morgen früh eine Adresse geben, das verspreche ich. Aber im Augenblick bin ich mir selbst noch nicht sicher – aber lassen Sie mich mal machen. Einem Pariser Portier fällt immer was ein!«

 

Die nächsten Stunden lag Tony Tanner auf dem Bett und starrte gegen die Zimmerdecke. Er war todmüde und hatte dennoch Angst vor dem Einschlafen, nicht weniger Angst, als sie ein Kind haben würde, das sich vor Albträumen fürchtet. Wie konnte er schlafen, wenn das Gehäuse seines Schädels, dieser intimste Ort der unerlaubten Gedanken, der schamlosen Fantasien und der schändlichen Träumereien plötzlich zu einem offenen Schlachtfeld für fremde, unbekannte, ungeahnte Kräfte wurde?

Was konnte mit ihm geschehen, wenn er nicht ständig diesen Grenzpfahl des Ich bin ich einhämmerte, sich nicht mehr zu jeder Sekunde, wie ein Blinder, der sich durch ein Menschengewimmel vortastet, seiner selbst vergewisserte, seiner Absichten, seiner Vergangenheit? Was wäre, wenn er morgen einem Fremden im Spiegel begegnen würde? Was unterschied ihn jetzt noch von einem Lustmörder, der sich durch ein Parfum, eine Geste, einen sekundenkurzen Anblick zu Monstrositäten hinreißen ließ, nur um irgendwann als kläglich heulende Gestalt auf der Anklagebank zu versichern, dass er es eigentlich gar nicht tun wollte?

Es – was konnte das für ihn bedeuten? Jetzt wäre es gut gewesen, mit Dorkas in der Küche zu sitzen und Tee zu trinken. Die Vorstellung hatte etwas Wärmendes, wie ein Leuchtfeuer in der Ferne. Tony schlief ein, und er schlief gut und ohne Vorkommnisse, wenn man von den Beschwerden seiner Nachbarn auf beiden Seiten wegen unziemlicher Schnarchgeräusche einmal absieht.

 

Anscheinend gehörte der Portier zu den Menschen, die niemals Schlaf brauchen, denn als Tony am nächsten Morgen leidlich ausgeruht zur erneuten Plünderung des Frühstücksbuffets strebte, saß der Dicke schon wieder auf seinem Platz. Er winkte Tony mit einem Zettel.

»Das hier ist die Adresse von Iwan Legrange. Er hat hier jahrzehntelang als Klatschreporter gearbeitet. Ein ziemlich wenig sympathischer Mensch. Egal – er stand immer im Verdacht, seine Kenntnisse auch jenseits der Journalisterei nutzbringend einzusetzen. Sie verstehen, was ich meine?«

Tony schüttelte den Kopf. Irgendwie war es trotz kalter Dusche noch nicht so ganz sein Tag.

»Ich meine Erpressung. Kleine Schmuddelgeschichten der Notablen mit Mädels, die ihre Töchter sein konnten. So etwas in dieser Preislage meine ich. Irgendwann vor ein paar Jahren hat er sich daran überhoben und ist in der Versenkung verschwunden. Der wird Ihnen jeden Kontakt vermitteln. Es wird nicht billig, aber er ist die sicherste Adresse.«

Tony bedankte sich und wollte nun endlich zum Frühstück eilen, als ihn der Portier noch einmal zurückwinkte.

»Die Adresse liegt in der Altstadt. Gehen Sie besser am helllichten Tag hin, wenn richtig was los ist.«

Jetzt verstand Tony, was der Portier meinte. Als er einige Zeit später vor dem betreffenden Haus stand, verstand er die Warnung noch besser. Schäbig war noch das Freundlichste, was man über diesen Teil der Straße sagen konnte, und selbst dann hätte man übertrieben, wie ein Makler, der sein Objekt unbedingt losschlagen will. Zweifelnd schaute Tony Tanner an der verwitterten Fassade hoch.

Einige Fenster waren zerborsten und mit Zeitungsseiten verklebt worden. An den Mauern tobte ein lautloser Krieg der Parolenschmierer, die entweder die Fremden oder die Faschisten dahin treiben wollte, wo die jeweils andere Seite die Fremden oder die Faschisten hinwünschte. Laute Musik klang aus den Fenstern, Hundegebell, Säuglingsgeschrei und das Keifen streitender Erwachsener hallte durch die Gasse.

Noch einmal verglich Tony die Hausnummer mit derjenigen auf seinem Zettel. Dann drückte er zögernd gegen die Haustür.

