Tony Tanner – Agent der Weißen Väter
Tony Tanners Tagebuch
Ich habe vergessen, Francine anzurufen. Na ja, vielleicht ist es aus taktischen Gründen nicht ungeschickt, wenn ich die Dame meines Herzens noch einige Tage zappeln lasse. Ich frage mich, woher Dorkas seine Informationen über den Mord in Wales bezog. In dem Taxi, das mich zum Flughafen brachte, liefen die Radionachrichten, und darin wurde die Bluttat mit keinem Wort erwähnt. Auch in den Zeitungen, die ich mir während des Fluges durchlas, stand davon keine Zeile. Also hat er seine eigenen Quellen oder er ist ein totaler Spinner. So ganz habe ich mich noch nicht entschieden. Die Geschichte mit der dritten Genesis-Variante gibt mir zu denken. Wenn Dorkas kein Spinner ist, dann bedeutet das, dass sie, wer immer sie auch sein mögen, entweder eine Menge Leute zu ihrer Verfügung haben, oder aber in der Lage sind, Gruppen von Menschen zu steuern, ohne dass es den einzelnen Personen überhaupt bewusst wird. Ich denke mir, dass mir die Variante Dorkas hat einen Haschmich besser gefallen würde als alles andere.
Aber irgendwie glaube ich nicht mehr daran, dass in dieser verdammten Geschichte überhaupt jemand Rücksicht auf die Wünsche von Tony Tanner nimmt. Es ist schon bemerkenswert – da bezahlen irgendwelche übersättigten Typen Zehntausende von Dollars und fliegen um die halbe Welt, nur für das Vergnügen, in 8.500 Meter Höhe an Sauerstoffmangel, Erschöpfung oder Unterkühlung zu krepieren. Und ich, praktizierender und bekennender Spießbürger, der ich bin, habe die Ehre, dass der Berg zu mir kommt. In den nächsten Tagen werde ich versuchen, hochzukommen, nicht hopszugehen und wieder runter zu kommen. Dann wird sich hoffentlich alles Weitere ergeben. Aber die Sache lässt sich wirklich perfekt an. Dorkas hat den falschen Koffer erwischt. Demnächst werde ich immer mit Teppich im Handgepäck fliegen, damit ich was habe, in das ich reinbeißen kann.
Unter Weltenbummlern ist die Frage nach den chaotischsten Städten dieser Welt ein beliebtes Gesprächsthema. Es gibt natürlich verschiedene Ansichten darüber, welche Namen als die schlimmsten Zehn aufzuführen sind. Aber eines ist gewiss: Bombay, Sao Paulo, Kalkutta, Bangkok – und Kairo – haben einen sicheren Platz auf jeder dieser Listen.
Kurz vor der Landung in Kairo erklang die Stimme einer Stewardess durch den Bordlautsprecher. Es war eine niedliche Brünette, die außerdem ein noch niedlicheres Lispeln kultivierte, aber ihre Durchsage machte Tony Tanner aus ganz anderen Gründen nervös. Es gab wegen technischer Probleme bei der Anflugkontrolle eine kleine Verzögerung der Landung.
»Bleib ruhig, altes Haus«, sagte sich Tony. »Schlimm genug, dass du jede rote Ampel als persönlichen Anschlag wertest, jetzt rede dir nicht ein, dass man deinetwegen den Nil über die Landebahn umgeleitet hat.«
Das Flugzeug drehte seine Warteschleifen über der Stadt. Da lag sie unter ihm in der Dunkelheit – Kairo, die Siegreiche. Ein Gespinst aus flimmernden Lichtern, so wie jede nächtliche Großstadt aussieht, wenn man sie durch die Augen ermüdeter und gelangweilter Geschäftsreisender, die sich nur nach danach sehnen, ihr Handy endlich wieder in Betrieb nehmen zu können, betrachtet. Für Tony Tanner war der Anblick immer wieder beeindruckend. Ein unverwechselbares funkelndes Oval, eingeklemmt zwischen die Dunkelheit des Mokattamgebirges und die schwarze Weite der hinter Giseh beginnenden Wüste wie von den Armen einer schwarzen Zange; gespalten von der geheimnisvollen, dunklen Narbe des Flusses, der an einigen Stellen die glitzernden Spangen der Brücken trug. Über die Corniche ergoss sich der Strom des Verkehrs, als flöße eine Schmelze aus Licht durch eine Hochofenrinne.
Von hier oben, gestand sich Tony mit heimlichem Grinsen, war kaum zu bemerken, dass nur jeder dritte oder vierte ägyptische Autofahrer sich den Luxus einer Beleuchtung an seinem Gefährt gönnte. Das war im Grunde auch nicht nötig, wie Tony aus eigener Erfahrung wusste, denn auf dieser Seite des Mittelmeeres verlässt man sich auf akustische Signale. Jeder Kairoer, der hinter einem Lenkrad Platz nimmt, beginnt zu hupen, bevor er den Motor anlässt. Und dann lässt er die Finger nicht von dem Signalhorn, sondern gibt jedem potenziellen Gegner, das heißt Fußgängern, Eselskarren, überladenen Lastwagen, Bussen, Militärtransporten, Dreirädern mit stinkend blau wehender Zweitakt-Abgasfahne, chromglänzenden Limousinen, Kamelen, Lastträgern, altersschwachen Taxis, Mopeds mit Vier-Mann-Besatzung und streunenden Kötern, durch Hupgedröhne im Zehnsekundentakt seine Existenz kund. Die Hupfrequenz steigert sich je nach Temperament und Verkehrslage oder sinkt zu einem reinen Lebenslust-Hupen, das spätestens (alles andere ließe auf eine schwere Depression schließen) alle halbe Minute erklingt. Ein ägyptischer Autofahrer, der nicht hupt, hat einen Defekt an seiner wichtigsten Sicherheitseinrichtung. Oder er ist tot.
Nach der Landung rollte das Flugzeug auf einen Abstellplatz, die Passagiere stiegen über eine fahrbare Treppe aus der Maschine und standen ziemlich hilflos in der Dunkelheit herum.
Die Turbinen wurden abgestellt und liefen singend aus. Das Gepäck wurde aus der Maschine geladen und mit einem Zug klappernder Wägelchen abtransportiert.
Eine seltsame Stille senkte sich über den Platz. Die Menschen standen zusammen, schienen sich instinktiv wie eine Tierherde bei Gefahr zusammenzuscharen. Murmelnde Gespräche erklangen, jemand lachte, ein anderer wurde laut und protestierte gegen die Behandlung, aber keiner wagte es, auf eigene Faust den Weg über das dunkle Flughafengelände anzutreten. Tony hielt sich etwas abseits.
Hatte dieser Vorfall etwas mit ihm zu tun? Und wenn ja, was würde dann folgen? Er verdrängte diese Gedanken und sog die Luft tief ein. Sie roch nach dem Kerosin des Flugzeugs, dessen Turbinen mit lautem Knacken abkühlten, und nach einer Gruppe teils stark parfümierter, teils stark schwitzender Europäer. Aber darunter war ein anderer Duft spürbar.
Unverbraucht, herb und doch lockend ritt er auf den Windstößen, die von den Felsen des Mokattam herunterwehten. Und mit sich brachte er das Herzklopfen, die herrliche Erregung, die den Wanderer überkommt, wenn er die Schwelle überschreitet, den Seefahrer, wenn die letzte Verbindungstrosse zum Kai ins Wasser klatscht oder den Karawanenführer, wenn sich die Kamele unter ihrer Last grunzend erheben und den Weg aufnehmen. Das war es auch, was Tony Tanner am Reisen liebte. Die Fremde umgab ihn, drang wie Wasser in ein abgetragenes Hemd hinein und schuf in Momenten wie diesen die Illusion, er könnte er selbst bleiben und dabei doch ein ganz anderer sein, ein anderes, nie auch nur geahntes Leben führen, das ihm jetzt so unbekannt und abenteuerlich wie ein Roman erscheinen würde.
