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Das geheimnisvolle Haus

Das geheimnisvolle Haus
Eine Erzählung von Fredrik Wilhelm Scholander
Autorisierte Übertragung aus dem Schwedischen von Henny Bock-Neumann
Stuttgart und Leipzig. Deutsche Verlagsanstalt. 1905.

Ende der 40er Jahre befand ich mich auf einer Studienreise in Rom, wo sich, wie schon oft, ein lustiges Künstlervölkchen aus aller Herren Länder zusammengefunden hatte. Das gemeinsame Ziel, sich unter den mehr oder weniger übel duftenden Modellen der Kunststadt ein Ideal für Heiligenbilder, Engel, Madonnen, Banditen oder Tänzerinnen auszuwählen, verband uns alle zu einer einzigen Nation. Einen jungen Maler, dem ich öfter in der Campagna begegnet war, hatte ich aus der großen Künstlerschar ganz besonders lieb gewonnen. Er war auch Schwede und hieß Tolle Tham. Fröhlich und sorglos wie ein Kind lebte er meistenteils gar vergnüglich allein. Den ganzen Tag sang oder pfiff er fröhliche Lieder und malte dabei die ergötzlichsten Straßenszenen. In seiner freien Zeit durchstreifte er die entlegensten Stadtteile und machte dann oft Entdeckungen, die ihn in die hellste Begeisterung versetzten. Wir trafen uns fast regelmäßig abends um 8 Uhr in einem bestimmten Café. Dort pflegte er mir dann mit keckem Humor seine Abenteuer zu berichten. Eines Abends hatte er sich stark verspätet, schien sehr ermüdet zu sein und gab auffallend zerstreute Antworten auf alle meine Fragen. Aus verschiedenen Äußerungen entnahm ich, dass er ein neues Kuriosum entdeckt hatte. Er stand plötzlich auf und verabschiedete sich mit den Worten: »Ich komme gleich wieder.«

Er kam aber weder an diesem noch am nächsten Abend. Ich ging in seine mir wohlbekannte Wohnung und hörte dort von der Wirtin, dass er tags zuvor ausgezogen sei, ohne seine neue Adresse anzugeben.

Nach langen, eifrigen, vergeblichen Nachforschungen erfuhr ich endlich Folgendes: Während seiner Streifzüge hatte Tham ein Haus entdeckt, dessen architektonische Schönheit ihn umso mehr fesselte, da es in einer ganz entlegenen und sehr armseligen Straße stand. Die gegenüberliegenden Häuser hatten stets geschlossene Fenster und schienen unbewohnt zu sein. Als Tham das leere, gegenüberliegende Haus untersuchte, um einen besseren Standpunkt für seine Betrachtung zu gewinnen, gab die Haustür nach. Er trat neugierig ein, erstieg eine Treppe und konnte nun deutlich in die gegenüberliegenden Fenster blicken.

Hinter alten, kleinen, schmutzigen Fensterscheiben schimmerten kostbare seidene Vorhänge. Die Loggia war mit Blumen und Statuen herrlich geschmückt. Er stürmte die zweite Treppe hinauf und konnte nun alles ganz deutlich erkennen. In der zweiten Etage hing ein Zettel mit der Aufschrift Hier ist ein Atelier zu vermieten. Plötzlich erschien drüben in der Loggia eine schlanke Frauengestalt, die ihre Blicke wie forschend auf das Tham verbergende Fenster richtete. Dieses hatte dunkle Glasscheiben und war eben grell von der Sonne beleuchtet, sodass er wohl kaum zu sehen war.

Mit einer plötzlichen Bewegung riss er das Fenster auf und sah nun die strahlenden Augen einer jungen Frau so fest auf sich gerichtet, dass er zurücktaumelte, wie vom Blitz getroffen. Gedanken und Wille waren wie hypnotisiert.