Sie schwang quietschend auf. Tony Tanner trat ein und hatte wie so oft in der letzten Zeit das peinigende Gefühl, dass er das, was er gerade tat, besser nicht machen sollte. Eine Holztreppe führte ihn nach oben. Es gab keine Namensschilder, aber auf seinem Zettel stand Vierter Stock.

Unter seinen Schritten knarrten die ausgetreten Stufen. Mehr als einmal spürte er, wie sich Blicke aus heimlich spaltbreit geöffneten Türen an seinen Rücken hefteten. Auf den Treppenabsätzen standen die Türen zu den Toiletten offen. Es stank widerlich, und als er einmal einen Blick in den kleinen Verschlag mit dem Abort warf, wurde Tony fast schlecht, als er die braunen Schmutzkrusten sah, auf denen sich Scharen von Fliegen niedergelassen hatten.

Im vierten Stock gab es nur eine Tür. Tony atmete tief durch und klopfte. Es rührte sich nichts. Er klopfte fester und lauschte. Nichts. Erst als er mit der Faust hämmerte, eher aus Enttäuschung denn aus Überzeugung, dass es noch einen Sinn hatte, hörte er ein Geräusch hinter der Tür.

»Monsieur Legrange? Ich möchte Sie kurz sprechen!«

Es kam keine Antwort. Hatte er sich getäuscht? Tony legte das Ohr an die Tür. Nein dahinter schlurfte jemand. Leise, aber deutlich. Vielleicht war es ja bloß ein Haustier? Noch einmal hämmerte Tony gegen die Tür. Von unten schrie jemand mit trunkenem Lallen ‘Ruhe, verdammt noch mal’.

»Monsieur Legrange, ich habe Ihnen ein Geschäft vorzuschlagen.«

»Was denn für ein Geschäft?«, kam es plötzlich von der anderen Türseite.

»Es wäre einfacher zu erklären, wenn Sie die Tür öffneten, Monsieur Legrange.«

»Ich will nicht. Degage!«

»Dann gibt es auch kein Geschäft.« Mit lauten Schritten, die ihn aber kaum vorwärts brachten, ging Tony zur Treppe. Hinter ihm knarrte die Tür.

»Sie sind Engländer, was?«

»Ja, warum?«

»Weil ich keinem Italiener die Tür aufgemacht hätte. Aus Sicherheitsgründen.«

Der Mann, der im Türrahmen lehnte, war mittelgroß und ausgemergelt. Ein speckiges Unterhemd und eine geflickte Hose, die mittels eines Stricks auf die Bundweite ihres Trägers eingestellt worden war, kleideten ihn. Kahl rasierter Kopf, abstehende Ohren, Bartstoppeln, wässrige Augen unter buschigen Brauen, ein riesiger Mund mit schmalen Lippen, dazu dieser Blick mit seiner Mischung aus Furcht und hinterhältiger Frechheit – Tony brauchte nur Millisekunden, um sich seiner tiefsten Abneigung gegen diesen Mitbewohner des Planeten Erde sicher zu sein. Der erste Eindruck, so ging es ihm durch den Kopf, ist hier der schlechteste.

»Was wollen Sie?« Der riesige Mund des Mannes beherbergte nur noch einige braune Zahnstummel. Legrange zischte beim Sprechen und verteilte Speicheltröpfchen in der Umgebung.

»Egal was ich will. Ich will es nicht auf diesem Flur.«

Legrange überlegte eine Weile und peilte unter seinen Brauen zu Tony herüber. »Geschäfte, hä?«, sagte er dann und ging in sein Zimmer.

Eine ruckartige Kopfbewegung forderte Tony auf, ihm zu folgen.

Hinter der Tür lag ein Dachraum mit zwei schrägen Wänden. Ein zerwühltes Bett, ein Tisch, ein Stuhl und ein Schrank bildeten die Einrichtung.

In einer Ecke stand eine Elektrokochplatte auf dem Boden. Legrange warf sich stöhnend auf sein knarrendes Bett. Er forderte Tony nicht zum Platznehmen auf, wahrscheinlich aus blanker Unhöflichkeit, vielleicht auch deswegen, weil kein Sitzplatz mehr da war. Auf dem Stuhl lag eine alte Zeitung, der man ansah und anroch, dass sie zum Einwickeln eines Fisches gedient hatte.

Legrange hustete und würgte. Nachdem er wieder keuchend zu Atem gekommen war, griff er nach einer Packung Gauloises und porkelte darin herum. Mit einem Merde alors schmiss er die leere Packung durch das Dachfenster hinaus.

