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Das Polarschiff – Eine Verirrte

Fritz Holten
Das Polarschiff
Eine Erzählung für die reifere Jugend
Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig, 1890

Eine Verirrte

Der Ingenieur Olaf Eriksen, sonst ein Mann von strammer Selbstzucht und Gelassenheit, war heute außer Rand und Band.

»Beim Jupiter, was soll das? … Und woher die außerordentliche Schwankung?«

Unmutig erfasste er einen Stuhl und setzte ihn so kräftig vor ein kleines Tischchen, dass er in all seinen Fugen zu ächzen und zu krachen begann.

Im nächsten Augenblick saß der erregte Mann auf dem misshandelten Möbelstück und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Zeiger eines Apparates, der jetzt in Greifnähe vor ihm auf dem Tisch stand.

Dieser Apparat ruhte eingeschlossen in einem sauberen Mahagonikästchen, aus dem nur ein zwanzig Zentimeter langes, hellglänzendes Messingstäbchen emporragte. Rechts davon befand sich an der Außenseite eine weißschimmernde, mit zierlichen Heftnägeln befestigte Skala mit Zeiger. Auf der entgegengesetzten Seite ein kleiner elektrischer Wecker, der unaufhörlich ruckweise rasselte.

»Zweihundertfünfzig Megion …«, las Olaf Eriksen mit allen Zeichen der Verwunderung von der Skala. »Ein viel zu hoher Wert … ach, Unsinn! Das kann gar nicht sein, das ist ja gar nicht möglich!«

Erregt fuhr er mit der Hand über die breite, prächtig modellierte Stirn und durch das kurze, blonde, etwas struppige Haupthaar, sprang dann von seinem Sitz auf und durchmaß mit stürmischen Schritten das Zimmer.

Ja, was mochte dieser plötzlichen, rätselhaften Tätigkeit des Apparates zu Grunde liegen? Er diente doch nur zur Bemessung der elektrischen Energie in der von Tromsö dreißig Kilometer entfernten Kraftstation, weit hinten im Gebirge, wo er, Eriksen, die Wasser der ewigen Gletscher, die in mächtigen Kaskaden rauschend zu Tal sprangen, bezwungen hatte, seine Dynamomaschinen zu bedienen.

»Bin ich denn daran, ein Narr zu werden?«, fragte er sich. »Können meine Augen nicht mehr richtig sehen, meine Ohren nicht mehr richtig hören? Der Wert ist zu hoch, viel zu hoch! Außerdem schwankt er zwischen Null und Dreihundert!«

Wieder stand Olaf vor dem Apparat und starrte mit großen Augen voll Verwunderung auf den unheimlichen, auf und nieder schwankenden roten Zeiger. Dessen Stellung war in der Tat eine stark veränderliche, unsichere. Das bestätigte auch das schrille, ruckweise Läuten des eingeschalteten elektrischen Klingelwerkes.

»Sollte am Ende …?«

Ein Gedanke schien Eriksen durch das Gehirn zu schießen. Doch er schüttelte gleich darauf nur wieder unmutig das Haupt. Konnte er, wollte er nicht daran glauben?

»Es ist unmöglich, rein unmöglich! Die Sender sind doch alle ganz genau auf Normalwellen abgestimmt«, knurrte er grimmig, steckte die energisch geballten Fäuste in die Hosentaschen und begann wieder im Zimmer auf und ab zu stampfen.

»Und doch, ich mag dies und jenes in Berechnung ziehen, ich weiß keine andere Lösung«, kalkulierte er mit gefurchter Stirn. »Was sagst denn du dazu, verehrter Herr und Meister?«

Olaf Eriksen hatte seine Wanderung unterbrochen und war zufällig vor dem lebensgroßen Bild des berühmten Entdeckers der elektrischen Wellen, Heinrich Hertz, das die Wand über dem Schreibtisch schmückte, stehen geblieben, zu dem er nun eine kurze Weile sinnend und fragend aufschaute.

Plötzlich drehte er sich auf dem Absatz, entnahm einem offen stehenden Schränkchen ein Relais und einen kleinen Morse, die er mit wenigen flinken Handgriffen an die Stelle des elektrischen Läutewerkes schaltete.

»Nun werden wir es ja bald haben«, sagte er dabei, »wenn wirklich diese Störung, wie ich nachgerade doch annehmen muss, durch eine verirrte Drahtlose verursacht sein sollte.«

Und in der Tat, kaum hatte er die Apparate angeschlossen und die letzte Klemmschraube angezogen, da ertönte rasch aufeinander der funkentelegrafische Anruf.

Wieder aber stutzte Eriksen und schaute nun verwundert auf den Morse nieder. Dieser Ruf entsprach doch nicht der polizeilichen, vor allem nicht der seepolizeilichen Vorschrift?

»Hinter dem Geheimnis wären wir jetzt. Aber was will nur dieser Mensch?«, fragte er sich mit schlecht verhehltem Ärger. »Er scheint die Wellenlänge mit Absicht fortgesetzt zu verändern. Soll damit etwa bezweckt werden, dass die staatlichen Stationen außerstande sind, das Telegramm aufzunehmen? Das wäre eine bodenlose Unverfrorenheit, die nur ein frecher Amerikaner zuwege bringen kann, der sich im Besitz eines Higle-Seesenders befindet. Aber nun müssen wir erst recht dahinter kommen!«

Flink drehte Eriksen den Morse auf und nun begann das geheimnisvolle Geklapper und der Papierstreifen abzulaufen.

Voll Spannung lauschte er, doch nun gab es eine neue Störung. Polternde Schritte näherten sich, die Zimmertür wurde aufgerissen.

»Wollen Sie die Güte haben, mein Herr …«

»Nichts will ich haben. Lass mich gefälligst in Ruhe!«

»Und doch, Herr, Sie müssen …«

»Was müssen? Niemals muss ich müssen!«

»Doch, ich muss Sie bitten, dass Sie schleunigst in die Halle kommen, oder es kann ein Unglück geben.«

Ein noch sehr jugendlicher, intelligent aussehender Mensch im blauen Arbeitskittel stand schlotternd an allen Gliedern unter der Tür. In seinem hübschen Angesicht standen unverkennbar alle Zeichen der höchsten Angst ausgeprägt.