»Da kommt endlich der verdammte Bus.« Die Rufe schreckten Tony Tanner aus seinen Überlegungen. Er hasste jede Form von Gedränge und bezahlte diese Abneigung mit einem Platz in der offenen Bustür. Während der Bus langsam auf das Flughafengebäude zurollte, schaukelte und ächzte die zusammengepresste Masse Mensch bei jeder Delle im Asphalt, und Tony spürte die Ellbogen in seinem Rücken. Das Gepäck war in einer langen Reihe aufgestellt, bewacht von einigen Polizisten. Vor allem die beiden schnüffelnden Hunde machten Tony misstrauisch. Die Sache sah nach einer Bombenwarnung aus. Für einen Augenblick keimte bei ihm der Verdacht auf, Dorkas könnte eine solche Höllenmaschine in seinen Koffer praktiziert haben. Dann schüttelte er ärgerlich den Kopf wie ein Hund, der Wasser ins Ohr bekommen hat und schritt zu seinem Koffer. Sofort war ein Polizist bei ihm.
»Ihr Koffer?«
»Absolut.« Tony zeigte seinen Flugschein und hielt den Daumen unter die Gepäcknummer.
»Bitte öffnen.«
Der Polizist betrachtete ergriffen den Inhalt, fuhr mit der Hand unter den eleganten Kamelhaarmantel und suchte zwischen Kaschmirpullovern, einem dezent gemusterten Jackett aus schwerem Wollstoff und einem samtgefütterten Abendanzug. Dann nickte er und wandte sich dem nächsten Reisenden zu. Tony klemmte sich unterdessen bei seinen Bemühungen, den Koffer wieder zu verschließen, fast die Fingerspitzen ab. Er hätte den Versuch machen können, mit seinem Diplomatenpass zu wedeln, aber das hätte nur Aufsehen erregt. Was aber weit schlimmer war: Dorkas hatte ihm den falschen Koffer gebracht. Hier war nun Tony Tanner in der größten Stadt Afrikas, und seine Klamotten stammte aus dem Koffer Grandhotel Winter. In grimmiger Stimmung eilte er nach der Passkontrolle zu einer Wechselstube, steckte ein dickes Bündel Banknoten ein, die so abgegriffen waren, dass er sich ohne besondere Mühe die Bakterienkolonien vorstellen konnte, die auf dem Papier ein zahlreiches und ungestörtes Leben führten, und suchte alsdann nach einem Geschäft, in dem er sich passende Kleidung kaufen konnte. Der Versuch endete nach einer halben Stunde, und er war nicht von Erfolg gekrönt. Aber Tony hatte den Flughafen besser kennengelernt.
Schließlich gab er auf, bestieg ein Taxi und ließ sich in die Stadt fahren. Er nahm ein Zimmer in der Sharia el Gouhmhouriya, der Straße der Republik, knappe zehn Minuten Fußweg vom Hauptbahnhof entfernt. Das Hotel war ein Haus der mittleren Kategorie. Den typischen Touristen suchte man hier vergebens (aber wer suchte schon ernsthaft danach?), stattdessen begegnete man abenteuerlustigen Einzelreisenden, jugendlichen oder auch schon weniger jugendlichen Weltenbummlern, europäischen Monteuren, die ihren Firmen nicht wichtig genug für ein besseres Hotel waren und ein oder zwei Einheimischen. Tony suchte sicherlich nicht das so typisch ägyptische Flair, von dem College-Lehrer nach drei Tagen Aufenthalt im Hotel Viktoria noch jahrelang im Partykreise politisch progressiv denkender intellektueller Schnösel schwärmen konnten. Er ging lediglich davon aus, dass man ihn in diesem Hotel zuallerletzt suchen würde. Der Nachtportier konnte ihm nur noch ein Doppelzimmer geben. So lag Tony Tanner in diesem großen hohen Raum mit altmodisch gemusterter Tapete und Stuckverzierungen an der hohen Decke. Die Klimaanlage ratterte vor sich hin. Er stellte sie ab und öffnete das Fenster. Unter ihm lag ein kleiner ummauerter Garten. Das Freiluft-Kino El Nasr, das unmittelbar neben dem Hotel lag, gab eine Spätvorstellung. Verzerrt und scheppernd dröhnten die kehligen Worte aus den Lautsprechern. Selbst in den kurzen Momenten, in denen es keine Dialoge, keine Explosionen und keine Musik gab, rauschte und knackte es aus der Tonanlage.
Tony lag hilflos auf dem Rücken, schwitzte seinen Frotteeschlafanzug nass und fragte sich, warum er bei der Bestückung seines Koffers davon ausgegangen war, dass winterliche Grandhotels zwangsläufig weder funktionierende Heizungsanlagen noch verschließbare Fenster haben. Er lauschte auf das Dröhnen aus dem Kino und durchschaute bald die rhythmische Abfolge von Dialog, Schießerei und schmusiger Musik. Darüber schlief er ein und wurde in der Frühe durch Straßenlärm geweckt.
Es bedurfte einer ausführlichen Dusche und zweier Kannen Kaffee, bis sein Kopf, in dem das Echo des nächtlichen Lautsprecherschepperns unentwegt zwischen den Schädelwänden schwappte, einigermaßen klar wurde.
Etwas Bewegung konnte ihm nur gut tun, und so machte sich Tony zu Fuß auf den Weg zur britischen Botschaft. Er erregte etwas mehr Aufmerksamkeit, als ihm eigentlich lieb war. Dennoch schritt er in seinem schottisch gemusterten Anzug, der besser in das winterliche Edinburgh gepasst hätte, wacker aus und dankte dem Schicksal, dass er die Bemerkungen der Ägypter, deren an sich sonniges Gemüt sich bei seinem Anblick zu temperamentvoller Frohgelauntheit aufschwang, nicht verstehen konnte. Tony machte sich über die offiziellen Öffnungszeiten der Botschaft wenig Illusionen und hatte sich ein ausführliches Frühstück gegönnt. Aber noch hatte die Sonne die Stadt nicht bis zum Glutofen aufgeheizt, und vom Nil her wehte manchmal ein erfrischender Wind.
Die Luft war geschwängert mit dem Geruch der schlecht verbrannten, schwefelhaltigen Dieselabgase schwerer Lastwagen, die ihre Rußfahnen über die Straßen verteilten wie Sprengwagen ihre Wasserfontänen. Dreiräder knatterten vorbei, von überall erklangen die Hupen, der Gehsteig erzitterte jedes Mal, wenn ein Lastwagen oder ein überladener Bus vorüberratterte.
Die Luft schmeckte nach dem aufgewirbelten Staub. Kairo wirkte wie eine Droge, wie ein starkes Aufputschmittel, dessen Wirkung nach einiger Zeit zu Stumpfheit und Betäubung führte.
Vor dem Tor zum Botschaftsgelände zögerte er einen Augenblick. Konnte er sicher sein, dass sein Konterfei mit dem Zusatz polizeilich gesucht wegen Vergewaltigung nicht schon in der Pförtnerloge lag? Es blieb keine Wahl. Tony atmete tief durch, was angesichts der Abgasschwaden einigen Mut erforderte, und trat zu der Sprechanlage.
Der junge Botschaftsangestellte, der ihn schließlich in seinem Büro empfing, tendierte bei Tonys Anblick zu unziemlicher Fröhlichkeit. Er riss sich aber sofort zusammen, als er dessen Ausweis unter die Nase gehalten bekam.
»Sie haben Glück, Sir,« sagte er schließlich mit angestrengter Verbindlichkeit. »Wir kennen den Aufenthaltsort dieses von Puttkammer ziemlich genau. Oder sagen wir, so genau, wie dieser Mensch es uns erlaubt, denn er macht immer ein ziemliches Geheimnis um seine Ausgrabungen. Er selbst ist hier nie aufgetaucht, aber sein Assistent, angenehmer Mensch übrigens, war in den letzten Wochen einige Male hier. Erlauben Sie mir die Bemerkung, dass ich die Idee Lord Dunnerstons, diesem von Puttkammer dort in der Wüste die Ehrenmedaille der südenglischen Gesellschaft der ägyptophilen Vergangenheitserforscher … mmhh, ziemlich zweifelhafter Verein, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, also kurz gesagt, es ist eine Schnapsidee.«
Tony ließ das Wort ausklingen und schwieg dann eisern weiter, bis sein Gegenüber begann, nervös auf dem Stuhl zu rutschen. Nachdem er diesen schönen Erfolg erzielt hatte, zog Tony blasiert die Brauen hoch.