»Sie haben keine Zigarette dabei, was?«

»Ich bin Nichtraucher.«

»Natürlich sind Sie Nichtraucher. Typen wie Sie sind immer Nichtraucher. Typen wie Sie fressen Vollkornmüsli zum Frühstück, gehen in Fitnessstudios, rennen täglich eine Stunde durch den Wald und achten auf ihren Cholesterinspiegel. Ich finde Typen wie Sie zum Kotzen!«

»Nachdem wir jetzt die Grußadressen ausgetauscht haben – könnten wir dann zum geschäftlichen Teil kommen?« Tony lehnte sich gegen die Wand.

Legrange lachte, dann ging seine hässliche Lache in ein krampfiges Husten über, das den gesamten dürren Körper schüttelte.

Du könntest jedem Gesundheitsminister als Paradebeispiel für die Gefahren des Rauchens dienen, dachte Tony Tanner.

Legrange wankte hustend zum Schrank, die Anfälle ließen die wenigen Schritte zur langen Strecke werden, denn immer wieder blieb er stehen und hustete, zusammengekrümmt und die Arme in die Seiten gestemmt. Schließlich erreichte er den Schrank, stieß die Türen auf und angelte sich einen Lappen, den er vor den Mund hielt. Dann machte er sich auf den Rückweg.

»Dieser verdammte Husten kommt nur dann, wenn ich nichts zu rauchen habe«, erklärte Legrange. Auf der Innenseite des Schrankes waren Fotos geklebt wie die Pin-up-Bilder im Schrank eines Rekruten. Sie zeigten Frauen aus der Gynäkologenperspektive und junge, muskulöse Männer in Lacklederkleidung, die einige entscheidende Stellen frei ließ.

Tony fragte sich, aus welchem Magazin solche Bilder stammen mochten. Es war jedenfalls die Art von Magazin, die nicht mal unter dem Ladentisch verkauft wird. Aber irgendwie, das stellte Tony fest, passte diese Dekoration zu dem Bewohner dieses Raumes.

Der von tabakbraunem Schleim triefende Lappen flog in eine Ecke. Legrange zog die Nase hoch und hatte jetzt eine wesentlich klarere Stimme als vorhin.

»Gut, kommen wir zum Geschäft. Egal, was es ist, es wird Sie was kosten.«

Es kostet mich vor allem Überwindung, dachte Tony Tanner und beobachte das muntere Treiben einiger Nizza-Kakerlaken an der gegenüberliegenden Wand. Laut sagte er: »Sie wurden mir empfohlen. Es hieß, dass Sie Kontakte herstellen können.«

»Empfohlen? Ich? Von wem?«

»Nebensache. Können Sie, ja oder nein?«

»Kommt drauf an, um was es geht. Was wollen Sie – Stoff, Menschenfleisch, Blüten?«

Das Wort Menschenfleisch in Verbindung mit den Bildern im Schrank ließ Tony schaudern. Für einen Moment flutete in ihm ein Gefühl heran, als sei dies hier nicht die Realität, sondern nur ein seltsam klarer Traum. Er wischte sich mit der Hand über die Augen, aber auch das ließ ihn nicht aus dem Traum erwachen. »Ich suche Informationen. Über ein Kunstwerk.«

»Was für eines?«

»Antik, altpersisch. Muss sich in Nizza befinden.«

»Für wen?« Legranges Blick bekam etwas Lauerndes.

»Nebensache! Ich sagte: Ich suche Informationen. Ich gebe sie nicht.« Tony bemerkte plötzlich, dass er ziemlich cool war, wie in einer Filmrolle. Er schaute sich um – ein Filmheld, der alles im Blick hat. Für diesen Moment gefiel ihm sein Part.

Einen Einrichtungsgegenstand hatte Tony bei seinem Eintreten übersehen. Es war eine kleine Trittleiter unterhalb des Dachfensters in der Schräge. Da Legrange seinen Gesprächspartner nicht anschaute, sondern auf einen Punkt an der Wand gegenüber stierte, konnte sich Tony auf die Zehenspitzen stellen und einen Blick aus dem Fenster werfen.

Zwei Bretter, die an Kamine gelegt waren, führten über die Dachschräge zu einer Feuerleiter.

Legrange hatte also vermutlich beste Beziehungen und diese auch zu jenen Leuten, deren Besuch man zwecks Schonung der Sterbestatistik tunlichst aus dem Weg geht. Nun denn, für Tony konnte das sogar ein Vorteil sein.

Mit einem schnarchenden Geräusch reinigte Lagrange seine Nase. »Dreißigtausend sofort.« Legrange trat in das Pokerspiel der Filmheldencoolness ein.