Die Erscheinung war aber auch wunderbar eigenartig. Ein Gesicht, durchsichtig wie Wachs. Das volle, blauschwarze Haar, von einem lichtgelben Seidenband nur lose zusammengehalten, fiel in langen Wellen über den weißen Hals und die nackten Arme. Ein dunkles Gewand schmiegte sich in weichen Falten um die entzückende, graziöse Gestalt. Sonderbarerweise trug sie eine Lederschürze, was den eigenartigen Eindruck der ganzen Erscheinung noch vermehrte.

Er stand sofort im Bann dieser ihn magnetisierenden Augen, fühlte einen fast lähmenden Druck auf seine Nerven wirken. So standen beide eine Weile unbeweglich einander gegenüber, bis die Abenddämmerung hereinbrach und das Ave-Maria-Läuten über der ewigen Stadt erklang. Da wandte sich das Mädchen langsam um, durchschritt die Loggia und verschwand hinter einer sich vor ihr öffnenden Tür, während sie mit schmerzlichem Seufzer die Worte Addio, addio vor sich hinmurmelte. Wie aus ängstlichem Traum erwacht atmete Tham erleichtert auf.

Hinter ihm ertönte eine Stimme: »Ah, Signor, Sie wollen das Atelier mieten?« Ein altes, kleines Männchen mit abnorm dickem Schädel stand an seiner Seite, verbeugte sich tief, wies auf eine Tür und sagte: »La Contessa di Monti ist gerade zu sprechen.«

Er ließ sich sofort hineinführen und fand eine sehr liebenswürdige, alte Dame, der man es wohl anmerkte, dass nur widrige, harte Schicksalsschläge sie in diesen abgelegenen ärmlichen Teil Roms verschlagen hatten. Schnell wurde der Preis vereinbart und am folgenden Tag konnte Tham sein neues Quartier beziehen. Als er von der Gräfin fortging, stand er noch lange auf der Straße, um das geheimnisvolle Hans zu betrachten. Nichts rührte und regte sich darin. Da ging er ins Café, wo ich ihn zum letzten Mal in diesem Leben sah.

Als er am anderen Morgen in aller Herrgottsfrühe in seine neue Wohnung zog, war er sehr erstaunt, die Haustür offen zu finden.

Pietro, der alte Diener, stürzte atemlos herbei und rief: »Um aller Heiligen willen, Signor, Sie kommen schon so früh? Ich wollte gerade das Atelier reinigen. Es steht schon so lange leer. Vielleicht machen Sie noch einen Spaziergang, während ich alles in Ordnung bringe?«

Tham lehnte den Vorschlag ab, und Pietro schien ärgerlich und verlegen zu sein, nahm aber den Schlüssel und öffnete die Ateliertür. Sie traten in einen großen Raum, an dessen einer Seite sich ein durch Vorhänge abgeschlossener Alkoven befand. Zu dessen beiden Seiten war je eine Tür zu sehen. Man merkte deutlich, dass der frühere Bewohner die Wohnung in großer Eile verlassen hatte, denn überall lagen noch Malutensilien, Nippes und andere Kleinigkeiten umher. Auf einer Staffelei stand ein zur Wand gekehrtes Bild.

Pietro eilte schnell auf die eine Tür zu, verschloss sie und steckte den Schlüssel ein, ohne dass Tham es merkte. Nachdem er mit den Diener noch Näheres über die Verköstigung verabredet hatte, entließ er ihn, dann öffnete er sogleich das große Atelierfenster und atmete mit Entzücken die frische hereinströmende Morgenluft ein. Das andere Fenster war zugenagelt. Seine dunklen Glasscheiben waren fast undurchsichtig. Er entdeckte darauf einige mit einem Diamanten eingeritzte Worte in deutscher Sprache.

Warum ewig suchen und nimmer finden? Warum ohne Trost so bitter leiden müssen? Warum ewig bangen, hoffen, bis das Herz verblutet?