»Was ist vorgegangen? Dass dich doch … Soll ich denn aus den unangenehmen Überraschungen heute wirklich nicht mehr herauskommen?«

»Entschuldigen Sie, mein Herr, ich glaube, ich habe eine grandiose Dummheit gemacht.«

»Natürlich, die ist immer grandios, wenn du dergleichen einmal gemacht hast.«

»Ich will es zugeben … ich könnte mir indessen dieses Mal dreist die Zubilligung mildernder Umstände ausbitten … doch es ist keine Zeit zu verlieren … Einer der kleinen Heliumakkumulatoren ist nämlich kurzgeschlossen … Ich habe es versucht, aber den entstandenen Lichtbogen nicht einmal mit dem magnetischen Gebläse wegbekommen.«

»Dass dich doch aber auch …«, fuhr es dem Ingenieur voll Ärger über die Lippen. Im nächsten Augenblick stürmte er, den klappernden Morse im Stich lassend, dem jungen Menschen voraneilend, aus dem Zimmer und den Flur entlang.

Der Unfall, der durch den jungen Mann gemeldet worden war, musste recht erheblich gewesen sein, denn Olaf Eriksen kehrte erst nach geraumer Zeit mit geschwärzten Händen und allen Spuren vollzogener körperlicher Arbeit in sein Zimmer zurück.

Während er sich mit seinem Taschentuch die Stirn trocknete und dann an einem Waschtisch die Hände reinigte, fiel sein Blick auf den Morse, der nun still und friedlich dastand. Hatte er doch seine Arbeitsleistung redlich und gründlich ausgeführt. Neben ihm und über das Tischchen hinab gekollert, weit ins Zimmer hineinreichend, lag meterhoch ein in luftigen Schlingen aufgebauter Haufen des Papierstreifens, der bis zum Ende von der Rolle abgelaufen war.

Wenig angenehm davon berührt, trat Eriksen hinzu und war schon im Begriff, das lockere Papiergebäude mit dem Fuß zur Seite zu schieben, als er sich eines anderen besann.

Er suchte und fand bald das oben liegende Ende des Streifens und ließ ihn nun achtsam durch die Finger in einen Papierkorb gleiten, in dem er die Papiermasse, die sich in ihm häufte, immer wieder durch einen flüchtigen Tritt des Fußes feststampfte.

Endlich stieß er auf die Morsezeichen und las: »Thomas a lost man on the way with Lady Jefferson.«

»Hm! Das klingt eigentümlich genug!«

Der Ingenieur ließ sich unwillkürlich auf einem Stuhl nieder und begann die Zeichen nochmals durchzugehen.

»Es stimmt … Thomas a lost man … dieser Thomas ist also ein verlorener Mann … eine Mitteilung kurz und bündig, die indessen die verschiedensten Deutungen und Schlüsse zulässt.«

Mit fragenden Blicken sah Eriksen eine Weile in die ihm gegenüberliegende leere Zimmerecke und setzte dann seinen Monolog fort. »Auf alle Fälle also ein Unglücksmensch … vielleicht auf irgendeine Weise bereits zugrunde gerichtet oder am Rande des Verderbens angelangt … Will ich nicht das Schlimmste annehmen, vielleicht das Opfer widriger Verhältnisse, möglicherweise aber auch durch ein selbstverschuldetes Unglück elendiglich dahingegangen. Und nun die Frau, mit dem der Depeschenabsender unterwegs ist, die Lady Jefferson? Was mag diese Frauensperson im Zusammenhang mit dem verunglückten Menschen zu bedeuten haben? … Es kann ebenso gut die eigene Frau oder Tochter oder die Frau jenes Verunglückten, eine Freundin, eine verehrte Erbtante oder die Großmutter sein. Doch … seien wir nicht voreilig, lesen wir weiter. Vielleicht kommt noch etwas, das wenigstens einige Aufklärung gibt.«

Und Olaf Eriksen buchstabierte, nachdem er den Papierstreifen wieder ausgenommen hatte. »make all ready to start for America Geffrey«

»… Na ja, da haben wir es! Alles bereit machen zur Abreise nach Amerika … Das ist ein recht netter Schluss! … Rechne ich zu dieser lakonischen Aufforderung die veränderten Wellenlängen und den Higle-Seesender, dessen sich der Absender ohne Zweifel bedient hat, dann kann das sehr wahrscheinlicher Weise nur ein Mensch sein, der durchzubrennen im Begriff ist, denn anders würde er den staatlichen Stationen und damit der Polizei doch nicht aus dem Wege gehen … Na, mir soll es recht sein. Ich kann beim besten Willen nichts hinzutun oder hinwegnehmen, denn wer kann sagen, an welchem Weltende die Depesche aufgegeben wurde … Ich kann sie, um mein Gewissen zufrieden zu stellen, allenfalls dem Polizeiamtmann übergeben.«

Nachdenklich wickelte der Ingenieur das Streifenende mit den Morsezeichen über den Zeigefinger und steckte den Papierring in die Brusttasche.

 

***

 

Am anderen Tag befand sich Olaf Eriksen auf einem Geschäftsgang entlang des Hafendammes.

Das anmutige Tromsö, von den blauen Fluten des gleichnamigen Sundes umspült und von einer herrlichen Gebirgslandschaft umgeben, ist zu dieser Zeit – es war im Monat August – noch immer voll Leben und Treiben.

Schiffe kommen und gehen den ganzen Tag, die großen Ozeandampfer, die den Verkehr mit England, Deutschland, Holland und Amerika vermitteln und zahlreiche Robben- und Walrossjäger, die nach langer Ausreise ihre Beute den städtischen Kaufherren zuführen. Dazwischen wimmelt es von kleineren Küstenfahrzeugen der Tromsö-Amts-Dampfkibs-Gesellschaft, die flink und geschäftig das Küstengebiet befahren, den Verkehr durch die benachbarten Sunde und großen Fjorde zu vermitteln.

Olaf Eriksen durchschritt achtlos das Menschengewühl der Matrosen und Fischer, Kaufleute, Lastträger und Karrenführer, die sich durcheinander zu den Schiffen drängten oder mit ihren Koffern, Säcken und beladenen Handkarren den Warenlagern und Geschäftslokalen zusteuerten. Einige Lappenfamilien, ihre Renntiere am Zügel daher führend, durchquerten die eilende und hastende Menge. Dazwischen promenierten zahlreiche fremdländische Erscheinungen, Herren und Damen, in mehr oder weniger gewählten Reisetoiletten. Sein Ohr vernahm deutsche, französische und englische, ja sogar slawische und orientalische Laute.

Plötzlich blieb er stehen, starrte geraume Weile mit verwundert blickenden Augen auf eines der Schiffe und begann mit einem Mal herzlich zu lachen.

Ein dunkler, fast schwarz gestrichener Dampfer englischer Flagge, die Lady Jefferson, war kurz zuvor den Tromsösund herabgekommen und lag nun draußen auf der Reede.

