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Aus dem Wigwam – Die Mutter der Welt

Karl Knortz
Aus dem Wigwam
Uralte und neue Märchen und Sagen der nordamerikanischen Indianer
Otto Spamer Verlag. Leipzig. 1880

Vierzig Sagen
Mitgeteilt von Chingorikhoor

Die Mutter der Welt
Eine Sage der Hundsrippen-Indianer

u den eisigen Gegenden des Nordens, weit hinter dem Land, wo die Jagdgründe der Schlangen- und Kupferminen-Indianer sind, wohnte zur Zeit, als sonst gar kein menschliches Wesen existierte, eine Frau, welche die Mutter der Welt wurde. Sie war nach der Erzählung der alten Medizinmänner klein und reichte einer Jungfrau kaum bis an die Schultern; aber sie war sehr schön und klug. Ob sie gutmütiger oder zänkischer Natur war, ist unbekannt geblieben, denn sie hatte keinen Mann und sonst war auch niemand in ihrer Nähe, der sie ärgern oder ihre Geduld auf die Probe hätte stellen können. Sie brauchte nicht, wie die anderen Indianerinnen, schwere Büffel in die Hütte zu schleppen oder im eiskalten Wasser herum zu waten und Fische zu speeren, während ihr fauler Herr Gemahl ruhig beim Wigwamfeuer saß und behaglich seine Pfeife rauchte. Sie hatte nur für sich selber zu sorgen, und das war keine schwere Arbeit, denn die Lebensmittel wuchsen so reichlich in ihrer Nähe, dass sie sich spielend Vorrat für den Winter anlegen konnte.

Obwohl sie mutterseelenallein war, war sie doch glücklich. Im Sommer beobachtete sie das Wachstum der süßen Beeren, die ihre Lieblingsfrucht waren, und freute sich zur Zeit der Reife wie eine Mutter über das Lächeln ihres erstgeborenen Kindes. Eines Tages, als sie wieder ausgegangen war, Beeren zu pflücken, sah sie plötzlich ein merkwürdiges vierbeiniges Geschöpf neben sich, das alle ihre Fragen mit drei unverständlichen Wörtern bau wau bau beantwortete. Wollte es vielleicht Beeren? Nein, denn es wies die saftigsten ohne Dank zurück. Wollte es sich vielleicht nur, wie sie, der stattlichen Tannen und der farbenreichen Blumen erfreuen? Sie wusste es nicht und ließ es deshalb allein und ging in ihre Höhle zurück.

Kaum hatte sie sich auf ihrem Bett von trockenem Laub niedergelassen, als jenes Tier hereinkam und sich zu ihren Füßen niederließ. Allmählich schlief es ein, und die Mutter der Welt tat dasselbe. Darauf stieg der Manitu der Träume zu ihr hernieder und zeigte ihr erstaunliche Dinge. Sie träumte, die Sonne sei hinter den Bergen zur Ruhe gegangen und es sei Nacht. Die Zwergweide senkte ihr Haupt unter schwerem Tränentau und der Löwenzahn bedeckte seine Blüte mit einem braunen Schleier. Sie träumte so lebhaft, dass sie glaubte, sie sei wach, und dass alles, was sie sähe, ihre eigene Umgebung, ihre Höhle, Beeren, Blumen und Bäume seien. Doch vor ihrem Bett stand auf dem Platz, den der Hund vorher eingenommen hatte, eine Gestalt, die der ähnlich sah, die sie häufig auf dem Wasserspiegel bemerkt hatte, wenn sie sich in der heißen Jahreszeit am Ufer abzukühlen pflegte. Sie war größer als sie und ihr Blick wild und trotzig. Die Frau zitterte vor Furcht zum ersten Mal in ihrem Leben, ein unbekanntes Gefühl stahl sich in ihre Brust. Sie wandte ihr Auge kurze Zeit von ihr ab, dann aber sah sie sie wieder an und wünschte nicht, dass sie fortginge. Die fremde Gestalt lächelte, und die Gedanken der Frau wurden verwirrt.

Als die Sonne durch die Felsspalte der Höhle schien, erwachte sie; das Traumbild war verschwunden und an seiner Stelle lag das vierbeinige Tier mit dem eintönigen Bau, wau.