Tony konterte, eine in hundert Detektivfilmen erlernte Technik. Also schwieg er und blickte aus dem Fenster.

»Na gut, die Hälfte jetzt, der Rest später.« Aha, dachte Tony, das funktioniert ja auch im richtigen Leben. Jetzt wird der Kerl langsam weich.

»Hören Sie zu!«, ärgerte sich Legrange, »wenn Sie kein Geld haben, dann machen Sie die Fliege. Hören Sie mir überhaupt zu?«

»Dreitausend«, sagte Tony ruhig. »Und wenn nichts läuft, gibt es rien – nichts!« Er schnippte mit dem Finger in die Luft.

»Läppische dreitausend Mäuse! Und dafür bringe ich Sie mit jemandem in Kontakt, der Ihnen Ihre Informationen besorgen kann, die viel mehr wert sind. Monsieur, haben Sie denn gar kein Herz? Geben Sie mir aber wenigstens tausend jetzt schon.«

»Zweihundert!«

»Ich werde Auslagen haben«, jammerte Legrange, der jetzt in einer alten Jacke nach irgendwelchen möglicherweise vergessenen Zigaretten zu wühlen begann.

»Ihr Problem. Ich brauche den Kontakt bis spätestens acht, nein, sagen wir neun Uhr abends.«

Neun Uhr gab Legrange genügend Zeit für seine Arbeit, und Tony hatte die Gewissheit, noch eine Weile Tageslicht zu haben, falls ein schneller Rückzug erforderlich wäre. Legrange wollte Tony am Abend auf der Promenade des Anglaises treffen. Bevor er ging, zog Tony noch den Schein aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch.

»Davon habe ich noch viel mehr! Also, finden Sie den richtigen Mann für mich!«

Lagrange grapschte mit unerwarteter Geschwindigkeit nach dem Schein und ließ ihn in seiner schwitzigen Hand verschwinden und hüstelte einen unverständlichen Dank. Es konnte aber auch ein Fluch sein.

Zum Glück hatte Tony Tanner sich die letzte Adresse, die er noch nicht erreicht hatte, eingeprägt. So konnte er sich trotz zerfetztem Heathercroft-Telefax wieder an seine Arbeit machen. Er bekam keine Telefonverbindung, und als er sich mit dem Taxi zu der Adresse fahren ließ, stand er vor einem verschlossenen Eisentor, das in eine Mauer aus gewaltigen Felssteinen eingefügt war. Ein Blick auf das Gelände war unmöglich, aber zumindest roch man das Parfum von sehr viel Geld. Er ließ sich aus dem Außenbezirk wieder zurück in die Stadt fahren und hatte nun Zeit für einen Bummel.

 

Leider konnte er seine Freizeit nicht genießen. Hatte es ihm früher besonderen Spaß bereitet, in seinen Arbeitspausen fremde Städte zu erkunden, besonders in Francines Begleitung, so fühlte er jetzt nichts als Unrast und Nervosität. Er schien wie ein Getriebener, der jede Verzögerung als fast körperlichen Schmerz empfand. Dazu kam das von Zeit zu Zeit aufschießende Gefühl einer Gefährdung. So musste er sich geradezu zwingen, um wenigstens halbwegs den müßigen Touristen darzustellen. Er besuchte einige Buchläden und Antiquariate, kaufte auch einiges, war in einigen Cafés und einem Restaurant und schaffte es schließlich, die Zeit bis neun Uhr totzuschlagen.

Legrange erschien mit erstaunlicher Pünktlichkeit. Er trug einen Anzug, der hochmodisch war – wenigstens vor dreißig Jahren, als er entstand. Heute wirkten das Streifenmuster und die gewaltig breiten Hosenaufschläge eher lächerlich, auch wenn Tony sich erinnerte, in Soho so etwas als Kennzeichen neuester Mode schon wieder gesehen zu haben. Jedenfalls erlaubte es ihm einen Blick auf den Iwan Legrange, den es zu dessen besten Zeiten einmal gegeben haben musste.

»Ich führe sie zu einem Mann, Francois Meunier. Er wird La Gueule genannt. Sprechen Sie mit ihm.«

Tony übersah geflissentlich die ausgestreckte Hand des anderen und deutete nur mit einer Bewegung die Frage nach der Wegrichtung an. Sie gingen durch die Altstadt bis zu einer Kneipe, die von der Art war, dass sie von alternativen Gymnasiallehrern mit dem Gütesiegel typisch französisches Ambiente bedacht worden wäre. Ohne nach links und rechts zu blicken, durchquerte Legrange den Gastraum und ging in Richtung der Toiletten. Während der ganzen Zeit hatte er stets eine Zigarette zwischen den Lippen gehabt.