»Es ist doch unglaublich, was die Zufälle des Lebens zutage fördern können«, sagte sich Olaf kopfschüttelnd und nochmals flog sein Blick prüfend hinüber zu dem Schiff, nun in die Höhe, wo er am Hauptmast alsbald die funkentelegrafische Drahtvorrichtung entdeckte. Wieder lachte er. »Trifft zu, was sich in meinem Gehirn in diesem Augenblick zusammenreimt, ist es höchst wahrscheinlich völlig überflüssig, über die Drahtlose von gestern, die, wie ich glaube, in meiner Brusttasche versenkt und halb vergessen ruht, auch nur einen Augenblick sich noch den Kopf zu zerbrechen.«

Nochmals flog ein leichtes Lächeln über sein etwas derb geformtes, doch sehr sympathisches Angesicht, dann trat er neugierig an den Landungssteg, wo soeben mehrere Boote mit den Passagieren der Lady Jefferson anzulegen im Begriff waren. Ein kleines Heer von Lastträgern, mehrere Zollbeamte und Hoteldiener hatten bereits am Ausgang des Steges Aufstellung genommen.

Das stark und derb gebaute, ziemlich tiefgehende Handelsschiff musste indessen nur wenige Passagiere an Bord haben. Etwa ein Dutzend Männergestalten, russische Kaufleute, in lange, schwere Mäntel gehüllt, eine baschlikartige Mütze auf dem Kopf, lehnten lässig an der Deckbrüstung und sahen mit mehr oder weniger Gleichgültigkeit herüber auf das Menschengewühl am Strand. Ebenso viele dieser Männer kletterten aus den Booten und kamen langsam und bedächtig über den Steg geschritten. Auch auf die Tromsöer schienen diese immerhin sehr stattlichen Erscheinungen keinen besonderen Eindruck zu machen, waren die russischen Kaufleute in diesem Hafenplatz doch oft gesehene Gäste, gewöhnlich unterwegs nach London, Tierfelle und Pelzwerk auf den englischen Markt zu bringen, die sie von Samojeden und ostsibirischen Jägern gegen Schießbedarf, Branntwein, Schnupftabak und allerlei Lebensbedürfnisse zu erhandeln pflegten. Sollte einer dieser schlichten Männer, die doch alle mehr oder weniger weitab von dem großen Pulsschlag des modernen Lebens ihr Dasein verbringen, das seltsame Telegramm, das er, Olaf, in der Tasche trug, in die Welt versendet haben? Und dazu: Der Absender der Depesche war doch allem nach sicherlich kein Russe! Mit gemischten Empfindungen musterte Olaf Eriksen die an ihm vorüberziehenden Gestalten. Doch hinter den geschilderten Passagieren tauchten noch zwei fremdartige Erscheinungen auf, ein verhältnismäßig noch junger Mann im eleganten Reiseanzug, die kurze Pfeife im Mund, wie es scheinen wollte, ein Abkömmling der angelsächsischen Rasse, und hinter ihm in strammer Haltung ein hünenhafter Schwarzer, offenbar des Ersteren Diener.

Olaf fasste den Englishman, dessen ganze Haltung auf den ersten Blick den weltgewandten und vielgereisten Mann verriet, sofort ins Auge. Die Gestalt des Fremden erschien zunächst auffallend hager, bei näherem Zusehen aber entdeckte man unschwer, dass man in ihr einen muskelharten Sportsmann vor sich hatte, an dem nur die stetige körperliche Übung ein Fettpölsterchen bisher nicht hatte aufkommen lassen.

Flott und selbstbewusst kam dieser Mann über den Steg geschritten und streifte im Vorüberschreiten mit einem flüchtigen Blick den ihn beobachtenden Norweger. Dieser, der im gleichen Augenblick die wenig angenehmen Empfindungen nachfühlte, die ihn beim Empfang der seltsamen Depesche überkommen hatten, fühlte sich für einen Moment etwas verwirrt und langte unwillkürlich nach der Mütze. Der Engländer schaute erstaunt auf, fasste Olaf etwas schärfer ins Auge, dankte höflich und ging vorüber.

Olaf Eriksen ärgerte sich gewaltig über seine Dummheit.

Sofort entzog er sich dem Menschengedränge um ihn her und folgte dem Fremden.

»Mein Herr«, redete er ihn in dessen Muttersprache an, »verzeihen Sie – Sie mögen einigermaßen überrascht gewesen sein, von einem Ihnen völlig fremden Mann einen Gruß empfangen zu haben. Ich muss Ihnen bemerken, dass dies einer augenblicklichen Gedankenabwesenheit entsprungen ist, gleichwohl sagt mir ein bestimmtes Gefühl – ich glaube wirklich, Sie sind mir nicht ganz unbekannt. Darf ich fragen, ob Sie den Vornamen Geffrey tragen?«

»Yes, Sir. Ich nenne mich Geffrey.« Der Befragte erwiderte das sehr erstaunt und etwas zurückhaltend.

»Na, dann stimmt das ja«, versetzte Olaf. »Ich habe mich Ihnen gegenüber eines sehr üblen Verdachtes und gewissermaßen – wenn ich so sagen darf – eines kleinen Eigentumsvergehens schuldig gemacht, und da bin ich Ihnen wohl auch einige weitere Aufklärungen schuldig. Wenn Sie erlauben, werde ich Sie einige Schritte weit begleiten.«

Des Fremden Erstaunen wuchs. Er fasste wiederum den Norweger scharf ins Auge, schien unschlüssig zu sein, sagte endlich aber doch. »Mein Herr, ich bin auf dem Weg zum Grand Hotel. Wenn Sie mich begleiten und mir solcherweise den Weg dahin weisen wollen, kann ich Ihnen nur dankbar sein.«

»Nun, das trifft sich ja gut. Gern will ich Ihnen diese Gefälligkeit erweisen. Im Übrigen, erlauben Sie, um sogleich auf des Pudels Kern zu kommen, dass ich die Frage stelle: Verstehen Sie sich auf Morsezeichen?«

»Yes, Sir. Ich verstehe wohl etwas davon.«

»Na, dann bitte, lesen Sie doch mal. Es wird so wohl das Beste sein, da wir dann beide gleich gut wissen, was uns die Ehre unserer beiderseitigen Bekanntschaft vermittelt hat.«

Olaf Eriksen langte in seine Brusttasche, zog den etwas zerdrückten Morsestreifen hervor, entrollte das äußere Ende und reichte ihn dann dem anderen.