So verstrichen vier Monate. Die liebliche Traumgestalt kam jedes Mal mit dem Einbruch der Nacht vor ihr Lager und verließ es mit den ersten Sonnenstrahlen wieder. Dann kam der Hund und blieb den ganzen Tag über an ihrer Seite. Mit der Zeit ging eine merkwürdige Veränderung mit ihr vor. Die saftigsten Beeren ließ sie unangerührt stehen, und an ihrer Schwester, der Rose, ging sie, ohne zu grüßen, vorbei. Sie wanderte fort in ein einsames Thal, um dort ihren verlorenen Frieden zu beweinen und des vermissten Freundes zu gedenken. Plötzlich verdunkelte sich der Himmel und eine Gestalt, ähnlich der, die sie im Traum gesehen hatte, aber ungleich größer, näherte sich ihr von Osten. Der Kopf des Fremden war mit Wolken bekränzt, sein Haar streifte die höchsten Berggipfel, und seine Augen waren größer als das rote Auge des Tages. Wenn er zu dem furchtsamen Hund sprach, klang seine Stimme rau und donnerähnlich; mit der traurigen Frau redete er jedoch liebevoll und leise. Sie erzählte ihm ihre Träume und fragte, warum sie sich seit einigen Monaten so verändert habe und keine Freude mehr an Dingen finde, die doch früher ihre einzige Wonne gewesen seien.

Darauf erwiderte der Mächtige, dass das, was sie scheinbar geträumt habe, Wahrheit gewesen sei. »Dem Hunde«, fuhr er fort, »der nun an deiner Seite steht, ist vom Großen Geist die Macht verliehen worden, mit dem An­bruch der Nacht Mannsgestalt anzunehmen, in welcher er die Widerwärtig­keiten und Unannehmlichkeiten des Lebens durch Mut und Tapferkeit bekämpfen kann, während du Zuflucht zur Milde und Liebenswürdigkeit nehmen musst. Er ist gerade das Gegenteil von dir, und dein jetziger Zustand, der deine Wangen mit Tränen nässt, ist nur in dem Umgang mit ihm zu suchen. Du wirst bald von zwei Kindern entbunden werden; dieselben musst du sorg­fältig pflegen und mit der Milch deiner Brust ernähren; denn aus ihnen wird ein großes Geschlecht entstehen, dem ich bereits die Erde wohnlich eingerichtet habe.«

Bisher war die Erde eine raue, formlose Masse gewesen, jener Starke aber hatte die hohen Felsen abgebrochen und damit die tiefen Schluchten ausgefüllt. Die Schneeberge hatte er in brennende Abgründe geworfen und jedem See und Fluss sein bestimmtes Bett angewiesen.

Als er seine Rede beendet hatte, ergriff er den Hund mit beiden Händen und zerriss ihn trotz der jammernden Bitten der Frau in unzählige Stücke und streute dieselben über die ganze Erde. Die Eingeweide warf er ins Wasser und gebot ihnen, sich in Fische zu verwandeln, was Sie auch augen­blicklich taten. Das Fleisch, das aufs Land fiel, wurde zu Hirschen, Bären, Wölfen, Füchsen und wilden Katzen. Die Haare des Hundes, welche der Starke in die Luft blies, verwandelten sich in Adler, Möwen Enten und Falken.

Als er so Erde, Luft und Wasser mit lebenden Tieren gefüllt hatte, rief er die Frau und ihre Kinder zu sich und sagte, dass er dies alles für sie geschossen habe, und dass sie nun nach Herzenslust jagen und fischen sollten, wonach er verschwand und nie mehr zurückkehrte.

Die Kinder der Frau hatten dunkelrote Farbe und wurden die Stammeltern der sogenannten Hundsrippennation und somit der ganzen indianischen. Auch die weißen Männer stammen von den Hundsrippen-Indianern ab. Ein Jäger hatte einst eine Biberfalle gestohlen und war dabei erwischt worden. Der plötzliche Schrecken machte ihn so blass, dass sich diese Farbe auf seine Kinder bis auf den heutigen Tag vererbt hat.