Hannikel – 17. Teil
Christian Friedrich Wittich
Hannikel
oder die Räuber- und Mörderbande, welche in Sulz am Neckar in Verhaft genommen und daselbst am 17. Juli 1787 justifiziert wurde
Verlag Jacob Friderich Heerbrandt, Tübingen, 1787
Hannikels und seiner Konsorten letzte Auftritte als ein Anhang zu seiner Lebensgeschichte
Hannikel hat bereits seine Rollen auf dem Schauplatz dieser Welt ausgespielt und wichtigere Auftritte in der anderen übernommen.
Ehe solches geschah trug sich noch Folgendes mit ihm zu:
Lange durfte man ihm nichts vom Tod sagen. Jede Äußerung, dass er vielleicht wegen seiner vielen Verbrechen am Leben gestraft werden würde und sich deswegen auf alle Fälle gefasst machen solle, brachte ihn ganz außer sich. Seine Empfindungen dabei gingen immer in Wut und Raserei über.
»Nein«, sagte er, »sterben will ich nicht unter den Händen des Henkers; und wenn ich einmal höre, dass das Todesurteil wirklich über mich gefällt werden, so erhänge ich mich entweder selbst in meinen Ketten oder ich schlage meine Stirn so lange an die Wand, bis mein Hirn ganz verspritzt ist. Wenigstens möchte ich den sehen, der mich an den Galgen brächte.«
Um nun allen widrigen Folgen auszuweichen, zu deren Vermutung man auch noch ansonsten Gründe genug hatte, so verheimlichte man ihm seinen bevorstehenden Tod, so gut und solange es sich machen ließe.
Inzwischen war jedermann begierig, wie er sich bei Anhörung seines Urteils aufführen würde.
Es war drei Tage vor seiner Hinrichtung, und zwar Samstag am 14. Juli, morgens um 7 Uhr, als Herr Helfer Grundler von Sulz, Herr Stadtschreiber Zennek, der ältere Bürgermeister und zwei Gerichtspersonen nebst der erforderlichen Wache in sein Gefängnis eintraten. Hannikel stand beherzt und aufrecht vor ihnen doch hatte ihm der Anblick dieser seltenen Erscheinung sein Gesicht bereits mit sichtbarer Blässe überzogen.
Als ihm nun der Vortrag von Herrn Stadtschreiber gemacht wurde: »Hannikel! Ich habe Euch auf Befehl gnädigster Herrschaft hiermit anzukünden, dass ihr um Eurer großen und schweren Verbrechen willen am Leben gestraft und dass das Todesurteil am nächsten Dienstag an Euch vollzogen werden solle. Sorgt also noch in dieser kurzen Zeit für Eure Seele und wendet diese wenigen Tage Eures Lebens zur Errettung derselben an.«
Als Herr Helfer hierauf auch noch eine kurze und passende Anrede an ihn hielt, so schwieg er eine Minute.
Endlich aber schrie er mit rascher Stimme und wilden Gebärden: »Das ist zu viel; das habe ich nicht verdient. Ich bin mehr ein Beschützer als ein Verderber des Württemberger Landes gewesen, habe ja meistens nur die Juden bestohlen und geplagt. Das hielt ich für keine Sünde.« Zuletzt sagte er: »Gott stehe mir bei!« Er heulte laut, lief zu seinem Buben, dem Dieterlen, schloss ihn in seine Arme, küsste ihn wohl dreißigmal, benetzte sein Gesicht mit seinen Tränen und nahm rührend von ihm Abschied. Dieterlen schrie auch so erbärmlich an seinem Vater hinauf, dass es einem mitten durch die Seele ging. Sie wurden voneinander losgerissen und Hannikel von der Wache aufs Rathaus abgeführt.
Wenzel, der sonst immer während seiner Gefangenschaft ganz gelassen war, brach nun auch bei Anhörung des Todesurteils in Klagetöne aus und meinte, es geschehe ihm zu viel.
Hingegen blieb Duli ganz gefasst, fiel, sobald Herr Stadtschreiber und Herr Helfer ausgeredet hatten, aufs eine Knie, faltete seine Hände, bückte sein Angesicht zu seinen Füßen und sagte in dieser sehr beweglichen Stellung: »Nun, so empfehle ich mich der heiligen Dreifaltigkeit und der heiligen Mutter Gottes und dem heiligen Antonius von Padua – sie stehen mir bei und helfen mir. Habe ich diese Strafe verdient, so will ich sie auch geduldig annehmen.«
Auch Nottelen hörte die Todespublikation ohne merkliche Erschütterung an. »Nun in Gottes Namen!«, war das Einzige, das er mit seiner stammelnden Zunge darauf erwiderte.