Dieser hatte kaum einige der Zeichen gelesen, als er erstaunt auffuhr. »Herr, sind Sie des T…? Wie kommen Sie dazu, eine meiner Depeschen abzufangen?«

»Na, erlauben Sie! Glauben Sie, ich habe nichts anderes zu tun und fände vielleicht ein Vergnügen darin, auf seepolizeiwidrige Telegramme Jagd zu machen? Wenn diese Depesche unversehens in meinen Apparat gelangt ist, dann mag es ein Zufall oder dem Umstand zuzuschreiben sein, dass es Ihnen beliebt, solche Dinge unter etwas ungewöhnlichen Umständen in die Welt zu setzen.«

Der Fremde lächelte halb verlegen und wendete sich zum Weiterschreiten.

»Kommen Sie, bitte, mein Herr«, sagte er dabei. »Ich weiß natürlich nicht, was Sie in den Stand setzte, mein Telegramm aufzunehmen, aber ich sehe ein, dass das Verschulden zunächst an mir liegt. Sie haben mich, wie Sie soeben sagten, in einem schlimmen Verdacht gehabt?«

»Allerdings! Wenn Sie sich Ihren totgesagten Mann und den übrigen Wortlaut der Depesche in Erinnerung rufen wollen, werden Sie zugeben müssen, dass ihr Inhalt die verschiedensten Lesarten und Mutmaßungen zulässt.«

Wieder lächelte der Fremde, und, wie es Olaf zu seiner Genugtuung bedünken wollte, völlig unbefangen.

»Ich will Ihnen gerne einräumen, dass der Inhalt der Depesche geeignet ist, von Uneingeweihten missverstanden zu werden. Ich möchte Sie daher bitten, mich zum Hotel zu begleiten und mir dort für eine kurze Weile Gesellschaft zu leisten. Obwohl wir beide einander völlig fremd sind, fühle ich mich doch verpflichtet, Ihnen zu sagen, was mich zur Absendung eines solchen Telegramms veranlasst hat.«

»Ich nehme Ihre Einladung gern an, nicht etwa getrieben aus Neugierde, nein, wahrhaftig nicht. Aber es wird mir ein Vergnügen sein, mit einem Mann, in dem ich einen Gentleman zu erkennen glaube, ein angenehmes Viertelstündchen zu verbringen.«

Der Fremde erwiderte diese Höflichkeit mit einem verbindlichen Kopfnicken, worauf sie, gefolgt vom Diener, dem nahegelegenen Hotel zu pilgerten.

Dort wurden sie von einem großen Schwarm dienstwilliger Persönlichkeiten empfangen. Der Fremde umgab sich aber sofort mit jener vornehmen, undefinierbaren Unnahbarkeit, die nur solchen Menschen eigen ist, die zu imponieren und zu befehlen gewohnt sind.

»Geben Sie uns ein Zimmer, in dem wir unbelästigt bleiben«,

gebot er. » Servieren Sie sogleich ein gutes, einfaches Frühstück für zwei Personen.«

Auf seinen Wink kam der Schwarze herbei, nahm seinem Herrn Mantel und Stock ab und verschwand damit, wie es schien, in der Richtung zu den Restaurationsräumen.

Die beiden Herren wurden von dem inzwischen herbeigeeilten Eigentümer des Hotels begrüßt und gebeten, ihm zu folgen, der sie in ein gut ausgestattetes Zimmer des ersten Stockwerkes geleitete.

Sie machten es sich bequem und fanden sich dann an einem Fenster mit prächtiger Aussicht zusammen. Dadurch angeregt sprachen sie zuerst von den Schönheiten der nordischen Landschaft. Der Fremde ließ dabei der überraschenden Farbenglut, der auffallenden Durchsichtigkeit der Atmosphäre und dem tiefen Blau des Himmels alle Gerechtigkeit widerfahren. Er sprach von dem außerordentlich lebhaften Treiben in den nordischen Hafenstädten, die ihn, zumal bei der herrschenden, geradezu lästigen sommerlichen Wärme, sehr an Sorrent und Neapel erinnerten. Sie kamen auf die wunderbaren Segnungen des Golfstromes zu sprechen, die in den Niederungen dieser hohen Breiten sogar die Gerste, den Sommerroggen und Sommerweizen gedeihen ließen. Überall fänden sich üppiges Gras, die stattlichsten Birken- und Fichtenbäume. Olaf Eriksen, der durch die Anerkennung, die der Fremde den Schönheiten seines Vaterlandes zollte, warm geworden war, schilderte mit großer Begeisterung die Pracht der Bergwelt tiefer im Land, die kennen zu lernen der andere bisher noch keine Gelegenheit hatte. Wie dort in der Welt der Gletscher wildrauschende Gebirgsbäche über die Felsenwände zu Tal sprängen und so Leben und Bewegung in die an sich rauen, aber großartigen Naturbilder brächten. Wie ihr gewaltiges Rauschen in der Totenstille der großen Bergnatur gleichsam zu einer wohligen Musik würde. Wie die Wasser, schäumend an Jugendkraft, die zackigen Felsen und zernagten Klüfte mit ihrem weißen Gischt besprengen und für das Auge des staunenden Beschauers von Klippe zu Klippe die herrlichsten Regenbogen spannen.

Die Herren übersahen in ihrem Eifer ganz, dass mittlerweile das Frühstück aufgetragen war, und mussten erst zu Tisch gebeten werden.

Sie entsprachen der Aufforderung, begannen von den Speisen zu nehmen, redeten noch von diesem und jenem, bis der Fremde begann.

»Wir wollen ob unserer Naturschwärmerei, wozu uns die schöne Aussicht verleitete, doch nicht den ursprünglichen Zweck, der uns hierher führte, vergessen. Ich habe Ihnen versprochen, Sie über die Bedeutung der bewussten Depesche aufzuklären. Erlauben Sie, dass ich Ihnen zunächst meinen Namen nenne – Wolsey, Geffrey Wolsey! Meinen Vornamen«, fügte er mit einem feinen Lächeln hinzu, »kannten Sie ja bereits.«

Olaf Eriksen nannte nun auch den seinen und bald war das Gespräch in die neue Richtung im Gange.

»Ich bin Amerikaner – Bürger der United States«, erklärte der Fremde.