Wem galten wohl diese traurigen Zeilen? Sicherlich seinem schönen vis-a-vis. Er holte Werkzeug und öffnete das Fenster. Richtig, da lag das geheimnisvolle Haus, dessen schöne Loggia aber heute keinerlei Ausschmückung zeigte. Die Fenster waren mit Kreide undurchsichtig gemacht worden und die Haustür war fest geschlossen. Sinnend dachte er an das klagende Addio, addio der herrlichen Mädchenerscheinung und nahm sich vor, um jeden Preis das Geheimnis, das dort über allem zu schweben schien, zu ergründen.

Vorerst hatte er alle Hände voll zu tun, um das Atelier einigermaßen gemütlich und künstlerisch einzurichten. Als er seine Staffelei aufstellen wollte, fiel ihm die dort schon befindliche nochmals in die Augen. Er trat heran und fand zwei gegeneinander gelehnte Bilder. Das eine war eine Studie zur blumengeschmückten Loggia, das andere eine Zeichnung des zauberschönen Mädchenkopfes. Er stellte die Bilder an die Wand und ging an die Kommode. Diese enthielt eine Menge Malutensilien, die sich in großer Unordnung befanden. In der obersten Schublade fand er allerlei Schreibmaterial, in einer Ecke lagen einige zusammengefaltete Briefbogen. Sie zeigten dieselbe Handschrift, wie die Worte auf den Fensterscheiben.

Tham las folgende, in italienischer Sprache sehr fehlerhaft geschriebenen Sätze:

Angebetete Signora! Besitzen Sie denn kein Herz? Wie lange soll ich noch auf die Erfüllung des süßen Versprechens warten?

Weiter stand nichts auf dem Zettel, den Tham zu Boden warf.

Angebetete Signora! Die ganze lange Nacht durch habe ich Sie vergeblich erwartet! Der Mond stand am Himmel, ein kalter Zeuge meiner Qualen, kalt wie Ihre treulosen … Hier endete das zweite Blatt.

Ein Drittes enthielt die Worte:

Angebetete Signora! Nach allem, was geschehen ist, nach den unzweideutigen Beweisen Ihrer Gegenliebe, beeile ich mich hiermit den letzten, höchsten Ausdruck der …

Auch dieser Brief war unvollendet. An verschiedenen Änderungen und Streichungen erkannte man, dass es nur Brouillons waren, die hier lagen. Aber sie genügten zur Erkenntnis der Situation. Lodernde Liebesglut, Rendezvous, Unruhe, unerfüllte Versprechungen, Siegesjubel, Dankbarkeit!

Es war nicht schwer zu erraten, wem sie galten – dem schönen Mädchen, mit den strahlenden, trügerischen Augen.

Tham zerriss alles in kleine Fetzen und rief den alten Pietro.

»Sagen Sie mal, wer wohnt hier vis-a-vis?«

Der Diener sah ihn erstaunt an und fragte: »In dem Haus mit der Loggia? Da wohnt niemand!«

»Mensch!«, rief Tham aufgeregt, »lügen Sie doch nicht. Wer ist die schöne Signora, die manchmal auf der Loggia steht? Ich möchte es gern wissen, und es ist doch wohl kein Geheimnis?«

Pietro kam etwas näher und sagte ängstlich: »Ach, lieber Signor, kümmern Sie sich nur nicht um die Nachbarschaft. Das Eulennest ist unbewohnt und steht in sehr schlechtem Ruf. Wenn Sie sich darum kümmern, konnte es Ihnen am Ende schlecht ergehen!«

»Alter Narr, kennen Sie das Gesicht?« Tham zeigte ihm die Studie des Frauenkopfes.