»Die Bezeichnung Schnapsidee (Tony sprach das Wort mit jenem unüberhörbaren Unterton von Abscheu und Ekel aus, mit dem in echt schottischen Kneipen der Begriff Britannien versehen wird) gehört nicht zu den Bezeichnungen, mit denen mein Büro zu arbeiten pflegt. Halten wir uns also an die Fakten. Lord Dunnerston hat beste Beziehungen zur königlichen Familie, darum bin ich hier, und ein solcher Mann hat Ideen, deren Bewertung mir nicht zusteht. Ich brauche hoffentlich nicht zu betonen, dass mein Besuch ebenso wie der Anlass desselben sozusagen nie stattgefunden hat.«
»Das wäre auch mein Wunsch.«
»Wie belieben?«
»Ich meine, ja mmh, was meine ich, ich meine natürlich, dass ich ebenfalls für Geheimnisse bin, ich meine für Geheimhaltung, dass es Sie gibt, ich meine, dass Sie hier waren …« Der junge Mann bekam unter Tonys ruhigem Blick hektische Flecken auf der Stirn. Er sprang auf, ging zu einer großen Wandkarte von Ägypten, stellte sich auf die Zehenspitzen, tippte auf den roten Fleck, der Kairo darstellte, und fuhr dann mit dem Finger nach unten, den Nil entlang bis zum Nasser-See und dem dicken waagerechten Streifen, der die Grenze zum Sudan bezeichnete. Dann fuhr den Finger nach links und blieb auf halber Strecke zur libyschen Grenze stehen.
»Hier ist es, Bir Tarfawi. Das heißt in der Nähe. Ungefähr zwanzig Kilometer in irgendeine Richtung. Aber in der Oase werden Sie die genaue Position herausfinden, denn die Arbeiter kommen daher. Sie könnten bis El Kharga fliegen und von dort die Piste bis Bir Tarfawi benutzen. Alternativ können Sie bis Abu Simbel fliegen und dann quer durch die Wüste fahren – was ich Ihnen allerdings nicht raten würde. Übrigens sollten Sie vorsichtig sein. Je weiter Sie nach Süden dringen, desto eher werden Sie zum Ziel fundamentalistischer Anschläge.« Bei diesen Worten warf er einen unverschämten Blick auf Tonys Zwirn und biss sich auf die Unterlippe. Sein Kinn begann, leicht zu vibrieren.
Tony Tanner hatte gelernt, Haltung zu bewahren und verabschiedete sich mit Dank. »Ich finde alleine hinaus«, sagte er.
Kaum hatte er die Tür des Büros geschlossen, als dahinter wieherndes Gelächter aufbrandete.
Dann hörte er noch die Telefongabel klappern. Auf dem Weg zum Ausgang begegnete Tony einer erstaunlichen Anzahl von Sekretärinnen und sonstigen Angestellten. Das gesamte Botschaftspersonal schien sich auf dem Gang herumzutreiben, und selbst die Pförtnerloge war gedrängelt voll wie eine Studentenbude bei der Semesterabschlussfete und alle entgegneten mit gebissbleckender Freundlichkeit und wohlgemuter Offenherzigkeit Tonys Gruß, als der aus dem Tor stiefelte. Abu Simbel, warum nicht Abu Simbel?
Vom Hotel aus reservierte Tony telefonisch den nächsten Flug nach Abu Simbel. Der nächste Flug nach El Kharga fand erst in zwei Tagen statt, während Egypt Air mehrmals am Tag Touristen zu der berühmten Tempelanlage am Nasser-See brachte. Es blieb gerade noch Zeit, das Zimmer für zwei Wochen im Voraus zu bezahlen und ein Taxi zu bestellen.
Einige Stunden später saß Tony Tanner in der zweistrahligen Boeing der Egypt Air und schaute auf den grünen Streifen, der den Lauf des Nil durch die gelbliche Wüstenlandschaft markierte.
Er war sich nicht sicher, ob seine Entscheidung richtig gewesen war, und ob er nicht unüberlegt und vorschnell gehandelt hatte. Die Wahrscheinlichkeit, einen einzelnen Europäer in dem 13-Millionen-Chaos der ägyptischen Hauptstadt aufzuspüren, war nicht sehr groß, zumal sich dieser Europäer jetzt vorsichtiger bewegte als noch vor Kurzem in Bombay. Und dennoch drängte es ihn, eine innere Unruhe zog ihn weiter, so als wäre selbst eine Bewegung in der falschen Richtung besser als jedes kluge Zögern.
Der Pilot zog in niedriger Höhe eine Schleife, sodass seine Passagiere die Statuen und Säulen des Tempels von Abu Simbel genau betrachten konnten, dann erst folgte die Landung.
Der Flughafen bestand aus einer Start- und Landebahn, einem betonierten Vorfeld und dem Abfertigungsgebäude. Das gesamte Gelände schien wie ausgestorben. Aber dann entdeckte Tony, als die Boeing langsam und sanft schaukelnd über das Vorfeld rollte, eine zweimotorige Propellermaschine. Sie bot eigentlich nichts, was die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte. Dann bemerkte er die Personen, die vor geöffneten Türen standen. Es war mehr eine instinktive Reaktion, die ihn genauer hinschauen ließ, als eine bewusste Handlung. Und dann erkannte er die langhaarige Frau und den weißhaarigen Mann, die sich gerade anschickten, in die Maschine zu steigen. Das heißt, er glaubte, sie zu erkennen. Er war sich so sicher, dass sein Herz zu pochen anfing, denn die Frau war jene Stewardess, die er in Bombay kennengelernt hatte und auch ihr Begleiter war ihm auf Matankas Party begegnet. Während sein Herz angeregt pochte, presste Tony sich die Nase am Fenster platt, aber die Boeing machte nun eine Wendung, und die Propellermaschine verschwand aus seinem Gesichtsfeld.
Tony ließ sich zurück in den Sitz fallen. Es musste ein Zufall sein. Nein, kein Zufall, eine Verwechslung, eine Täuschung. So genau hatte er die Personen nicht gesehen. Die Entfernung war zu groß, um die Gesichter zu identifizieren. Es konnte nicht sein. Aber nachdem er sich diese Meinung mit allen Vernunftgründen zurechtgelegt, formuliert und bestätigt hatte, blieb ein nagender Zweifel bestehen. Was, wenn doch? Ja, was? Jedenfalls kaum Gutes!
Tony drängte sich zusammen mit der Herde von Shorts tragenden, mit knallbunten Baseballkappen bedeckten und die Welt durch Videokameras betrachtenden Touristen aus dem Abfertigungsgebäude. Im Normalfall hätte eine solche Herde touristischer Weltentdecker bei ihm eine sofortige Fluchtreaktion ausgelöst. Jetzt nutzte er sie als Deckung und nahm dafür gerne die Rippenstöße im Gedrängel in Kauf.
Alles strebte auf einige Omnibusse zu, die den Direktverkehr zu den Sehenswürdigkeiten besorgten. Reiseleiter wedelten mit Fahnen, Sonnenschirmen oder versuchten auf andere Weise die Aufmerksamkeit ihrer Schützlinge auf sich zu lenken. Tony wollte mit einem der Busse bis zur Ortschaft fahren. Und dort musste er sich ein Fahrzeug besorgen. Und dann musste er versuchen, sich nach Bir Tarfawi durchzuschlagen, was, wie er sich selbst eingestand, noch etwas hirnrissiger war als der Versuch, in Badeschlappen den Südpol zu erreichen.
Die ersten Busse waren besetzt und fuhren ab. Er sah, wie Reiseleiter die Tickets der Einsteigenden kontrollierten und einige Personen abwiesen und auf die anderen Busse deuteten.
Tony beschloss, besonders vorsichtig zu sein. Der letzte Bus, der in der Reihe stand, schien so eine Art öffentlicher Nahverkehr zu sein. Hier war Tony Tanner richtig. Er nahm seinen Koffer auf und schlenderte in ostentativer Lässigkeit auf den Bus zu.