»Das überrascht mich. Ich hielt Sie für einen Engländer. Ihre Aussprache verrät keineswegs den Mann von jenseits des großen Teiches.«

»Ich weiß das. Es kommt daher, dass ich so ziemlich meine ganze Jugendzeit in England verbrachte.«

»Und Sie sind wieder auf dem Weg nach England?«

»Yes. Ich reise nach Newcastle, von dort mit der Bahn über London nach Southampton, einen der komfortablen deutschen Dampfer zu erwarten, um mich nach New York zu begeben.«

»Sie wollen mit der Lady Jefferson wieder weiter?«

»Yes«, entgegnete der Amerikaner. »Das Schiff nimmt, wie ich hörte, nur einen Posten getrockneter Fische an Bord. Es wird schon morgen sehr früh wieder auslaufen.«

»Schade! Da Ihnen meine Heimat so gut gefällt, bleiben Sie doch noch ein Weilchen! Wir sind noch immer in der Saison. Sie treffen gute Gesellschaft.«

»Ihr Vorschlag, mein Herr, ist nicht übel, er hat etwas Verlockendes. Doch ich will Ihnen offen gestehen, ein Misserfolg in Archangelsk hat mich ein wenig verstimmt. Meine Wünsche richten sich aus diesem Grunde eben jetzt zuallerletzt auf den Umgang mit geschwätzigen Menschen.«

»Wie man sich täuschen kann! Ich glaubte bisher annehmen zu müssen, Sie reisen zu Ihrem Vergnügen?«

»Nichts weniger als das. Es war eine von vornherein wenig Erfolg versprechende Mission, die mich in diese nordischen Breiten und auf russischen Boden führte. Meine Bemühungen sind denn auch alle regelrecht ins Wasser gefallen.«

»Ich bedauere das sehr! Ich werde selbstverständlich nicht so indiskret sein, Sie zu fragen, um was es sich handelt. Immerhin ich sage das, weil ich hier im Norden zu Hause bin. Kann ich Ihnen vielleicht einen Dienst leisten, bitte ich, über mich zu verfügen.«

»Sie sind sehr liebenswürdig. Ich fürchte nur, dass hinsichtlich der in Rede stehenden Angelegenheit jede fernere Bemühung so gut wie vergeblich sein wird. Oder glauben Sie, dass ein Walfischboot, das seit zwei Jahren verschollen, vielleicht untergegangen oder ins Eis geraten ist, sich noch auffinden lässt?«

Der Norweger zuckte die Achseln, blinzelte eine Weile mit halb geschlossenen Augen nach einer Mücke, die auf dem schneeweißen damastenen Tischtuch emsig nach einem Krümchen suchte und sagte dann: »Wundert mich nur, dass Sie an einem verschollenen norwegischen oder russischen Walfischjäger ein Interesse haben. Was kann Sie, den Mann vom anderen Weltende, dazu bestimmen?«

»Sie haben recht, es mag seltsam genug klingen. Indessen, Sie sollen noch mehr staunen, wenn ich Ihnen sage, dass es sich im Zusammenhang mit diesem Schiff um ein Vermögen von etwa zweihundert Millionen Dollar handelt.«

»Sie scherzen! Das wäre ein Riesenvermögen!«

»Das ist es auch. Zumindest nach europäischen Begriffen.«

»Und diese paar Millionen Dollärchen sollten sich an Bord jenes Walfischfängers befinden?«

»Nicht die Millionen, aber der Mann, der zu dem Geldschrank sozusagen den Schlüssel in Händen hat.«

»Ich beginne zu begreifen und muss es in diesem Fall allerdings als sehr wohl angebracht finden, wenn Sie zu erfahren wünschen, wo die paar Schiffsplanken mit dem Mann hingeraten sind.«

»Das ist eben die Frage, und ich sagte Ihnen schon, dass mir das Geschick die Antwort darauf bisher leider schuldig geblieben ist.«

»Hei, das wäre aber ein Heidenpech!«

»Je nun, was ist daran zu ändern?«

Der Norweger sperrte Mund und Augen auf und lachte dann, lachte, dass er wie ein Pudding wackelte.

»Verzeihen Sie, mein Herr, mein Gelächter – aber, wahrlich, ich konnte mir nicht helfen. Sie sagten das soeben mit einer Gelassenheit, mit einem dermaßen erstaunlichen Gleichmut, als ob es sich um den Verlust eines Zigarrenstummels handle.«

Nun musste auch der Amerikaner lachen.

»Was hilft es, dem, was nicht ist, eine Träne nachzuweinen? Wird die Sache darum besser?«

»Beim Jupiter, Herr, Sie gefallen mir! Sie scheinen einer von jenen, welche die Welt für alle Fälle in ihrer Tasche haben. Der Verlust der paar Milliönchen würde Sie ganz und gar nicht aus dem Gleichgewicht bringen?«

»Nicht die Spur! Sie würden den Wohlstand meiner Familie wohl vermehren, aber, wenn wir uns jene Erbsumme – denn um eine solche handelt es sich – nicht zu sichern vermögen, würden wir uns mit dem, was wir jetzt schon besitzen, doch noch recht auskömmlich durch die Welt schlagen können.«

»Ich beglückwünsche Sie zu diesen beneidenswerten Verhältnissen und im Übrigen läge also, wie Sie sagen, eine Erbschaftsfrage vor. Es handelt sich um Papiere, oder vielleicht um den Mann selbst, als Erblasser oder Testamentsvollstrecker?«

»Yes. Es handelt sich um Papiere, die jener Mann, Thomas Wolsey, ein weitläufiger Vetter von mir, in Verwahrung hatte.«

»Aber, sagen Sie mir nur, wie kommt ein Mann, der zweifellos selbst auch den wohlhabenden Klassen angehört und obendrein ungezählte Millionen Dollar in Verwahrung hat, an Bord eines Walfischfängers?«

»Das will ich Ihnen, da es Sie zu interessieren scheint, mein Herr, recht gerne sagen. Thomas Wolsey ist oder war aus ganz besonderem Teig gebacken. Sie wissen, was man unter einem närrischen Kauz gemeinhin zu verstehen pflegt?«

Der Norweger nickte zustimmend. »Ein Mann mit bestimmten, besonders gearteten Neigungen oder Charaktereigenschaften; sagen wir: ein Original.«

»Yes, seien wir einigermaßen nachsichtig und sagen wir: ein Original. Er war auch in der Tat für gewöhnlich ein stiller, ruhig dahinlebender, herzensguter Mann, der keinem Menschen ein Härchen krümmte, dazu ein eingeschworener Hagestolz. Von Zeit zu Zeit aber hatte er gar mächtige Grillen im Kopf. Er konnte plötzlich, still zu Tisch sitzend, den Löffel weglegen, aufspringen, einen Koffer packen und mit dem nächstabgehenden Steamer eine Weltreise antreten.«

