Deutsche Märchen und Sagen 85
Johannes Wilhelm Wolf
Deutsche Märchen und Sagen
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1845
107. Wie Graf Wilhelm von Jülich starb
Aus Ärger über eine ihm auf seinem Schloss Nideck widerfahrene Schande erkrankte Graf Wilhelm und wollte dann nach Köln. Unterwegs aber fühlte er die Kräfte seines Leibes wie seiner Seele schwinden und sprach: »O, ich sehe Köln nicht mehr wieder.«
Man ließ ihn nieder und der Arzt erklärte alsbald, der Tod stehe vor der Tür, fügte dann die Bitte hinzu: »Ich rate Euch, dass Ihr doch Eure Gemahlin wieder zu Euch nehmt; tut das.«
»Das geschieht nimmer«, sprach der Graf.
Da bat der Arzt für einen Ritter, den Herr Wilhelm im Kerker schmachten ließ.
Aber der Graf sprach: »Solange ich lebe, verlässt er den Kerker nicht.«
»Dann wird er noch vor morgen frei«, sagte der Arzt. Und so geschah es auch.
Als nun sein letztes Stündlein da war, da lag er an der Brust einer Frau, die er ihrem Mann geraubt hatte.
»Was fange ich nun nach Eurem Tode an?«, fragte diese. »Du musst einen jungen Ritter heiraten«, antwortete Wilhelm und das waren seine letzten Worte.
In derselben Nacht wurde eine Nonne des Sankt Mauritiusklosters in Köln vom Geist in die Hölle geführt und sah da einen schrecklichen Topf, der war mit einem glühenden Deckel zugedeckt und von Schwefelflammen umgeben.
Als sie ihren Geleiter darüber ausfragte, sprach derselbe: »Da sind nur zwei Seelen drin; die des Kaisers Maxentius und die des Grafen Wilhelm von Jülich.«
Als sich nun am anderen Tag morgens die Kunde verbreitete, dass der Graf gestorben sei, da erkannte die Nonne die Wahrheit ihres Gesichtes.