»Wo du wolle? Ich dich fahre!«
Tony zuckte zusammen und schaute auf den Mann, der in von der Seite angesprochen hatte. Was er sah, gefiel ihm keineswegs. Der Mann war viel zu klein für sein Gewicht. Der Schmerbauch, der zwischen dem Bund einer schmuddeligen Jeans und dem Saum eines ebenfalls schmuddeligen Hemdes hervorblitzte, hatte eindeutige Vorteile für Tony. Denn obwohl ihm der Mann eng auf die Pelle rücken wollte, bildete der Bauch eine ansehnliche Barriere, und so konnte Tony den Knoblauch geschwängerten Atem, der schon Narkosequalität hatte, gerade noch überleben. Das Hemd des Mannes besaß noch zwei Knöpfe, die sich heroisch gegen die gewaltigen physikalischen Belastungen stemmten, denen sie bei jedem Atemzug ausgesetzt waren. Aus dem offenen Kragen quollen dichte schwarze lockige Brusthaare, das Tony zu der Überzeugung führten, dass dieser Mann einen Pelz wie ein Gorilla haben musste. Damit war die Kapazität an Haarwuchs allerdings auch erfüllt, denn der runde Kopf des Ägypters, der auf einem kurzen Hals und einem Mehrfachkinn ruhte, war glatt wie eine Billardkugel, wenn man von einigen Löckchen absah, die in der Nähe der abstehenden Ohren schweißnass am Schädel pappten. Eine dicke Goldkette, die trotz ihres sicherlich hohen spezifischen Gewichtes dennoch nicht in der Lage war, die Brusthaare herunterzudrücken, ein goldenes Armband und einige glitzernde Ringe an den Wurstfingern komplettierten die Erscheinung.
Dich würde ich nicht mal auf dem Kinderkarussell an ein Lenkrad lassen und am wenigsten, wenn ich mit im Wagen sitze, dachte Tony. Laut sagte: »Verbindlichsten Dank für Ihr freundliches Angebot. Aber ich werde den Bus nehmen.«
»Nix Bus nehme. Bus nix gut. Zu viele Leut. Wo du wolle? Ich mache gute Preis.« Der Mann grapschte nach Tony Koffer, und einen Augenblick lang zerrten beide, bis der Mann nachgab und Tony seinen wiedereroberten Koffer mit wütendem Schnaufen in die andere Hand nahm. Er ließ den Ägypter stehen und ging weiter auf den Bus zu. Viel Zeit blieb nicht mehr, dann es standen nur noch zwei Busse vor dem Gebäude. Seine Nase machte Tony klar, dass er den Mann immer noch nicht losgeworden war.
»Ich Nagib. Ich gut Fahrer. Wagen da, du steige ein, ich mache gute Preis. Wo du wolle?«
Aus reiner Neugier folgten Tonys Blicke der ausgestreckten Hand des Mannes. Was er sah, war ein alter Peugeot-Kombi unbestimmter Farbe, der aussah, als hätte er sämtlichen Pariser Fahrschulen als Übungsobjekt fürs Einparken gedient. Zumindest das Leistungsgewicht war verbessert worden, denn der Ausbau der Seitenscheiben, der Scheinwerfer, der Stoßfänger und eines Kotflügels sparte mit Sicherheit etliche Kilo. Damit über die Funktion des Automobils keine Zweifel aufkommen konnten, war in großen gelben Buchstaben das Wort Taxi auf die Türen gepinselt. Dieser Wagen passte zu seinem Besitzer, hatte aber nun rein gar nichts an sich, das Tony zum Einsteigen hätte bewegen können.
»Nein danke«, war der letzte Rest an Höflichkeit, den Tony aufbringen konnte, bevor er beschleunigt weiterging. Der vorletzte Bus startete und fuhr an.
Der Mann änderte die Taktik und bearbeitete Tony mit der sozialen Tour. »Ich Nagib, ich zehn Kinder und Frau und krank’ Schwiegermutter. Ich musse Taxi fahre, sonst nicht satt werde meine Familie und meine Frau schimpfe mir, weil Kinder schreie. Arme Kinder viele hungrig, immer schreie. Ich hier Bild von mein Familie.« Der Mann stakste neben Tony her und wühlte in seiner Hosentasche, was ihn zu einigen steifbeinigen Hüpfern zwang. Dann hielt er Tony das Foto unter die Nase. Der fühlte sich aus angeborener Höflichkeit bemüßigt, anzuhalten und auf das Foto zu schauen. Es zeigte eine Schar außerordentlich hässlicher Blagen, die sich vor einem Lehmhaus um zwei ältere Frauen geschart hatten.
Alle lachten fröhlich in die Kamera und hätten jeden Zahnspangenhersteller reich gemacht. Die Frau hatte ein Gesicht, das ihre Unberührtheit auch dann garantiert hätte, wenn sie das letzte weibliche Wesen auf diesem Planeten gewesen wäre.
Mit einer gewissen Rührung schaute Tony auf. Mit einer solchen Frau Kinder zu zeugen bewies eine Mischung aus ästhetischer Idiotie und gefährlichster Geschlechtsgier, die sich seinem Verständnis weit entzog. Der Mann nutzte diesen Moment, in dem Tony sich mit einer Mischung aus Bewunderung und Abneigung schüttelte, bemächtigte sich des Koffers und sauste mit erstaunlicher Behändigkeit zu seinem Wagen. Dort warf er den Koffer durch das Seitenfenster auf die Rückbank und winkte Tony einladend zu. Der brauchte allerdings keine gesonderte Einladung mehr, sondern zischte wie ein Krokodil, das Beute anpeilt, zu dem Taxi.
»Gut Wage«, versicherte Nagib und klopfte stolz auf das Blechdach.
Tony achtete nicht darauf, denn er hing halb im Wagen und angelte nach dem Koffer. Der Bus ließ den Motor an.
Tony zerrte den Koffer hervor und wollte loslaufen, aber es war zu spät. Der Bus fuhr los. Ohne Tony Tanner, und der Busfahrer reagierte mit Unverständnis auf dessen wildes Gestikulieren, das jeden Ozeandampfer auf einen einsamen Inselbewohner über zwei Kilometer Distanz hinweg aufmerksam gemacht hätte.
»Bus nix gut, Bus jetzt weg. Jetzt du fahre Taxi. Wo du wolle?«
»Verbindlichsten Dank, ich ziehe es vor, zu Fuß zu gehen«, quetschte Tony zwischen den Zähnen hervor. Er lief los, auch wenn ihm inzwischen bewusst war, dass seine Lackschuhe die am wenigsten geeignete Fußkleidung für diesen Zweck darstellten. Der Bus verschwand hinter einer Ecke des Abfertigungsgebäudes. Als Tony die Stelle erreicht hatte, war der Bus nur noch spielzeuggroß, obwohl sein Motor weithin dröhnte und der fettige Abgasgeruch noch über der Straße stand. Dann bemerkte Tony ein helles Licht, das sich seitlich dem Bus näherte.
Er hatte keine Zeit mehr, über die Art dieser Erscheinung nachzudenken, denn im nächsten Moment verschwand das Licht in dem Bus und es gab ein helleres, größeres Licht, das selbst im Sonnenglast der ägyptischen Wüste blendete. Ein ungeheurer Knall folgte dem Lichtblitz. Der Bus verging in einer weißglühenden Explosion. Wrackteile schleuderten in die Luft, schrammten über die Straße und schlugen aufstaubend in den Sand ein. Die Luftwelle der Detonation traf Tony ins Gesicht. Flammen schlugen aus dem Wrack, schwarze Rauchwolken quollen träge auf und warfen ihre Schatten über das zerstörte Gerippe des Busses. Tony blieb wie erstarrt stehen, hin- und hergerissen zwischen einer instinktiven Fluchtreaktion und dem Wunsch zu helfen. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Es war Nagib.
»Kanne nicht helfe, ist Panzerfaust von Fundamentalisten, ich vermute.« Die seltsame Stille, die nach der Explosion herrschte, wurde durch einen lang gezogenen Sirenenton zerrissen.