Sie gelangten auf einen dunklen Flur. Rechts gingen die Türen zu den Toiletten ab, aber Legrange steuerte auf eine Tür am Ende des Ganges zu. Er klopfte mit seinem knochigen Finger einen bestimmten Rhythmus auf dem Holz. Nach einigen Wiederholungen erkannte Tony instinktiv, was sich hinter diesem Rhythmus verbarg: Al-ge-rie fran-çaise.

Bevor er noch weitere Überlegungen zu diesem Thema anstellen konnte, wurde ein Schlüssel umgedreht und die Tür geöffnet.

Der Raum, den Tony nun betrat, war wie aus den Kulissen eines hochgradig fantasielosen Gangsterfilms entnommen. Alles passte – der runde Tisch mit den Spielkarten, die tief hängende Lampe, die schwarzhaarigen Männer in den allzu eleganten Kleidern, die im Schatten der Lampe auf ihn schauten.

»Das ist La Gueule«, sagte Legrange. »Das Geld!«

Tony hatte erwartet, dass sich Legrange sofort nach Erhalt des Geldes verziehen würde, aber das Gegenteil war der Fall. Er suchte sich einen freien Stuhl und setzte sich. Dagegen zog es Tony vor, an der Tür stehen zu bleiben.

Der Mann, der La Gueule genannt wurde, wartete, ob sich Tony nicht doch noch setzen würde, und zog sich dann seinerseits einen Stuhl heran.

»Sie sind vorsichtig«, sagte er.

»Berufskrankheit.«

»Welcher Beruf?«

»Einer, über den man nicht spricht.«

La Gueule quittierte die Antwort mit einem schiefen Lächeln. Er trug seinen Spitznamen zu Recht, denn seine Lippen hätten in jedes Gesicht eines karibischen Stammeshäuptlings gepasst und wirkten, so voll und breit, wie sie waren, fast wie das Ergebnis einer gescheiterten Schönheitsoperation. Der Mann hatte Araberblut in den Adern, vermutete Tony.

Zumindest die gebogene Nase, die schwarzen Augen und eine etwas dunklere Hautfarbe deuteten darauf hin. Die Gesichtsform und seine hochgewachsene, athletische Gestalt zeugten dagegen von einer anderen Linie. Elsässer oder Flamen, vermutlich. Aber egal, welche Vorfahren sich in diesem Mann vereint hatten, jetzt saß La Gueule vor ihm, zwischen fünfzig und sechzig Jahren alt, breit und stämmig, und schaute ihn unter schlaffen Lidern an.

Die Sprechweise des Mannes war langsam und schleppend, alles an ihm wirkte träge und schläfrig, aber Tony ließ sich dadurch nicht täuschen. Es war die Schläfrigkeit des Krokodils, das im Wasser auf Beute lauert. Einige Narben im Gesicht von La Gueule stammten gewiss von Messerstichen. Tony registrierte das nebenbei und fragte sich, was wohl aus den Männern geworden war, die ihm diese Narben beigebracht hatten. Tony hätte wenig darauf gewettet, dass sie sich noch unter dieser Sonne befanden.

»Sie suchen Informationen über ein Kunstwerk?«, fragte La Gueule plötzlich.

Tony nickte. Jetzt musste er mit der Wahrheit herausrücken. »Ich suche das peladianische Fragment. Altpersisch. Es muss in Nizza sein.«

»Ich habe noch nie davon gehört. Und Kunst gehört zu meinen Liebhabereien.«

»Ihr Problem. Mein Angebot ist, dass Sie davon hören und mir sagen, wo es ist.«

»Und dann?«

»Mein Problem.«

Erneut zeigte sich ein schiefes Lächeln auf dem Gesicht von La Gueule, nicht ganz ohne einen Anflug von Anerkennung.

»Gibt es keine Fotografien von diesem – wie sagten Sie – peladianischen Fragment

»Keine. Lediglich eine Handzeichnung des Umrisses und eine vage Beschreibung.«

»Und Sie sind sicher, dass es dieses Fragment wirklich gibt?«

»Es gibt eindeutige Belege, welche die Existenz dieses Fragmentes jenseits allen berechtigten Zweifels belegen.«

Mein Gott, ich klinge schon wie Dorkas, dachte Tony. Hoffentlich ist das hier jetzt kein erneuter Anfall von heranrasender Besessenheit.