»Er hatte also die periodisch auftretende Reisewut.«

»Sehr richtig! Er hatte das völlig unberechenbare, von Zeit zu Zeit auftretende Bedürfnis, eine große Reise zu machen! Und mehr als das. Das Ende der völlig zwecklosen Reisen war gewöhnlich ein Aufenthalt in Wien, Berlin oder Paris, wo er sich umständlich für eine europäische Nordlandreise ausrüstete. War alles bis aufs letzte Zwirnfädchen beschafft und begannen im Frühjahr die lappländischen Walfischstationen eisfrei zu werden, war er zur Stelle, sich auf einem ausreisenden Boote einen Platz zu sichern, wobei er sich dem Kapitän verpflichtete, wie jeder andere Matrose Schiffsdienste zu tun, unter der Bedingung, dass auch er ab und zu die Harpune führen oder die Schiffskanonen richten oder lösen dürfe.«

»Sonderbar, höchst sonderbar! Hatte also seine Freude an der Walfischjagd.«

»Yes, er selbst hat im Laufe der Zeit gar manchem Wal den Garaus gemacht, was er sich in jedem einzelnen Fall von dem jeweiligen Kapitän urkundlich hat bestätigen lassen. Mein guter Vetter besitzt im Hudsongebiet des Staates New York ein Schloss, wo all diese Urkunden, zwar reichlich mit Tran befleckt, aber in splendiden Goldrahmen, in den Treppenhäusern und Gängen umherhängen. Aber nicht genug damit. Er widmete sich dem anstrengenden Dienst auf den Walfischbooten in allen seinen Einzelheiten und mit voller Hingebung. Er hat wie jeder andere Schiffsgenosse zugegriffen, den harpunierten Fisch heranzuholen, er hat munter Speckstreifen geschnitten und die mächtig lohende Feuerfackel des Schiffes geschürt, er hat, wie jeder andere, an der Verwertung der Beute mitgeholfen, hat mitgekocht und mitgesotten und inmitten der rußgeschwärzten, halb nackten Schiffsbesatzung den gewonnenen Tran, mitsingend und mitfohlend, zur Kühlpfanne geschleppt. Denn, ist die Beute eine ausgiebige, ist Tag für Tag die ausgelassenste Freude an Bord.«

»Wirklich eine höchst eigenartige Liebhaberei von diesem Mann.«

»Aber die Reaktion auf die Anstrengungen, auf die Arbeitsleistung und den Freudentaumel blieb nie aus. Hatte er einen oder zwei Sommer hindurch sozusagen im Tran umhergewatet, trat die Reiseermüdung und eine große körperliche Erschöpfung ein. Plötzlich konnte er völlig abfallen. Er vermochte in diesem Zustand dann kaum mehr den Zeitpunkt zu erwarten, dass sein Boot im Heimathafen einlief. War es endlich heimgekehrt, bat er von irgendeiner Walfischstation aus durch das nächstgelegene Telegrafenamt, ihn eilends heimzuholen, wo er dann mit mehr oder weniger zahlreichen Kapitänsurkunden, in der Regel aber zu Tode erschöpft, ankam. Ein bis zwei Jahre tat er dann wohl wieder gut, aber plötzlich brach das Reisefieber von Neuem bei ihm aus, um eines schönen Tages ohne jegliche Vorbereitung bei Nacht und Nebel wieder zu verschwinden.«

»Ein sehr merkwürdiger Fall, und, wie es scheint, geradezu krankhaft.«

»Ohne allen Zweifel einer krankhaften Veranlagung entsprungen. Aber, vernehmen Sie von seinem letzten Verschwinden und was mich nach Archangelsk führte! So war Thomas Wolsey vor drei Jahren eines Tages plötzlich wieder abgereist. Er hatte, wie gewöhnlich, das große Wasser überquert, sich den darauffolgenden Winter in Paris aufgehalten, dann im Frühjahr die Nachricht aus Archangelsk nach Hause gelangen lassen, dass er sich wieder auf die Speckjagd begeben werde. Nun, man war das ja gewöhnt, hatte ihn, obwohl er doch schon ziemlich bei Jahren war, gewähren lassen und im darauffolgenden Herbst auf das übliche Abberufungstelegramm gewartet. Aber es war nicht eingetroffen. Als auch im nächsten Jahr noch kein Lebenszeichen von ihm vorlag, wurden wir unruhig. Briefliche Bemühungen und die Nachforschungen durch die Konsulate blieben ohne Ergebnis, und so machte ich mich im Auftrag meiner Familie, die sich mittlerweile auch schon mit jener Erbschaftsangelegenheit zu befassen hatte, auf den Weg, meinen Vetter aufzusuchen.«

»Leider erfolglos, wie Sie mir schon mitgeteilt haben.«

»So ist es. In Archangelsk eingetroffen, erfuhr ich, dass der Walfischjäger Borobobonow, an dessen Bord sich Thomas Wolsey begeben hatte, so gut wie verschollen sei, wahrscheinlich, wie es hieß, durch irgendeinen Umstand zu hoch nach Norden und ins Eis geraten.«

»Wusste man auf der Walfischstation, die den Borobobonow entsendet hatte, nicht zu sagen, was dem Schiff zugestoßen sein mag?«

»Leider nein. Ich mietete mir ein Boot, besuchte die Station und scheute sogar nicht eine sehr anstrengende Fahrt nach Malyje Karmakuly, der russischen Rettungsstation auf Nowaja Semlja, begegnete aber auch dort, wie überall, nur leeren Worten und bedauerndem Achselzucken. Nach Archangelsk zurückgekehrt, setzte ich alle Hebel in Bewegung, die Inhaber der Fangstationen zu veranlassen, das verschollene Schiff zu suchen, fand aber, trotz reichlichem Geldangebot, nirgends ein williges Ohr. Man könne doch unmöglich einer Sache, die als verloren zu betrachten sei, nachjagen. Ich wandte mich an die Regierung in Petersburg, aber auch dies ohne jeglichen Erfolg. Schiffsunfälle dieser Art – so ließ man mich wissen – kämen alle paar Jahre einmal vor. Man habe für die verunglückten oder verschollenen Nordpolfahrer ohnedem schon Geld und Menschen genug hergegeben, man könne nicht auch jedem Walfischfänger, der außer Kurs gerät, nachlaufen.«

Geffrey Wolsey legte Messer und Gabel beiseite, entkorkte eine Sauerwasserflasche und nahm einen tiefen Schluck. Man sah es dem Amerikaner in diesem Augenblick an, er war in der Tat nicht wenig verstimmt.