***
Missmutig wischte Dorkas die beschlagenen Scheiben frei und schaute nach draußen. Der Anblick bot keine Überraschungen. Tatsächlich hatte es während der letzten Stunde der Fahrt nie anders ausgesehen. Die Straße zog sich oberhalb der Klippen entlang. Auf der einen Seite lag die graue, von Schaumstreifen gefurchte Fläche der See, auf der anderen Straßenseite stiegen die Hügelflanken steil an und verschwanden im Nebel, der die Kuppen umhüllte. Es war windig und kalt, und ein feiner, alles durchdringender Nieselregen wurde in Schleiern über den Asphalt gepeitscht. Bis auf drei Hausfrauen, die neben ihren Einkaufskörben hockten, gab es keine weiteren Passagiere in dem Bus. Dorkas hatte sich nach hinten gesetzt, weil er hoffte, dort seine Ruhe zu haben. Aber die Position im Heck des Busses hatte auch ihre Nachteile.
Auf der gewundenen Straße wurde ihm schlecht. Er umklammerte seine riesige altmodische Reisetasche, in der sich alle Dinge befanden, die Dorkas für seinen Aufenthalt in Wales für notwendig hielt. Darunter befanden sich diverse Paare langer Unterhosen, zwanzig dicke Wollstrümpfe, mehrere Pullover und einen Poncho, den er in einem Army-Surplus-Laden erstanden hatte.
Am wichtigsten waren wohl die zwei Dosen mit Desinfektionsspray. Die Fahrt hatte ihn durch Ortschaften, die Llansantffraid oder Llanrhystyd hießen, geführt. Allein solche Namen weckten in Dorkas das Bedürfnis, sein Desinfektionsspray flächendeckend einzusetzen.
Wieder seufzte er und schaute auf die nassen Schafe auf der Weide, die aussahen, als würden sie an Wales ebenso sehr leiden wie Dorkas. In Pentrebont stieg er aus, schleifte keuchend seine Tasche zu einem Taxistand und verhandelte mit dem einzigen vorhandenen Fahrer über den Fahrpreis. Diese Verhandlung verschaffte Dorkas tiefen Einblick in die menschliche Seelenlandschaft, war aber unter finanziellen Gesichtspunkten wenig erfolgreich, denn der Fahrer ließ ihn kalt lächelnd im Regen stehen, bis Dorkas den vorgegebenen Preis akzeptierte und im Voraus bezahlte.
Das Taxi fuhr fort von der Küstenstraße und hinauf in die Berge. Dorkas hätte möglicherweise sogar den Anblick der Landschaft genießen können, wenn nicht Nebel und Nieselregen alles in graue Schleier gehüllt hätten.
»Was woll’n S’e denn dort«, fragte der Fahrer plötzlich. Da er seit einer halben Stunde keinen Ton von sich gegeben hatte, schrak Dorkas bei dem Klang der Stimme zusammen. Seine Gedankenwelt war in diesem Moment ganz von dem Gefühl bestimmt, das durch ein kratziges, völlig durchnässtes Wollunterhemd hervorgerufen wurde.
»Warum fragen Sie?«
»Geht mich ja nichts an, aber da oben ist nich’ viel los. Immerhin, ein Gasthaus gibt’s. Leben aber ‘ne Menge Spinner da!«
»Spinner?« Dorkas legte alles, was er an fragendem Tonfall erübrigen konnte, in das Wort Spinner.
Der Fahrer schwieg eine Weile und konzentrierte sich auf die Straße, die in engen Windungen höher führte. Es gab kaum Verkehr, aber einmal begegnete ihnen ein Tankwagen für Milch, und das Taxi musste eine Vollbremsung machen, weil keiner der Fahrer mit Gegenverkehr gerechnet hatte. Die Scheibenwischer quietschten mit einschläfernder Monotonie über die Frontscheibe. Alles, was jenseits einer Steinwurfweite lag, wurde vom Nebel verschluckt. Das Taxi fuhr durch eine kleine Ortschaft und bog erneut ab. Eine noch engere Straße, die auf noch höhere Pässe in noch dichteren Nebel führte.
»Na klar, Spinner«, äußerte der Fahrer plötzlich. Er war ein langer, dürrer Mann. Weil sein Sitz so weit hinten stand, musste sich Dorkas halb umdrehen, um sein Gesicht sehen zu können. »Die haben da so ‘ne Partei gegründet, die für die Unabhängigkeit von Wales ist. Schwachsinn. Außerdem gibt’s da so ‘ne Art Kommune von Leuten, die sich Heiden nennen. Und ‘n paar bescheuerte Künstler sind auch in der Gegend. Die setzen Steinmännchen in die Gegend und hüpfen nächtens singend drum herum. – Gesindel.« Der Fahrer schnaufte vor Empörung und nahm die nächste Kurve etwas flotter als nötig.
Dorkas fingerte nach dem Haltegriff. Die schmale Straße führte jetzt abwärts. Ein Bach, geschwollen von dem Regen der letzten Tage, floss neben der Straße und schickte an einigen Stellen sein braunes Wasser über den Asphalt. An vielen Stellen zogen sich Rinnsale wie weiße Fäden durch das Gras der Hänge. Hinter einer Wegbiegung öffnete sich der Blick auf ein Tal.
Der Fahrer lenkte den Wagen bis vor ein Gasthaus und wendete, noch bevor er Dorkas aussteigen ließ. Dann holte er Dorkas´ Reisetasche aus dem Kofferraum und fuhr grußlos von dannen.
Dorkas hievte seine Tasche aus der Pfütze, an deren tiefster Stelle der Fahrer sie platziert hatte, und schaute sich um. Die Ortschaft bestand aus einer Handvoll niedriger, alter Häuser, die sich unter ihren Dächern krümmten wie verschüchterte Schildkröten in ihren Panzer. Die Straße führte auf der anderen Seite der Ortschaft weiter, war aber nicht mehr asphaltiert.
Zwischen den Häusern standen schöne alte Bäume, in denen der Wind rauschte. Die Tür des Gasthauses war verschlossen. Dorkas lehnte sich gegen das rissige Holz der Tür und beschloss, sein Leben hier zu beenden, falls nicht irgendwann doch die Tür geöffnet werden sollte. Nach einer Weile, in der er auf das Rauschen des Windes im Laub und das Plätschern des Regens in den Pfützen und das Gluckern des Wassers in der Dachrinne gelauscht hatte, kam ihm die Idee zu klingeln. Leider fand er keine Klingel, und er brauchte eine Weile, bis er sich einer Zeile in einem Stevenson-Roman erinnerte, in der jemand an eine Tür hämmerte.
Dorkas beschloss, es David Balfour gleichzutun und bearbeitete die Tür mit der Faust. Gleich darauf wurde ein Fenster aufgerissen.
»Wenn Sie Journalist sind, hauen Sie ab. Von Ihrer Sorte haben wir in den letzten Tagen genügend gehabt!«
Zwar verstand sich Dorkas nicht als Vertreter der journalistischen Zunft, aber andererseits war es doch so etwas wie eine offiziöse Neugier, die ihn in dieses Tal geführt hatte.
Ein Schwarm Krähen flog krächzend vorbei – irgendwo dort droben in der nebligen Höhe. Dorkas druckste herum. »Ich bin kein Journalist (das war die Wahrheit), aber ich habe mit Miss Hamm – ähh, mit Isadora korrespondiert (das war eine Lüge) und wollte deswegen …«
»Kommen Sie rein«, sagte die Männerstimme, und die Tür wurde geöffnet.
So stand denn Dorkas triefend in dem Schankraum des Gasthauses und war sich der traurigen Tatsache bewusst, dass seine Rettung vor einer finalen Lungenentzündung auf einer faustdicken Lüge beruhte. Seine Gewissensnöte wurden schwächer, als er sich in einem der Gästezimmer umgezogen hatte und nun in der großen dämmrigen Schankstube vor einem Teller mit Rührei und Speck saß.
Der Mann, der ihn eingelassen hatte, klapperte in der Küche mit Töpfen, stellte scheppernd Geschirr zusammen, machte dann das Licht aus und setzte sich zu Dorkas. Er war ein mittelgroßer, zart wirkender Mann, Mitte dreißig, wie Dorkas schätzte, mit wunderschönen, großen braunen Augen, einem gepflegten Kinnbart, und einer Stirnglatze, die ziemlich plötzlich, als wäre sie rasiert, in eine wilde Mähne dunkler Haare überging, die ihm fast bis auf die Schultern fielen. Er stellte einen Typ dar, den man eher an den Küsten des Mittelmeeres vermutet hätte als in den nebligen Bergen von Wales. Sein Akzent, den er mit einer gewissen Attitüde pflegte, machte indessen klar, dass Walisisch seine Muttersprache war.
