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Stephen King – Blutige Nachrichten

Stephen King
Blutige Nachrichten

Novellensammlung, Hardcover, Heyne, August 2020, 560 Seiten, 24,00 Euro, ISBN: 9783453273078. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Dr. Bernhard Kleinschmidt

Wer kaum etwas über Stephen King weiß, weiß zumeist wenigstens das: »Das ist doch dieser Horror-Autor, der immer so dicke Bücher schreibt!« Zugegeben, Kings Romane sind häufig umfangreich und ausufernd, dabei hat der meisterhafte Erzähler einige seiner besten Arbeiten eben nicht im Romanumfang verfasst, sondern in kürzerer Form in Kurzgeschichten oder Novellen. Oft sind es dort die Geschichten, die abseits der Unheimlichen die erzählerischen Stärken des Autors deutlich zeigen. Nirgends wurde das deutlicher als bei der Novellensammlung FRÜHLING, SOMMER, HERBST UND TOD von 1982: Mit DIE LEICHE (verfilmt als STAND BY ME – DAS GEHEIMNIS EINES SOMMERS) und PIN-UP (verfilmt als DIE VERURTEILTEN) gelang es King, sich auch ohne unheimliche oder übernatürliche Elemente als großartiger Erzähler zu etablieren.

Mit BLUTIGE NACHRICHTEN (Originaltitel: IF IT BLEEDS) gibt es nun vier neue Kurzromane von King in einer Sammlung – mit einer Besonderheit: Eine von ihnen ist eine inhaltliche Fortsetzung der Bill Hodges-Trilogie (MR. MERCEDES, FINDERLOHN und MIND CONTROL) sowie deren Quasi-Fortsetzung DER OUTSIDER. Die unterschiedlichen Geschichten greifen King-typische Konstellationen oder Spielorte auf und bieten für den Langzeitfan so viel Angriffsfläche für eine wohlige Rückkehr in Kings Story-Kosmos.

Den Auftakt bildet Mr. Harrigans Telefon: Der neunjährige Craig wird von dem pensionierten und wohlhabenden Geschäftsmann Harrigan engagiert, um ihm vorzulesen. Als Dank erhält Craig neben seinem Lohn auch Rubbellose, und eines Tages gewinnt er so 3.000 Dollar, die er unter anderem in ein iPhone investiert, das er dem Senior schenkt. Dieser entdeckt nach anfänglichem Unwillen die Reichhaltigkeit des Internets und der sich ihm dadurch bietenden Geschäftsmöglichkeiten. Als er einige Jahre später stirbt, gibt Craig ihm das Handy unbemerkt mit ins Grab. In seiner Trauer ruft er es immer wieder an, um die Stimme seines alten Freundes zu hören, der ihm 800.000 Dollar vererbt hat. Als Craig in der Schule verprügelt wird, ruft er wieder an und spricht sein Erlebnis auf die Mailbox. Am Tag darauf stirbt der Angreifer und eine kryptische Botschaft aus einzelnen Buchstaben antwortet unter Harrigans Nummer.

Die Freundschaft zwischen einem jungen und einem älteren Mann ist ein gängiges Motiv bei King, beispielsweise bei DER MUSTERSCHÜLER oder ATLANTIS. Dass Mobiltelefone King nicht ganz geheuer sind, hat er schon in seinem Smombie-Roman Puls ausführlich dargestellt, und hier dient das Smartphone als dämonisches Werkzeug, das dieses Mal über den Tod hinaus eine offenbar für beide Seiten fast quälende Verbindung schafft. Mr. Harrigans Telefon bietet neben dem an Poe erinnernden Storyaufbau keine großen Höhepunkte, erweist sich aber als solide Gruselgeschichte, die allerdings die schwächste Novelle der Sammlung ist.

Ganz anders gestaltet sich Chucks Leben: In drei inhaltlich völlig unterschiedlichen Szenen wird in chronologisch umgekehrter Reihenfolge das Leben von Buchhalter Chuck Krantz erzählt: Eine apokalyptische, imaginierte Szene aus dem Kopf des an einem Gehirntumor sterbenden Mannes wird gefolgt von einer seiner schönsten Erinnerungen eines unerwarteten Tänzchens bei einem Straßenmusiker und einer abschließenden Episode aus Chucks Kindheit, in der er auf dem Dachboden seiner Großeltern einen Blick auf seinen späteren Tod erhascht.

Drei Miniaturen, die ein ganzes Leben bilden. Drei Schlaglichter, das erste rein assoziativ, das zweite als Shortstory eines unerwarteten Ausbruchs aus festgefahrenen Mustern und als drittes ein weiteres Element, das die biedere Figur in einer gruseligen Pointe erklärt: Das ist absolut großes Kino, meisterhaft komponiert und so klug zusammengefügt, dass man nur staunen kann. Chucks Leben bildet den Höhepunkt von Blutige Nachrichten, ist gleichzeitig aber auch die anspruchsvollste der vier Novellen der Sammlung.