Der Norweger schüttelte mehrere Male nachdenklich den struppigen Kopf, trommelte eine Weile mit Gabel und Messer auf einem Fleischbröckchen herum und sagte dann: »Gleichwohl glaube ich, mein Herr, dass Sie noch nicht alle Hoffnung aufzugeben brauchen. Unsere Walfischjäger hier oben sind nämlich erstaunliche See- und Eisbären, kernige, unverwüstliche Menschen, die ihr Leben leichten Kaufes nicht aufgeben. Ist der Borobobonow nicht sonst wie durch ein Unwetter oder irgendeinen anderen Umstand zugrunde gegangen, vielmehr wirklich ins Eis geraten, möchte ich das noch ein Glück im Unglück nennen, denn Leute dieses Schlages – glauben Sie mir – die kapitulieren nicht so leicht. Die Besatzung hat schlimmstenfalls ihr Schiff verlassen und sich einer Eisscholle anvertraut, bis irgendwie die Gelegenheit sich gibt, in dem inselreichen Gebiet irgendwo festen Fuß zu fassen und ein erträgliches Winterquartier sich einzurichten.«

»Um dort allmählich dem unvermeidlichen Geschick doch entgegen zu gehen.«

»Mitnichten. So klug und umsichtig werden die Leute schon gewesen sein, sich die Boote, den nötigsten Proviant, mehrere Flinten, Pulver und Blei zu sichern. Sollte ihr Besitz an Nahrungsmitteln vorzeitig zu Ende gehen, mangelt es nicht an Geflügel und vierbeinigem Wild, insbesondere an Polarbären, sich den nötigsten Unterhalt für einen oder mehrere Winter zu beschaffen. Solange die Sonne tief steht, bleiben sie wie die Murmeltiere in ihrem Winterbau, im Sommer aber geht es schrittweise der Heimat zu, bis sie auf offenes Wasser treffen. Irgendein Robbenfänger wird sich der Männer dann schon erbarmen und sie an Bord nehmen.«

»Sie glauben wirklich, dass ich noch hoffen darf?«

»Sicherlich dürfen Sie das. Solche Fälle der Rettung und Wiederkehr sind in der Geschichte der finnischen Walfischjägerei wiederholt schon dagewesen.«

»Sie machen mir wieder Mut. Ich danke Ihnen. Sie scheinen ein genauer Kenner der Verhältnisse zu sein?«

»Wie sollte ich das nicht sein, als Sohn des höchsten europäischen Nordens? Ich will Ihnen übrigens, da Sie mir Ihr Vertrauen geschenkt haben, offen gestehen, dass ich mich mit dem Studium der polaren Verhältnisse noch im Besonderen befasse, dass ich also meine Behauptungen nicht aus dem Leeren schöpfe, sondern die Möglichkeit einer Wiederkehr aus wohlbegründeten theoretischen Erwägungen und praktischen Erfahrungen herleite.«

»Sie sind Naturforscher? Beschäftigen sich vielleicht mit dem Studium der Arktis?«

»Meinem Hauptfach nach bin ich Maschinen- und Schiffbauer, außerdem, wie ich glaube, ein ziemlich geschulter Elektrotechniker. Ich besuchte seinerzeit die Technische Hochschule zu Berlin-Charlottenburg. Aber ich habe mich, wie ich zuvor schon sagte, daneben mit besonderer Vorliebe dem Studium der Polarwissenschaft ergeben, denn ein Gedanke, der hier ruht …«, Olaf Eriksen tippte sich dabei mit dem Zeigefinger auf die Stirn, »… lässt mich zu anderem, vielleicht um vieles Nützlicherem mit voller Ruhe nicht kommen.«

»Sie haben doch nicht etwa die Absicht, dem Nordpol einen Besuch abzustatten?«, fragte Geffrey Wolsey lächelnd.

»Warum nicht? Halten Sie eine Fahrt dahin für so außerordentlich schwierig?«

»Unmöglich nicht. Tatsache ist indessen, dass sehr viele, ja selbst die kühnsten und bestausgerüsteten Unternehmungen dieser Art gescheitert sind.«

»Und ich sage Ihnen, dass meine Arktis ihr Ziel ganz sicher erreichen wird«, platzte der Norweger auf diesen Entgegenhalt rau, fast grob heraus.

Geffrey Wolsey hatte noch das Lächeln auf den Lippen, legte aber angesichts der geradezu herausfordernden Haltung des Norwegers das hagere Angesicht in ernstere Falten.

Für eine Minute lang verlegenes Schweigen auf beiden Seiten.

Bald aber schien der Norweger zu empfinden, er sei zu weit gegangen.

»Verzeihen Sie. Ihre Einrede hat mich etwas aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich glaube, ich habe mich zu einer ebenso wenig höflichen, als sehr unbedachtsamen Äußerung hinreißen lassen«, sagte er etwas gedehnt, mit steigender Verlegenheit. »Aber so ergeht es leicht all jenen etwas impulsiven Naturen, die ein großes Ziel erreicht zu haben glauben und als Folge ein vielleicht allzu hoch geschraubtes Selbstbewusstsein in sich tragen. Erhalten sie von außen einen Stoß, werden sie leicht ungebärdig.«

»Sie haben keine Ursache, sich zu entschuldigen«, entgegnete artig Geffrey Wolsey. »Im Gegenteil, ich bedauere, dass ich Ihnen durch meinen Einwurf, wie es scheint, einiges Unbehagen verursachte. Wie konnte ich annehmen, dass Ihre Äußerung so sehr ernst gemeint war?«

»Ja, sie ist es leider, möchte ich fast sagen. Ich habe in der Tat die Absicht, das auszuführen, wovon wir eben sprachen, aber nicht wie Nansen, nicht wie Andree, nicht wie Peary, nein, mit völlig neuen Mitteln, wie sie bisher noch nie dagewesen sind.«

»Sie machen mich neugierig. Darf man erfahren, worauf Sie Ihre Pläne und Absichten gründen?«

»Mein Herr, wie kann Sie das interessieren? Gleichwohl, meine unbedachtsame Äußerung von zuvor, meine Ungezogenheit – oh, bitte – verpflichtet mich, eine Antwort nicht schuldig zu bleiben. Dass ich es kurz sage: Ich habe ein Schiff konstruiert, mit dem ich früher oder später, allen Schwierigkeiten zum Trotz, mein Ziel zu erreichen hoffe.«