»Schmeckt’s?«, fragte er und fügte hinzu: »Ich bin Anthony Gray.«
»Dorkas«, sagte Dorkas und erfreute sich daran, eine klare, eindeutige und wahre Aussage gemacht zu haben. Eine Weile kaute er weiter und gab sich ganz der Freude hin, grobes Brot mit den Zähnen zu zermahlen und sich gabelweise duftendes Rührei in den Mund zu stopfen.
Schließlich war der Teller leer. Dorkas nahm das letzte Brotstück in die Hand und wischte damit sorgfältig über den Teller, bevor er die würzige Kruste in den Mund steckte. Und während er noch genüsslich kaute, wurde ihm schlagartig klar, dass er sich eben benommen hatte wie einer der Hirten, Fuhrknechte oder Bauern, für deren ehrlich erworbenen Hunger dieses Gasthaus gebaut worden war. Das behagte ihm nicht. Er hatte den plötzlichen Verdacht, diese gemütliche Stube mit den dunklen, niedrigen Deckenbalken könnte etwas enthalten, das in ihn eindrang und ihn veränderte – irgendeine tabakblaue Ausdünstung zahlloser Nächte voller rauer Männerstimme, schrill lachender Frauen und trunkener Gesänge. Darum lehnte er auch das Angebot ab, ein Bier mitzutrinken und bat um einen Pfefferminztee.
»Nicht viel los hier«, bemerkte Dorkas, als er vor seinem Tee saß und Gray sich mit seinem Bier wieder zu ihm an den Tisch gesetzt hatte.
»Hier ist nie viel los. Manchmal kommt der Gesangsverein, dann ist die Stube voll. Aber die üben lieber im Stall von Martin Spencer, da ist die Akustik besser. Im Grunde kann kein Mensch von so einer Schenke leben. Ich mach es auch nur noch, damit die Leute hier in der Gegend einen Platz haben, wo sie zusammensitzen können. Ansonsten – ich hab’ ‘n paar Hühner, ‘ne Kuh, Ziegen, Schafe, ‘n bisschen Gemüseanbau hinterm Haus, ab und zu gehe ich angeln, und manchmal hole ich sogar einen Fisch heraus. Wir haben hier in der Gegend einen Tauschring aufgezogen, Schafswolle gegen Benutzung eines Traktors, einen Sack Mehl gegen einen Stapel Kaminholz oder so. Ich organisiere das alles ein wenig. Ich komme zurecht. Ich will kein anderes Leben, nichts, wo viel los ist.« Gray lehnte sich zurück, schob die Beine lang unter den Tisch und schaute Dorkas an.
Der rührte in seinem Pfefferminztee und dachte über Grays letzten Satz nach. Wollte er, Dorkas, ein anderes Leben? Ja, sagte er sich, ich will, aber ich kann nicht. Wahrscheinlich darf ich nicht einmal wirklich wollen. Und darum stellte er auch seine nächste Frage. »Sarah, oder Isadora, kann ich …«
»Ich werde Sie morgen zu ihren Eltern führen. Die wollten erst einmal ihre Ruhe haben und sind zu Verwandten gegangen. Sie können sich denken – die Obduktion, die Freigabe der Leiche, der ganze Kram mit der Polizei. Und dann bekamen die Medien doch noch Wind von der Sache und plötzlich wimmelte alles von sensationsgeilen Journalisten und Kameraleuten, die uns durch die Fenster filmten. Na ja, das scheint jetzt ausgestanden zu sein. Gibt ja auch nicht viel her, unser Ort.«
Sein Gewährsmann bei der Polizei hatte Dorkas zwar alle Ergebnisse der Obduktion und auch die Adresse der Ermordeten mitgeteilt. Aber dass Sarah Hammond noch bei ihren Eltern gewohnt hatte, war für Dorkas neu. Es passte auch nicht in die vage Vorstellung, die er sich von ihr gemacht hatte. Aber in letzter Zeit passten die wenigsten Dinge. Jedenfalls war Vorsicht angebracht. Er hatte sich als jemand ausgegeben, der mit Sarah Hammond korrespondierte. Dabei wusste er kaum etwas von ihr. Wie viel aber hätte er wissen müssen, um gegenüber Gray diese Lüge aufrecht zu erhalten?
Dorkas entschloss sich zu einem Frontalangriff. »Ich wusste nicht, dass sie noch bei ihren Eltern wohnte.«
Gray zuckte die Schultern. »Kein Wunder. Sie war halt etwas seltsam, unsere Sarah. Solche Dinge waren für sie kaum einer Erwähnung wert.« Gray starrte in sein Bier. Plötzlich zuckten seine Schultern und er begann zu kichern. »Vor einiger Zeit kam so ein Typ hierhin, von irgendeiner esoterischen Gesellschaft, mit dem hatte sie über Jahre korrespondiert. Ich weiß nicht, was sie ihm geschrieben hat, aber anscheinend hat sie ihm unseren Ort beschrieben und sich selbst und dabei eine Menge Fantasie investiert. Jedenfalls tauchte der Typ hier auf, fragte, wo sie wohnt, fiel fast um, als ich ihm das Haus zeigte, und als dann noch Sarah selbst erschien, verschwand der Besucher auf Nimmerwiedersehen. Im Übrigen ist sie auch erst seit der Geschichte mit Christopher vor anderthalb Jahren wieder hierhin zurück.«
Also noch eine weitere Attacke von vorn: »Sie hat mir nichts davon mitgeteilt« Das war die reine Wahrheit, wie Dorkas beruhigt feststellte.
Gray antwortete nicht, sondern stand und ging zur Theke. Mit einem vollen Bierglas kam er zurück, setzte sich und drehte das Glas schweigend zwischen beiden Handflächen.
Der Wind hatte aufgefrischt und heulte um die Hausecken. Regenschauer prasselten gegen die Fenster. Irgendwo schlug eine Tür im Durchzug.
Jetzt schmeißt er dich raus, dachte Dorkas. Er ahnt, dass du über Sarah Hammond nichts, aber auch gar nichts weißt, außer dass sie Schmuddelfantasien in kleinen Zeitschriftchen esoterischer Zirkel veröffentlichte.
»Sie hat mir nichts davon mitgeteilt«, echote Gray plötzlich, so als wäre nicht eine ganze Zeit des Schweigens vergangen. Er schaute Dorkas scharf an. »Ich weiß nicht, warum ich das jetzt tue, aber ich erzähle Ihnen jetzt alles, was ich über Sarah Hammond weiß. Es kommt ja wohl nicht mehr darauf an. Wissen Sie, es ist in gewisser Weise auch meine Geschichte, schließlich habe ich bei den ganzen Spielchen lange genug mitgemacht, bis es mir zu heiß wurde. Ich kenne Sarah seit unserer Schulzeit. Sie hatte schon damals eine große Klappe. Was sie sagte, war nicht unbedingt zutreffend oder besonders intelligent, aber man konnte sicher sein, dass Sarah ihren Senf dazugeben musste. Und so ist sie in gewisser Hinsicht geblieben. Sie fühlte sich nur wohl, wenn sie Türen einrennen konnte. Und wenn die Tür offen war, dann musste Sarah durchs Fenster einsteigen oder lieber noch ein Loch in die Wand hauen. Wenn ich so zurückdenke, dann war es vermutlich genau diese Eigenschaft, die Sarah in diesen ganzen Esoterikkram hineinführte. Verstehen Sie? Wenn die gesamte Naturwissenschaft behauptet, dass es solche Dinge wie Magie nicht geben kann, dann ist das für einen Menschen wie Sarah Hammond Anlass genug zu sagen: Ätsch, ihr blöden Spießer, ich zeige euch allen, dass ihr euch irrt. Im Grunde fing es schon in den ersten Schuljahren an. Wir spielten nicht Räuber und Gendarm, sondern Merlin und König Artus.
