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Im Zauberbann des Harzgebirges – Teil 49

Im Zauberbann des Harzgebirges
Sagen und Geschichten, gesammelt von Marie Kutschmann

Ruine Anhalt

Auf waldigem Berg verborgen liegt die Ruine Anhalt. Nur noch wenige Überreste sind von der alten Stammburg der Anhaltiner vorhanden, denn schon im 15. Jahrhundert soll dieselbe, wie alte Chroniken erzählen, in Trümmern gelegen haben.

Dennoch bewahrte das Volk für diese Ruine ein reges Interesse, da die Sage ging, dass der Brunnen unter derselben unermessliche Schätze berge, dass es aber unmöglich sei, sie zu heben, weil Berggeister und gräuliche Ungetüme die Kleinodien bewachten und jeden zerreißen würden, der es wagen wollte, sie anzutasten.

Durch diese schaurige Mär ließen sich selbst die geldgierigsten Menschen abhalten, den Brunnen zu durchforschen; nur einem Grubenbesitzer aus der Umgegend ließ der Schatz keine Ruhe. Er besaß genug Geld und Gut, um sorgenfrei leben zu können; aber eine wahre Gier, Reichtümer zu erlangen, hatte ihn erfasst.

Der Schatz im Brunnen kam ihm nicht aus dem Sinn. Oftmals wanderte er in später Nacht hinauf zur Ruine, um trotz der drohenden Gefahr das Wagnis zu unternehmen. Blickte er aber hinab in die finstere Tiefe des Brunnens, so überkam ihn eine solche Angst, dass er davonlief.

Nun sann er hin und her, wie wohl die bösen Geister zu bannen seien; doch all sein Sinnen war vergeblich, ihm fiel nichts ein. Da, eines Tages tauchte ein schrecklicher Gedanke in dem habgierigen Menschen auf. Unter seiner Obhut lebte, da die Eltern schon seit Jahren tot waren, ein kleiner Bruder. Diesen hatte der Grausame als Opfer ausersehen; der sollte hinabsteigen in den Brunnen und die Schätze holen, weil einem unschuldigen Kind kein böser Geist etwas anhaben kann. Über die Unschuld wacht Gott, und die Macht des Bösen ist da gebrochen! So hatte er oft gehört. Also warum nicht ohne Furcht den Bruder in den Brunnen lassen? Als er sich einst wieder schlaflos auf seinem Lager wälzte, weil der Schatz im Brunnen ihm alle Ruhe raubte, stand er kurz entschlossen auf, kleidete sich an, weckte seinen Bruder und zog ihn halb im Schlaf mit sich fort.

Der Kleine wusste nicht, wie ihm geschah. Ängstlich klammerte er sich an den Bruder und bat, er solle ihn doch daheim lassen.

Doch hastig eilte dieser mit dem Knaben weiter, bis die beiden endlich zur Mitternachtsstunde die Ruine Anhalt erreicht hatten.

Als er hier dem Bruder mitteilte, dass er ihn in den Brunnen hinablassen wolle, um den Schatz zu heben, begann der Kleine kläglich zu weinen und zu bitten, sich doch seiner zu erbarmen. Aber den Habgierigen erweichte kein Bitten, kein Flehen. Er schlang um den Leib des Knaben ein Seil und hieß ihn, wenn er sein Leben lieb habe, nicht eher das Zeichen zum Heraufwinden zu geben, bis der Schatz in seinen Händen sei. Vor den bösen Geistern brauche er keine Furcht zu haben, da sie Kindern kein Leid antun dürften.

Dann ließ er den wimmernden Knaben in den Brunnen hinab, beugte sich aufhorchend über den Rand, als plötzlich ein schrecklicher, herzzerreißender Schrei zu seinen Ohren drang. Dennoch zog der Grausame nicht das Seil in die Höhe, aus Furcht, der Knabe habe den Schatz noch nicht erlangt und nur vor Angst geschrien. Da wurde das Seil mit einem Mal so schwer, dass es fast den Händen des Mannes entsank. Auch das Geschrei war verstummt, und in dem Glauben, das Kind habe den Schatz nun gefunden, zog er das Seil empor.

Doch welch ein Anblick! Anstatt des gehofften Goldes hing nur sein Bruder schrecklich entstellt, kalt und starr als Leiche am Strick. Voller Entsetzen wich er zurück, die Last entglitt seinen Händen – ein dumpfer Fall und alles war still.

Der Habgierige rannte nun wie von Furien verfolgt nach Hause; aber nirgends fand er Ruh noch Rast; immer trat die Leiche des kleinen Bruders vor seine Augen. Das böse Gewissen raubte ihm alle Arbeitskraft. Unter tatenlosem Grübeln vergingen ihm die Tage; sein Vermögen ging ihm verloren und obdachlos wanderte er im Wald umher.

Bald hörten die Leute aus den irren Reden des Unglücklichen die schaurige Begebenheit, und der Brunnen zu Anhalt wurde seit der Zeit noch ängstlicher gemieden als zuvor. Anfangs dieses Jahrhunderts wurde der Brunnen, der so verschüttet war, dass man ihn kaum auffinden konnte, ausgegraben. Von einem Schatz wurde nichts gefunden, wohl aber die Knochen eines menschlichen Gerippes.