»Was Sie mir da, wie ich annehme, im Vertrauen mitteilen, interessiert mich außerordentlich. Einmal, weil für mich und meine Familie, wie Sie bereits wissen, in den polaren Gewässern irgendwo ein sehr erhebliches Vermögen geborgen liegt. Ich befinde mich nämlich auf der Heimreise, meinen Angehörigen den Vorschlag zu machen, eine völlig selbstständig vorgehende Expedition auszurüsten, zu versuchen, den verschollenen Borobobonow doch noch aufzuspüren. Zum anderen bin ich selbst einigermaßen Techniker, das heißt, im Schiffbau nicht unerfahren. Das kommt daher, dass mein Vater, George Wolsey, langjähriger Direktor einer der größten nordamerikanischen Maschinenfabriken ist, die vor einigen Jahren erst eine Schiffswerft errichtet hat, sich mit dem Bau eines völlig neuen Typs von Unterseebooten zu befassen.«

Olaf Eriksen hatte mit steigendem Interesse zugehört und sperrte schließlich Mund und Augen auf. Auf seinem derben, offenen Angesicht spiegelten sich die wechselvollsten Empfindungen. Man sah es ihm an, hinter seiner Stirnwand begann es heftig zu arbeiten. Dennoch musste er förmlich einen Anlauf nehmen, um endlich einigermaßen zaghaft zu sagen: »Mein Herr, da wäre es gar nicht unmöglich, dass unsere Interessen sich begegneten. Sie sind zwar ebenfalls Schiffbauer, doch ich bin sicher, dass ich einen Gentleman, nicht aber einen unmittelbaren, rücksichtslosen Konkurrenten vor mir habe. Sie suchen einen Vetter, der möglicherweise irgendwo in der landnahen Treibeisregion sehnsüchtig auf Hilfe und Rettung warten mag. Ich gebe meinen Kopf zum Pfand, dass es mit meiner Arktis, wie ich mein Schiff zu taufen gedenke, eine Spielerei wäre, diese Region kreuz und quer zu durchsteuern, warum, weil ich mein Fahrzeug auf die allergrößten Widerstände und Schwierigkeiten, die das Polareis dem Seefahrer entgegenstellen kann, eingerichtet habe.«

»Sie machen mich nur aufs Neue sehr neugierig und reizen mein Verlangen, die Arktis und ihre Leistungsfähigkeit kennen zu lernen. Wo liegt Ihr Schiff?«

Nun lachte der Norweger, so laut und dröhnend, dass der Amerikaner sein Befremden nicht zu unterdrücken vermochte.

»Das Schiff – ja, das Schiff«, versetzte Olaf Eriksen, nachdem er sich einigermaßen beruhigt hatte »das ist es eben, was mir dieses homerische Gelächter – verzeihen Sie – aus der Seele presste. Ja, aus der Seele! Ich vergaß, Ihnen zu sagen, dass ich meine Arktis bisher nur im Modell geschaffen habe.«

Recht enttäuscht, wenn nicht unangenehm berührt, sah Geffrey Wolsey vor sich nieder.

»Ja, das ist der Fluch des armen Teufels«, fuhr Olaf Eriksen ruhiger, aber in etwas bitterem, galligen Ton und mehr im Selbstgespräch fort, »dass ihm die Arme und Beine oftmals über die Gebühr gebunden sind. Wahrlich, ich kann dreist mit dem Dichter fragen: Was wird dem Menschen für all seine Mühe und das Streben seines Geistes unter der Sonne? Seine Tage werden schmerzvoll und der Kummer sein Geschäft. Ich war mir nämlich, um wieder auf das Schiff zu kommen, von Anbeginn darüber klar, dass um den Pol herum gewaltige Naturkräfte tätig sind, und bin demgemäß bei meinen Konstruktionen und Berechnungen von einer nicht minder großartigen Grundlage ausgegangen. Aber, es gibt Menschen gerade genug und gewöhnlich an maßgebender Stelle, die sich nicht zufrieden geben, dass andere für sie ihr Gehirn zermartern, nein, die das Grandiose, das in der Natur und in den Mitteln liegt, womit ich sie zu bekämpfen suche, überhaupt gar nicht einzusehen vermögen. Als es mir mit dem letzten Rest meines kleinen Vermögens gelungen war, wenigstens ein Modell fertigzustellen, und ich die Überzeugung in mir trug, dass ein Schiff, nach meinen grundlegenden Prinzipien geschaffen und ausgestattet, den Erfordernissen gewachsen sein müsse, da habe ich diese und jene Regierung, diese und jene akademische Körperschaft für mein Vorhaben zu interessieren gesucht, überall aber nur ein ungläubiges Lächeln geerntet. Ich bin jetzt am Ende. Ich habe es satt, an den Türen herumzuklopfen und wie ein Bettelmann Einlass zu begehren. Man muss es aufs Tiefste beklagen, dass für solche Unternehmungen in den Staatskassen niemals oder nur unter den glücklichsten Umständen Geld vorhanden ist.«

Geffrey Wolsey hatte aufmerksam zugehört. Er war durch das ungeschminkte und sehr beweglich zum Ausdruck gebrachte Bekenntnis des Norwegers offenbar wieder beruhigt, ja sogar, wie es schien, recht warm geworden.

»Private haben Sie für Ihre Sache noch nie zu interessieren versucht?«, fragte er.

Olaf Eriksen starrte den Amerikaner geraume Weile an, zog die Schultern hoch und stellte die Gegenfrage. »Wer sollte mir mehrere Millionen Kronen für ein keineswegs völlig verbürgtes Unternehmen anvertrauen? Wer für eine Polreise, die, wie ich glaube, in ihrem letzten Zweck doch nur eine rein geographische Frage ist, eine solche Summe opfern?«

Geffrey Wolsey lächelte. »Versuchen Sie es mit mir«, sagte er über eine kleine Weile. »Lassen Sie mich Ihr Modell und die näheren technischen Umstände, unter denen Sie Ihre Arktis in Betrieb zu setzen gedenken, kennen lernen. Jetzt kann und will ich Ihnen allerdings noch nichts versprechen. Sie werden und können das auch nicht von mir erwarten. Aber ich bitte Sie, Vertrauen zu mir zu fassen. Sollte Ihr Modell, und alles, was darum und daran hängt, überzeugend die Möglichkeit dessen, was Sie in Aussicht stellen, dartun, dann könnte es schon sein, dass wir es einpacken, und dass ich Sie bitte, für einige Zeit nach New York überzusiedeln, dann sollen Ihre Wünsche in Erfüllung gehen und die Arktis auf der Schiffswerft meines Vaters gebaut werden. Und die nötigen Mittel für die Reise später? Hält das Schiff, was Sie sich von ihm versprechen, ich denke, dann sollen Sie sich auch darüber keine Kopfschmerzen machen.«