»Wenn es dieses Fragment gibt, erfahre ich davon. In den nächsten vierundzwanzig Stunden. Aber es wird teuer.« La Gueule rieb seine Finger gegen den Daumen der rechten Hand.

»Es gibt Wichtigeres als Geld.« Für diese Bemerkung erhielt Tony einen verächtlichen Blick von Legrange. La Gueule fing diesen Blick auf und dachte sich seinen Teil.

»Kunst zum Beispiel. Hier ist meine Nummer. Rufen Sie mich bitte an. Morgen, am Nachmittag. Bis dann, Monsieur.«

Tony steckte die Karte mit der Telefonnummer ein, nickte in die Runde und ging.

 

Vor der Nacht, vor dem angstvollen Hindämmern im Halbschlaf, hatte er wieder Angst.

Leider verbot sich die traditionelle und erprobte Methode, sich mit einigen Gläsern Wein den Anschub für die Nachtruhe zu besorgen. Nach zwei sich endlos in die Dunkelheit dehnenden Stunden, in der er gegen die Decke gestarrt hatte, kam Tony die rettende Idee. Kreide hatte er zwar nicht, aber im Notfall tat es sicherlich auch Zahnpasta. So begann er mit einer individuellen Umgestaltung des Hotelzimmers, die ihn etwas Schweiß kostete, aber dafür mit einem guten und sorglosen Schlaf belohnte.

Der dritte Tag in Nizza brachte immer noch keinen Kontakt zu der ominösen Adresse auf Heathercrofts Liste. In Tony keimte der Verdacht, dass hier schlicht ein Fehler vorlag.

Vielleicht war der Besitzer verstorben oder weggezogen oder saß wegen Steuerhinterziehung im Gefängnis. Immerhin gelang es ihm, einiges über La Gueule zu erfahren. Das meiste war schlichter Tratsch, der Rest bestand aus einigen Stichworten, die so etwas wie eine persönliche Tragödie andeuteten.

Geboren in Oran war La Gueule als halbes Kind in die Wirren des Unabhängigkeitskrieges geraten, der seine Familie das Leben gekostet hatte. Ein hoher Militär mit Verbindungen zur OAS hatte ihn unter seine Fittiche genommen, bis er Anfang der 60er Jahre bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben kam. Es war ein offenes Geheimnis, dass der Geheimdienst hier nachgeholfen hatte. La Gueule kam nach Frankreich, trieb sich in OAS-Kreisen herum, machte einen gescheiterten Versuch, in die Armee aufgenommen zu werden und folgte schließlich der Entwicklung der OAS, die aus dem Graufeld von politischem Radikalismus und Terrorismus langsam entweder in Resignation, die Bedeutungslosigkeit nostalgischer Invalidenheimgrüppchen oder in organisiertes Verbrechen einmündete.

La Gueule war wie jeder glühende und dann enttäuschte Liebhaber vom Idealisten zum Zyniker geworden. Es war ein verdammter Fehler, so einem Mann über den Weg zu trauen.

Aber es blieb keine andere Wahl. So waren die Stunden bis zum Nachmittag wie Holzwolle, die man zur Seite reißt, um an den eigentlichen Inhalt eines Paketes zu kommen.

Gegen vier Uhr entschied Tony, dass er nun einen Versuch starten könnte. Als er durch die Empfangshalle ging, sprach ihn der Portier, inzwischen war es ein neuer, an.

»Monsieur Tanner, der Zimmerservice lässt fragen, ob das Bett in der Mitte Ihres Zimmers stehen bleiben soll?«

»Ich bitte darum.«

»Gut. Ich werde es weitergeben. O, pardon, noch eine Frage, Monsieur. Bestehen Sie darauf, dass dieser Kreis aus Zahnpasta um Ihr Bett bleibt – oder darf er eventuell entfernt werden? Immerhin, wir fürchten, es schadet dem Bodenbelag …«

Auch hier bestand Tony darauf, dass der Kreis blieb.

Der Portier zuckte mit keiner Wimper, was auf die Exklusivität des Fleur de Nice hindeutete, in dem man es gewohnt war, reiche und entsprechend exzentrische Gäste zu beherbergen.

Tony wurde für den Abend an den Hafen bestellt. Er nahm eine leichte Mahlzeit zu sich, ließ sich nach Nizza fahren, schlenderte eine Weile ziellos durch die Altstadt und fragte sich wieder, wie viel Zeit der Mensch durch nervtötendes Warten verplempert.