Und wehe, wenn einer die Zeremonien, die Sarah für uns einrichtete, zu früh verlassen wollte, weil es ihm langweilig war! Dann gab’s aber Zunder! Na ja, ein Junge, der nicht mehr mitmachen wollte und heimlich abhaute, brach sich auf dem Weg nach Hause ein Bein. Natürlich Zufall. Aber jedenfalls guckten wir unsere Sarah seitdem mit anderen Augen an. Vielleicht war’s ja auch kein Zufall. So ging das dann über die Jahre dahin. Irgendwie zerbrach unsere Clique schließlich, und ich hatte nicht mehr so oft Kontakt mit ihr. Eines Tages fand ich dann, als ich sie einmal besuchte, da war ich vielleicht sechzehn oder so, in ihrem Zimmer Aleister Crowleys Magick. Der Name sagt Ihnen was, vermute ich?«
Dorkas nickte. »Standardwerk der modernen Sexualmagie. An dem Punkt war es dann wohl aus mit den kindlichen Spielen?«
»So sehe ich es jetzt auch, aber damals war ich nur amüsiert. Na ja, ich studierte Soziologie – was man halt so studiert, bevor man sich aufs Land zurückzieht und einen alternativen Lebensstil pflegt. Sarah studierte einige Semester Psychologie, brach das Studium aber wieder ab. Dann jobbte sie eine Weile in einer Galerie in London. Diese Galerie hatte sich auf spirituelle Kunst spezialisiert, also moderne Mandala-Interpretationen, Sandmalereien der Navajos und so was. Dort lernte sie Christopher kennen. Die beiden hatten sich gesucht und gefunden – ich kenne nicht mal den Nachnamen von Christopher, fällt mir gerade ein. Egal – es bildete sich ein regelrechter Zirkel, in dem Ritualmagie betrieben wurde. Das war auch die Zeit, in der Sarah die ersten Aufsätze in irgendwelchen esoterischen Heftchen veröffentlichte. Diese Sache mit der Ritualmagie passte wieder voll zu Sarah. Das war für sie ‘ne Art Panzerfaust, mit der sie den Tresor der anderen Welten knacken wollte. Immer voll durch die Wand. Beschwöre dir einen Dämon, und der zeigt dir, wo’s langgeht. So ähnlich sehe ich das.«
»War diese Ritualmagie jetzt ernsthaft gemeint oder eher, na, so ein Mittelding zwischen Partyspiel und Karneval?«
»Ich fürchte, die meinten es verdammt ernst. Am Anfang gab es so ein paar Mitläufer, irgendwelche Späthippies, die immer auf eine geile Fete aus waren. Aber die merkten bald, dass es nicht ihr Revier war. Nein, ich glaube Sarah und ihr Kreis meinten es verteufelt ernst. Vielleicht sollte ich in den Zusammenhang besser nicht verteufelt sagen. Ich weiß über diese Londoner Zeit nicht allzu viel. Sarah und Christopher schwiegen sich aus. Ich habe mir aber die Mühe gemacht, ein wenig zu schnüffeln. Ich weiß, dass beide Ärger wegen Drogenbesitzes bekamen – Haftstrafen auf Bewährung. Wer Sarah kennt, der weiß genau, dass sie nicht der Typ ist, der im Scheißhaus sitzt und sich einen Schuss reindrückt. Nein, für mich gab es keine Frage, dass sie das Zeug für ihre rituelle Magie brauchten. Damit ist klar, dass die Sache mehr war als ein Hobby. Und es scheint, als wären sie über die Experimentalphase weit hinausgekommen.«
»Das heißt, sie haben irgendetwas beschworen? Oder irgendwelche magischen Ergebnisse erzielt?«
»Wissen Sie, Herr Dorkas, es ist unglaublich schwierig, in diesem Bereich Wahrheit und Legende zu unterscheiden. Man liest Dinge und sagt sich, die Heinis sind doch reif für die Gummizelle. Aber irgendwie hat man dann doch das gewisse Kribbeln im Bauch. Aleister Crowley ist wohl das Beispiel Nummer eins dafür.«
»Und Sarah, respektive Isadora trat an, um das Tier 666, sprich Altmeister Crowley, zu beerben?«
»Ich weiß es wirklich nicht. Es ist auch nicht mein Problem. Das ganze Thema war mir schlicht total egal. Ich war zu der Zeit damit beschäftigt, mit mir selbst klarzukommen. Ich hatte eine Scheißscheidung hinter mich zu bringen und meine Frau verschwand mit den beiden Kindern, weil ich nicht so leben wollte, wie es ihr in den Kram passte. Auf der Suche nach den Kindern bin ich übrigens einiges über Sarah und ihren Zirkel gewahr geworden. Später, als ich einsah, dass ich für die Kinder schon ein Fremder geworden war, richtete ich mir mein Leben so ein, wie ich es immer schon gewollt hatte. Ich zog in diesen Ort zurück, kaufte das Haus, es war damals halb verfallen. Ich machte das nur, weil ich sauer darüber war, dass hier alles verfällt und vergammelt, während die Leute in irgendwelchen Hochhäusern in Cardiff herumhängen. Ich engagierte mich für den Tauschring und machte ein bisschen in Regionalismus-Bewegung für ein unabhängiges Wales, Folklore-Veranstaltungen, Dichterlesungen in walisischer Sprache, Sängerwettstreite und so. Aber ich weiß, Sie wollen mehr über Sarah wissen. Also, zu der Zeit als Sarah in London war, tobte ein regelrechter Untergrundkrieg der magischen Zirkel. Es klingt absurd, aber es ist die Wahrheit. Es gab jede Menge Abspaltungen von den alten Orden und Gemeinschaften und wie meist in diesem Bereich spielte Neid, Eifersucht und Geltungsdrang eine wesentliche Rolle.«
Gray stützte den Ellbogen des linken Armes auf die Tischplatte und begann mit den Fingern zu zählen. »Also es gab den N.O.T.O, Novum Ordo Templis Orientalis – ich habe nie Latein gelernt, ich fürchte, ich kriege die Namen nicht so richtig hin – eine Abspaltung des O.T.O.. Dann gab’s den Ordo Veritatis Orientalis, abgekürzt O.V.O., die sich auch vom O.T.O. abgespalten haben. Es muss da zugegangen sein wie vor dem Scheidungsrichter. Dann gab es eine Gruppe, die sich sinnigerweise SM nannte, Sethos militaris oder so. Das waren die Lackleder-Freaks unter den Hobbymagiern. Ihr Symbol war das durchstochene Auge des Horus. Es gab die Gesellschaft für alternative Magie, Die Kinder der großen Mutter, Merlins Jünger, die Hammer des Thor, die sich mit SM gerne mal eine klassische Prügelei auf der materiellen Ebene lieferten. Und natürlich die Sorores Iside …«
»Der Zirkel, den Sarah gegründet hatte.« Dorkas hatte ins Blaue gezielt und einen Volltreffer gelandet.