Auch diese leiten drei wurden bald darauf aufs Rathaus gebracht.
Nun geschah es, dass Hannikel mehrere Wochen vor seiner Hinrichtung von einem durchreisenden katholischen Geistlichen in seinem Gefängnis besucht wurde. Es war der würdige, gelehrte und allgemein beliebte Herr Pfarrer Reininger von Espasingen nahe bei Stokach am Bodensee. Der Weg führte ihn damals auf seiner Rückreise von Rottenburg am Neckar, wo er gute Freunde besucht hatte, über Sulz. Hannikels Namen und Taten waren ihm merkwürdig. Er bat um Erlaubnis, ihn sehen und sprechen zu dürfen. Diese wurde ihm sogleich erteilt.
Gleich bei dieser ersten Unterredung fand er ohne Schwierigkeit den Weg zu Hannikels Herzen und gewann sein ganzes Zutrauen. Dies war daraus zu schließen, dass der Gefangene gleich darauf zum widerholten Mal äußerte: Wenn er einmal sterben müsse, so verlange er durchaus keinen anderen Geistlichen wie gerade diesen. Da er nun auch danach darauf beharrte, so wurde von der höchsten Behörde gnädig beschlossen, um zu Hannikels Zurechtweisung und Besserung alles beizutragen, gedachten Herrn Pfarrer Reininger zu ihm zu bitten und ihn im Fall er diesen Auftrag annehmen würde, nach Sulz abholen zu lassen.
Dieser gutdenkende menschenfreundliche Geistliche, der das beruhigende Glück, die Seele eines verirrten armen Sünders retten zu helfen, aufs Lebhafteste vorempfand, trug lediglich kein Bedenken, in die Fußstapfen seines großen Meisters einzutreten, den Unglücklichen aufzusuchen und seinen Schaden heilen zu helfen.
Er kam nach Sulz. Er besuchte Hannikel nun das erste Mal auf dem Rathaus, an jenem vor ihn so wichtigen Morgen, an welchem ihm das Todesurteil angekündigt worden war.
Sein Betragen gegen Hannikel war das Betragen eines christlichen und klugen Vaters gegen seinem ungeratenen Sohn. Ernst und Liebe blickten aus seinen Mienen und aus seinen Worten ihm gegenüber hervor. Anfänglich hatte er viel Mühe, Hannikels aufbrausendes, ganz mit Vorurteilen umzäuntes Herz einigermaßen zu besänftigen, ihn zum Besinnen über sich selbst und zur Erkenntnis seiner schweren Vergehungen zu bringen. Hannikel wollte auch hier lange nicht Hannikel sein. Es träumte ihm immer mehr von guten wie auch bösen Taten; mehr von dem, das er nicht getan hatte, als von dem, dessen er wirklich überwiesen worden war; selbst mehr von Belohnung als von Strafe.
Endlich schien es der unausgesetzten Arbeit seines einsichtsvollen Seelsorgers unter dem Beistand von oben wirklich zu glücken, dem Herzen des Verurteilten auf der rechten Seite beizukommen, und ihn in die besseren Wege des verlorenen Sohns einzuleiten. Seine gefühlslose Seele erweichte, sein Auge tränte aus seinem Busen zitterten Seufzer hervor, sein Mund fing zu beten an; er brachte nichts mehr zu seiner Verteidigung. wohl aber zu seiner eigenen Anklage und Beschuldigung recht vieles vor, erkannte die ihm angekündigte Todesstrafe als gerecht und flehte zu Gott um Gnade und Erbarmung. Der würdige Geistliche bezeugte mir, dass Hannikels Tränen, die er seit der Ankündigung seines Urteils geweint hatte, wenn sie alle aufgefangen worden wären, ein halbes Schoppenglas bis oben angefüllt hätten. Schön und rührend war es, als derselbe einmal zu Hannikel sagte: »Wir haben alle nur einen Weg zu Gott und dieser heißt: Tut Busse und glaubt an das Evangelium.«
Und wer musste sich nicht über den schönen Anblick freuen, als derselbe seine beiden Hände auf Hannikels Schultern legte, ihm liebevoll und ernsthaft in die Augen sah und zu ihm sagte: »Mein Sohn! Du weißt, wie viel ich an dir getan und wie ich mich dir mit Aufopferung aller Gemächlichkeit seit deiner Verurteilung ganz gewidmet habe. Ich bin zwar nicht mit Jesu, dem großen Hirten zu vergleichen, doch bin ich ihm gewissermaßen ähnlich, denn ich habe meine ganze Herde, meine ganze Gemeinde zurückgelassen, um dich verlorenes Schäflein aufzusuchen und dich dem himmlischen Vater als einen kostbaren Fund in seine Arme zu legen. Du weißt, wie viele Tränen, wie viele Seufzer du mich gekostet hast. Diese Tränen, diese Seufzer würden die einst noch bange machen und ich würde der Erste sein, der dich vor Gottes Richterstuhl verklagen würde, wenn meine Arbeit an dir vergeblich sein sollte; so wie ich auf der andern Seite auch einmal der Erste sein würde, unter den Dankenden und sich Freuenden, wenn ich dich bei denen begnadigten Sündern fände, die wahrhafte Buße getan haben.«
Unter Hannikels Vorbereitungsgeschichte gehört auch noch dieser Umstand:
Als ihn Herr Pfarrer Reininger in die Bußordnung eingeleitet hatte, überließ er ihn einmal seinen eigenen Betrachtungen und beobachtete ihn nur von fern. Da soll Hannikel nicht nur rasch und kräftig gebetet, sondern auch seine Ketten alle zusammengefasst, auf seine Hände hingelegt, mit seinen Tränen benetzt, geküsst und sich gesegnet haben, dass er solche an sich trage, weil sie ihm zu seiner Besserung behilflich seien.