Als langsam die Abendkühle aus dem Meer und von den Hängen stieg, begab er sich zum Treffpunkt. Schon von Weitem erkannte er den hochgewachsenen La Gueule, der von drei Männern flankiert wurde.

Als er auf die Gruppe zuschritt, fühlte er unendliche Erleichterung, dass nun endlich die Hoffnung bestand, bei seiner Suche weiterzukommen. La Gueule winkte ihm schon von Ferne lässig mit der Hand zu. Tonys Euphorie überdeckte ein gewisses mulmiges Gefühl, das ihm wie ein eiskalter Salamander das Rückgrat hochkletterte. Der Platz, an dem sich befanden, war nur von See her einsehbar. Und warum waren vier Männer in dieser gigantischen Stretch-Limousine mit den undurchsichtigen schwarzen Scheiben gekommen?

Als Tony vor der Gruppe stand, wusste er es.

Sie waren Profis und behandelten ihn mit einer Rücksichtnahme und Vorsicht, die seinen Warenwert dokumentierten. Bevor er es richtig registrierte, trat einer der Männer hinter ihn und drückte ihm ein Taschentuch vor das Gesicht.

Der beißende Äthergeruch stieg in Tonys Nase, und bevor ihm die Sinne schwanden, dachte er nur noch Diese Typen sind tatsächlich wie aus einem Schwarz-Weiß-Film der dreißiger Jahre. Sie benutzen noch ernsthaft Äther …

Unfähig zu irgendeiner Reaktion wurde Tony in die geräumige Limousine verfrachtet.

Sein Zeitgefühl schwand. Er empfand die Fahrt als ein stetes sanftes Schaukeln, ein angenehmes Gefühl, das in völligem Gegensatz zu seiner derzeitigen Situation stand. Niemand sprach, nur leise Fahrgeräusche drangen in das plüschige Innere des Straßenkreuzers.

Der Wagen fuhr in nördlicher Richtung, die Höhen hinauf und dann eine Weile durch das Hinterland, über das sich schon die Dunkelheit gelegt hatte. Wie im Traum bemerkte Tony das Anhalten des Wagens. Die beiden Männer, die ihm gegenübergesessen hatten, schoben ihre Arme unter seine Achseln und hoben ihn aus dem Wagen. Er wusste nicht, wo er war, aber die Luft roch nach Wald. Etwas abseits stand eine Gruppe Männer, sie unterhielten sich gedämpft. Dann traten die beiden, die Tony gehalten hatten, zurück. Er stürzte auf den Boden und lag dort eine Weile unbeachtet. In seinem Hirn bildete sich schwammig der Befehl Krieche weg, und Tony versuchte, dem Impuls zu gehorchen. Mit unendlicher Mühe bewegte er sich vorwärts, aber was er für Bewegung hielt, wäre für einen Beobachter nichts als ein Zucken der Glieder gewesen.

Schritte näherten sich. Ein Wagen fuhr fort. Vielleicht lassen sie mich hier liegen, konnte Tony denken, und dieses wäre noch die beste aller Möglichkeiten gewesen. Aber dann riss ihm jemand die Arme nach hinten, ein anderer fasste seine Beine, man trug ihn ein Stück weit, schaukelte ihn einige Male hin und her, um Schwung zu gewinnen und warf ihn dann wie eine Schweinehälfte auf die Ladefläche eines Lastwagens. Mit Wucht schlug er auf, sein Arm, immer noch lädiert von dem Kairoer Abenteuer, schien vor Schmerz zu explodieren. Er schrie auf, zugleich wurde er aus seiner Betäubung gerissen. Die Wachheit, in der er mit aufgerissenen Augen um sich starrte, dauert nur Sekunden, dann hechtete jemand auf die Ladefläche und schmetterte ihm einen Knüppel in den Nacken.

Vor seinen Augen funkelte ein kurzes Feuerwerk, dann versank Tony Tanner in eine grenzenlose Schwärze. Gleich danach oder Tage später, er wusste es nicht, drückte man ihm eine Flasche in den Mund und zwang ihn zu trinken. Die Flüssigkeit schmeckte bitter wie Salzwasser und schien ihm die Kehle zu verätzen. Er versuchte sich zu wehren und wurde mit einem routinierten Schlag erneut außer Gefecht gesetzt.

 

Er erwachte und glaubte nicht, dass er wach war. Aus Angst, seine Bewacher zu erneutem Zuschlagen zu provozieren, wagte er nicht, sich zu rühren. Viel später erst bemerkte er, dass er allein war. Völlige Dunkelheit hüllte ihn ein. Er streckte sich mit schmerzenden Muskeln und änderte seine Haltung, in der Hoffnung, dadurch einen Lichtschimmer entdecken zu können.