Gray nickte. »Sie mischte extremen Feminismus mit extremer Ritualmagie. Die Kerls hatte nichts zu sagen und wurden lediglich als Energielieferanten gebraucht. Sarah hat sich in der Zeit einige hässliche Geschlechtskrankheiten geholt und mindestens zwei Abtreibungen in irgendwelchen Hinterhofpraxen machen lassen.«
»Klingt nicht sympathisch.«
»Es war auch nicht sympathisch. Dabei war sie im Grunde ein wirklich nettes Mädel, auch wenn das jetzt etwas komisch klingen mag. Aber in diesem Bereich, in der Magie, war sie total vernagelt Rücksichtslos und fanatisch. Ich habe einen Mann getroffen, der in ihrem Kreis eine Weile mitgemacht hatte und der sagte mir Ich habe keine Lust mehr, meinen Arsch hinzuhalten. Und er meinte das wörtlich.«
»Mit anderen Worten, Sarah und ihren Gruppe haben nichts ausgelassen?«
»Aber auch gar nichts. Und wenn Sie mich fragen müssen, wo Sarahs Pekinese überall mit seiner langen blauen Zunge hingekommen ist, dann können wir jetzt das Thema wechseln.«
»Danke, die Einzelheiten kann ich mir denken. Wie hat Crowley einmal so schön geschrieben: Wenn meine Fantasie auch sehr schmutzig ist, so wie die jedes Menschen …«
Gray nahm einen tüchtigen Schluck und blickte in sein Glas. »Es gab also eine Weile dieses Spielchen, bei denen sich die Gruppen gegenseitig den Tod an den Hals wünschten. So richtig hübsch mit Voodoo-Püppchen und zerrissenen Fotos und so.«
»Und der Erfolg?«
»Beeindruckend. Es gab eine statistisch relevante Erhöhung der Selbstmordzahlen und einige ungeklärte Fälle. Vermutlich wurde öfter nachgeholfen, wenn die Dämonen zu lahmarschig waren. Und wer kann feststellen, ob bei dem Sprung von der Brücke nicht jemand Hilfestellung durch einen festen Tritt von hinten gegeben hat. Die Polizei hat jedenfalls nie einen von den Magie-Freaks festgenagelt. Na ja, Leute, die derart bescheuerte Sachen machen, sind psychisch wohl zwangsläufig so labil, dass ihnen ein Selbstmord als gute Idee erscheinen muss. Allerdings gab es zwei oder drei Fälle, die schon heftig waren. Leichen, die aus der Themse gefischt wurden und die aussahen, als hätte sie ein Tiger zerfleischt. Eigentlich kein Thema für diese Tageszeit.«
»Und Sarah war mitten drin in dieser Szene?«
»Sie war die Queen of Magic. Als ich ihr einmal begegnete, sagte sie, dass sie das, was die Pfeifen von der Agape-Logen geschafft hätten, schon könnte.«
»Agape-Loge sagt mir nichts.«
»Nun, ich war auch völlig unwissend. Aber mithilfe einiger Bücher kam ich dann auf die richtige Spur. Die Agape-Loge wurde von Jack Parsons in den USA gegründet, und der war ein Schüler Crowleys. Er bombardierte Crowley mit wirren Briefen über seine magischen Versuche, und Crowley, der ziemlich ungehalten reagierte, sagte zu seinen Leuten, Parsons habe vermutlich ein Mondkind geschaffen.«
»Also ein Wesen, das aufgrund einer Beschwörung entstanden ist?«
»So ist es. Das zeigt doch, wie bekloppt diese Magie-Fritzen sind. Ich meine, es gibt doch angenehmere Möglichkeiten zur Zeugung von Wesen? Dass Parsons nachher in geistige Umnachtung verfiel, braucht wohl nicht mehr erwähnt zu werden. Sei’s drum. Es gab also diese Reihe ungeklärter Todesfälle, die ich eben ansprach. Und plötzlich war Sarah wieder hier, mit ihrem Christopher an der Hand. Der war Künstler, das heißt, er war hauptsächlich Bildhauer. Hatte bei einem Maler namens Gallsworthy oder Gainsworth gelernt. Der ist ziemlich bekannt und hat seinerseits bei Austin Osman Spare eine Lehrzeit gemacht. Aber zu der Zeit, als er bekannt wurde, war er nicht mehr auf dem Magie-Trip, sondern machte in Meditation. So eine Mischung aus Zen-Malerei und Jackson Pollocks Drip-paintings. Er saß stundenlang bewegungslos und schweigend vor einer Leinwand und legte dann explosionsartig los. Schwang den Pinsel und tröpfelte oder kippte die Farbe gleich so auf die Leinwand.
Er nannte das Erkennungsdienstliche Behandlung der unsichtbaren Welt. Eigentlich hatte ich dann mit Christopher wesentlich mehr zu tun als mit Sarah. Wir verstanden uns. Er war in Ordnung. Er konnte singen und saufen und lachen, damit erfüllte er alle Voraussetzungen für eine gelungene Integration in unsere Bergwelt. Seltsamerweise hatte er mit Sarahs magischen Versuchen nichts am Hut. Er hatte früh genug auf die Bremse getreten. Aber er nannte sich auch Erdsucher. Er war ein Anhänger von Alfred Watkins und seiner Theorie der Ley-Linien. Später traktierte er mich mit den Werken von John Mitchell, mit Feng Shui und der Orgon- Theorie von Wilhelm Reich. Ja und dann begannen wir mit seinem Projekt. Er nannte es Seelenlotse. »
Seelenlotse – der ägyptische Thot leitete die Seelen durch die Unterwelt, fuhr es Dorkas durch den Kopf. Und Thot war für die Griechen Hermes Trismegistos. Laut sagte er: »Da hat dann Sarah vermutlich mitgewirkt.«
»Weder sie noch Christopher haben das ausgesprochen, aber sie hat bei der Idee mit Sicherheit eine Rolle gespielt. Es ging schlicht darum, von der Küste bis in die Berge eine ununterbrochene Reihe von Steinfiguren zu setzen. Zuerst eine gerade Linie, und dann liefen die Figuren in eine weite Spirale hinein. Es sollte ein Stück Landschaftskunst sein. Und die dahinterliegende Idee war, sozusagen die poetische Rechtfertigung für die Medien, die verlorenen Seelen der ertrunkenen Seeleute von der See bis in unser Land zu leiten, wo sie Ruhe finden würden.«
»Aber warum die Spirale?«
»Keine Ahnung. Er erzählte etwas von einem Symbol der großen Mutter, in deren Schoß die Seelen ruhen sollten.«
»Und diese Steinsetzungen sind wirklich durchgeführt worden?«
»Zum Teil. Christopher arbeitete wie ein Blöder und er stellte auch Helfer an, teilweise Schulkinder, die die Figuren herstellen sollten. Es waren ja gewaltige Steinfiguren von mindestens drei Meter Höhe. Sie hatten Menschengestalt, oft aber Tierköpfe. Meistens von Vögeln. Sie erinnerten irgendwie an Totemfiguren der Naturvölker. Es war eine irrsinnige Plackerei, die Dinger an Ort und Stelle zu bringen. Aber es sah auch fantastisch aus. Diese Reihe von grob behauenen Steinfiguren in Regen und Nebel – Irgendwie archaisch. So nach der Welt der Fantasy-Filme.«
»Wurde das – Kunstwerk vollendet?«
»Nein. Mit Christophers Tod war das Projekt erledigt. Sein Tod war auch so eine Sache. Er wurde von einer der Figuren erschlagen. Die Polizei sprach von Unfall und schloss die Akte. Aber ich frage mich immer noch, wie eine solche Figur, tief eingegraben und gut befestigt, wie sie war, sich auf einem nicht allzu steilen Hang losreißen und schräg herunterstürzen kann und dabei so schnell sein, dass dem Menschen, den sie erschlägt, keine Möglichkeit bleibt, einen Schritt zur Seite zu tun.«
»Und Sarah?«
»Die zog zu ihren Eltern zurück, schrieb ihre Artikel und ein oder zwei Bücher. Sie war vollkommen unauffällig, war aber auch oft unterwegs. So ging das bis zu dem Mord.«
Gray schwieg eine Weile, dann sagte er, er habe am Morgen einiges zu tun, aber Dorkas könne ruhig noch unten sitzen bleiben. Dorkas hatte kein Interesse. Bevor er sich in sein Bett legte, steckte er den Kopf noch einmal aus dem Fenster. Es regnete heftig, und der Wind drückte sich in plötzlichen Böen zwischen Haus und Baum hindurch. In dem Lichtschein seines Fensters schimmerte der nasse Vorplatz und die Pfützen warfen das Licht zurück.
Dorkas stutzte. Er schaute noch einmal genauer hin und bemerkte eine Spiegelung, die sich als gerade Linie parallel zur Hauswand hinzog und dann um die Ecke bog, wo sie im Dunkel verschwand.
Jemand hatte allem Anschein nach einen kleinen Entwässerungsgraben gezogen.
Dorkas schloss das Fenster, machte sich bereit für das Bett und löschte das Licht. Es war gar nicht so schlimm, in einem fremden Bett zu liegen, wie er befürchtet hatte. Es war sogar recht angenehm. Er dachte über Sarah Hammond nach. Er hatte das Gefühl, ihr in der letzten Stunde etwas näher gekommen zu sein und sie jetzt besser zu kennen. Aber welcher Mensch findet schon den Faden, der lang genug ist, um die Tiefe des Menschen auszuloten, dachte Dorkas elegisch und schlummerte ein. Sein letzter Gedanke war, dass diese Linie da draußen vielleicht kein Entwässerungsgraben war. Sondern ein magischer Kreis.
Fortsetzung folgt …