Am Montag vor seiner Hinrichtung empfingen die sämtlich Verurteilten noch einmal das Abendmahl. Bei dieser feierlichen Handlung war Hannikel nicht nur besonders aufmerksam, sondern wusste auch seine Brüder so rührend anzureden und zu ermahnen, dass sie nicht nur alle laut weinten, sondern dass sich auch die Wächter die Augen wischten.
Warme Speise hatte er in den letzten drei Tagen wenig mehr zu sich genommen, sondern sich nur je und je mit einem Trunk Wein erquickt.
Er bat es sich noch zur letzten Wohltat aus, dass man seinen Buben, den Dieterlen bei ihm lassen und erlauben möchte, auch noch einmal von seiner Frau und den übrigen Kindern Abschied nehmen zu dürfen. Man willfahrte ihm und brachte seine ganze Familie noch einmal vor ihn, die er danach unter guten Äußerungen wieder entließ.
Frühmorgens an seinem Todestag um halb 4 Uhr hörte Hannikel einen sehr großen Lärm auf dem Markt. Er fragte den Geistlichen, ob er ihn nicht erlauben möchte, durch die Scheiben hinaussehen zu dürfen.
»Du darfst es, mein Sohn«, antwortete ihm dieser, »aber im Voraus muss ich dir sagen, dass du da schon eine Menge Leute erblicken wirst, die auf deine Hinrichtung warten; Leute, die dich zum Teil sehr lieblos beurteilen und über deine Schmach aus Unverstand lachen; aber auch Leute, die für dich beten und dich bedauern werden.«
Der Verurteilte blickte durch die Scheiben. Auf einmal drang der kalte Todesschweiß sichtbar durch seine Stirn und schlich sich auch über seine Nase und Backen herunter. Ungefähr 6 Minuten dauerte sein harter Kampf, dann raffte er sich wieder zusammen und wurde ganz ruhig.
Dies muss ich doch auch noch bemerken, dass jeder von den Verurteilten von einem katholischen Geistlichen in einem besonderen Zimmer auf ihr Verlangen betreut wurde.
Herr Vikarius Diener von Bürlingen, von Owischer Herrschaft, der sich kürzlich um die zu Fehldorf justifizierte Johanna Katharina Dödlerin sehr verdient gemacht und sich allgemeines Lob erworben hatte, nahm den Wenzel, Herr Kaplan Bürcklin von Fischingen den Duli und Herr Pfarrer Landwing zu Glatt den Nottele in die Seelenkur. Alle 3 Herrn Geistliche legten von ihren gefährlichen Patienten das gute Zeugnis ab, dass sie während ihrer Behandlung aufmerksam und gerührt gewesen seien und ihnen die besten Hoffnungen von sich zurückgelassen haben.
Dienstagmorgen, am 17. Juli um 6 Uhr, war das Wohllöbliche Malefizgericht schon auf dem Rathaus versammelt, auch sonst alle mögliche, die Exekution betreffende Veranstaltungen aufs Beste getroffen.
Die Verurteilten wurden durch die Wache abgeholt, ihnen ihre gehörige Plätze angewiesen und sodann der Anfang zur weiteren Verhandlung in Gegenwart einer unzählbaren Volksmenge durch folgende nachdrückliche und schöne Rede von Herrn Oberamtmann Schäfer gemacht.