Aber die Dunkelheit blieb unverrückt und massiv wie ein Felsblock, der ihn bedeckte.

Dann überfiel ein anderer Gedanke und trieb ihm in Sekunden den Schweiß auf die Stirn. Er war blind! Der Schlag in den Nacken mochte es gewesen sein oder dieses Zeug, das er trinken musste. Ein Gefühl grenzenloser Hilflosigkeit übermannte ihn. Vielleicht befand er sich in einem Glaskäfig, angestarrt von tausend Augen und wurde sich dieser Situation nicht einmal bewusst. Vielleicht wurde er von gleißenden Scheinwerfern angeleuchtet und bemerkte nicht ein Fünkchen ihres Lichtes.

Aber nein, solche Lampen strahlten Wärme aus, und es war sogar ziemlich kühl. Aber es könnten Neonröhren sein. Aber Neonröhren müsste man hören. Er lauschte angestrengt. Kein Laut war zu vernehmen. Vielleicht waren die Neonröhren hinter Glas?

Tony verstrickte sich mehr und mehr in seine Konstruktionen, baute sich unwiderlegbare Gedankengebäude und verwarf seine Überzeugungen in der nächsten Sekunde. Er konnte sich nur auf das verlassen, was er hörte und fühlte. Aber es war völlig still, und so begann er, langsam vorwärtszukriechen, mit einem Arm in der Schwärze tastend, bis er auf eine Wand stieß. Seine Finger berührten eine raue Oberfläche, von der Partikel auf seiner Haut verblieben. Er rieb sich die Fingerspitzen, schnupperte und erkannte den Geruch.

Es war Rost. Eine rostige Wand aus Eisen. Deutlich konnte er jetzt die Schweißnähte zwischen den einzelnen Platten erfühlen. Er suchte weiter, bis zu einer Stelle, an der zwei Wände aufeinandertrafen.

Ein Winkel von neunzig Grad. Weiter und weiter, Millimeter für Millimeter ertastete sich Tony Tanner sein Gefängnis.

Es war ein großer viereckiger Raum ohne Fenster und Türen, mit Wänden aus Eisen und einem Boden, der mit einer Art Gummischicht überzogen war. Wo war er? Er konnte im Hinterhof eines gut besuchten Kaufhauses sein, in einem Bergwerk oder in einem versenkten Unterseeboot, mit dreihundert Metern kaltem Atlantikwasser über dem Kopf. Überhaupt, was war mit seiner Atemluft? Würde er irgendwann, wenn die Luft in diesem Raum verbraucht war, ersticken? Und wie viel Atemluft hatte er?

Tony hämmerte an eine Wand und versuchte zu schreien, aber aus seiner wunden Kehle kam nur ein krächzendes Flüstern. Kein Echo verriet ihm, wie hoch sich der Raum erstreckte. Er fuchtelte mit den Armen in der Höhe umher, hüpfte und sprang, ohne dabei etwas anderes zu verspüren als den Luftzug seiner eigenen hektischen Bewegungen.

Schweiß brach ihm aus allen Poren und legte sich als kühle Schicht um seinen Körper. Er schwitzte und fröstelte zugleich wie ein Fiebernder. Durst brannte in seiner Kehle, seine Zunge lag wie ein fremdes Stück Fleisch in seinem Mund. Er taumelte, wirbelte mit den Armen, um Halt zu finden, und stürzte in die Dunkelheit. Dann lag er auf dem Boden und versuchte sich klar zu werden, was er falsch gemacht hatte. Das quälende Ergebnis war, dass er alles richtig gemacht hatte, dass er gehandelt hatte, wie es seine Aufgabe erforderte. Und dennoch war er in diesem Verlies gelandet.

Was blieb war Warten. Aber worauf? Auf das Öffnen einer Tür, auf das Röcheln seines letzten Atemzuges, auf das Delirium des Verdurstens? Tony Tanner wälzte sich auf den Rücken, nur um festzustellen, dass sein Nacken dick geschwollen war. Er versuchte, alle seine Gedanken zu löschen, sich nicht seiner Situation bewusst zu werden, seine Ängste und Schmerzen nicht wachsen zu lassen. Das schien ihm die einzige Möglichkeit, sich vor dem Wahnsinn zu retten. Aber vielleicht war es ja schon zu spät. Vielleicht war das alles ja schon ein Reflex seines Wahnsinns.

Fortsetzung folgt …