In BLUTIGE NACHRICHTEN wendet sich Stephen King erneut seiner Figur Holly Gibney zu, die er als Nebenfigur für die Bill Hodges-Trilogie erfand und überraschend auch in DER OUTSIDER wieder auftauchen ließ. Diesen Kosmos rund um die Figur nutzt King, um Gibney auf eine weitere Outsider-Variante treffen zu lassen: einen Gestaltwandler, der sich als Reporter tarnt und vom Leid bei großen Katastrophen ernährt. Als er beginnt, diese Katastrophen selbst herbeizuführen, kommt Holly ihm auf die Spur und erkennt, dass sie nicht die Einzige ist, die den Outsider bemerkt hat.

King hat sichtlich Freude daran, sich weiter mit der sperrigen aber doch sehr sympathischen Figur Holly Gibney zu befassen. Blutige Nachrichten ist tatsächlich fast ein eigenständiger Roman geworden und bietet neben der Hauptstory viel weiteres Material rund um Hollys Familie und dazu, wie sie sich im Leben nach Bill Hodges Tod zurechtfindet. Die Story spoilert die gesamte Bill Hodges-Trilogie und DER OUTSIDER, die man zuvor gelesen haben sollte, um die Hauptfiguren und ihre Motivationen zu verstehen. Ich gehe sogar soweit, dass ohne die Kenntnis der genannten Romane der erzählerische Kern der Novelle gar nicht greifen kann, denn wer FINDERS KEEPERS nicht kennt und nicht weiß, wie DER OUTSIDER ausgeht, kann kaum die Bedrohlichkeit des weiteren Gestaltwandlers ausmachen. Trotzdem, oder gerade deswegen, macht diese neue Holly-Episode viel Spaß und hätte durchaus das Zeug zu einem weiteren eigenständigen Roman gehabt. Außerdem kann ich mir kaum vorstellen, dass King die Figur nicht noch einmal verwendet.

Den Abschluss macht Ratte: Der Lehrer und Schriftsteller Drew Larson hat erfolgreich ein paar Kurzgeschichten veröffentlicht, ist jedoch an dem Versuch, einen Roman zu schreiben, gescheitert und hat bei einem psychischen Zusammenbruch im Anschluss fast das Haus seiner Familie niedergebrannt. Als ihm eine neue Idee für einen Roman kommt, zieht er sich entgegen des Rates seiner Frau in eine einsame Hütte im Wald zurück, die seinem verstorbenen Vater gehörte. Die Arbeit läuft gut, bis Drew an einer schweren Grippe erkrankt und ein heftiger Sturm aufzieht, der ihn von der Außenwelt abschneidet. In einem, wie er meint, Fiebertraum trifft er eine Abmachung mit einer sprechenden Ratte, die ihm anbietet, dafür zu sorgen, dass das Buch fertig wird, wenn jemand dafür stirbt. Drew lässt sich auf den Handel ein und muss mit den Folgen leben.

Mehr King-typische Elemente: Der (scheiternde und psychisch labile) Schriftsteller als Protagonist, die Waldhütte (Duddits), der Sturm (diverse Romane), Isolation und ein teuflischer Pakt. Was Ratte nicht vollends zur reinen Stilübung werden lässt, ist das späte Auftauchen des mephistophelischen Tiers und die »Geschichte in der Geschichte«, die Drews Roman schildert sowie anschaulich beschreibt, wie es ist, beim Schreiben in den Flow zu kommen, frei und kreativ zu assoziieren und im Anschluss an einzelnen Wörtern zu verzweifeln. Immer wenn King über das Schreiben schreibt, findet er dafür ganz besondere Bilder und Worte. Das macht Ratte, jenseits von dem gelungenen düsteren Stimmungsbild, sehr lesenswert.

Insgesamt versammelt Stephen King in BLUTIGE NACHRICHTEN erneut vier tolle Novellen: Während die Titelstory mit ein wenig mehr Material auch einen guten kleinen Einzelroman abgegeben hätte, variieren Ratte und Mr. Harrigans Telefon ein paar bekannte Motive auf angenehme und ansprechende Weise. Chucks Leben dürfte zu den aufregendsten, ungewöhnlichsten und innovativsten Arbeiten Kings in den letzten Jahren gehören und sich in seinem an Höhepunkten nicht armen Novellen-Gesamtwerk zu den Klassikern im oberen Bereich hinzugesellen.

(sv)