Pietro schien ganz verwirrt: »Bei allen Heiligen … ich weiß nicht … ich kenne es nicht … woher kommt es?«

»Das Bild stand aber hier auf dieser Staffelei, und ich selber habe erst gestern auf der Loggia drüben das Original gesehen!«

»Ach, lieber Signor, nehmen Sie sich nur in Acht. Ich will Ihnen erzählen, wie es Ihrem Vorgänger, der hier vor zwei Jahren wohnte, ergangen ist. Er war ein so netter, ruhiger, solider, junger Mann, etwas melancholisch zwar, und hier ganz fremd. In den ersten Tagen saß er still auf dem Diwan und schien über etwas nachzugrübeln. Dann stellte er mir dieselbe Frage wie Sie und war auch ungehalten, dass ich armer Sünder keine Auskunft zu geben wusste. Er stand stundenlang unbeweglich am Fenster und starrte das verdammte Haus an. Dann peinigte er mich mit Bitten und Drohen, ihm dort Einlass zu verschaffen. Monate gingen dahin, und er blieb immer längere Zeit am Fenster stehen. Eines Abends bemerkte ich bei hellem Mondschein, dass er einen Brief in die Loggia schleuderte. In einer stillen Nacht weckte mich das Knarren der Haustür, ich trat schnell an mein Fenster und sah, wie der Maler hinausschlich und sich vergeblich bemühte die gegenüberliegende kleine Tür zu öffnen. Ach, dass ich das Haus vernichten könnte, es ist ein gottverfluchtes Haus! Es sollte der Erde gleich gemacht werden! Der Jüngling wurde immer stiller und bleicher und eines Morgens, als ich ihm sein Frühstück brachte, da war sein Zimmer leer und sein Bett war mit Blut bespritzt! Wir haben niemals erfahren, was aus dem Unglücklichen geworden ist. Aber sprechen Sie zu keiner Menschenseele davon, lieber Signor, ich habe es Ihnen nur zur Warnung erzählt, weil ich sehe, dass auch Sie sich für das vermaledeite Nest interessieren.«

Tham hoffte durch die Gräfin zu erfahren, was ihm der alte Schlaukopf Pietro etwa verschwieg. Er machte ihr am nächsten Tag seinen Besuch und erkannte in ihr die liebenswürdige, echte Aristokratin.

Sie gerieten sehr bald in eine lebhafte, angeregte Unterhaltung, in der Tham sich ganz unbefangen nach seiner Nachbarschaft und besonders nach seinem vis-a-vis erkundigte.

»Das Haus gehört dem berühmten Doktor Sabati,« sagte die Gräfin, »er ist der bedeutendste Arzt in Rom, aber natürlich bewohnt er das alte Nest nicht. Zuweilen schien es mir allerdings, dass nachts Wagen vor dem Haus hielten. Ich glaube, oft Wagengerassel zu hören, wenn ich aber meinen alten Pietro danach frage, macht er ein einfältiges Gesicht und meint, ich müsse es wohl geträumt haben.«

In diesem Moment öffnete Pietro die Tür und meldete: »Die Marchesa Moresatti und Signora Laura Sabati.«

Tham blickte gespannt auf die Kommenden, sah aber sogleich, dass Letztere nicht sein vis-a-vis war, denn sie hatte blaue Augen und rotblondes Haar.

Die alte Marchesa war sehr zuvorkommend gegen ihn und forderte ihn sogar beim Abschied auf, sie am Abend mit der alten Gräfin zu einer Soiree zu besuchen, was Tham mit Freuden annahm. Hoffte er doch durch die junge Signorina, die wohl mit dem Arzt verwandt war, etwas über sein interessantes vis-a-vis in Erfahrung zu bringen. Abends fuhr der altmodische, mit zwei wohlgepflegten Rappen bespannte Wagen der Gräfin vor. Der Kutscher in Livree, Pietro auf dem Bock, machten einen guten Eindruck.

Im Palazzo Moresatti hatte sich eine überaus glänzende Gesellschaft eingefunden. Es wurde viel musiziert, zuletzt sang Laura Sabati einige italienische Volkslieder. Sie hatte eine herrliche Stimme und einen ergreifenden Vortrag. Als sie aufhörte, erschallte eine tiefe Bassstimme: »Bravo, bravissimo, Signorina Laura!«

Eine allgemeine Bewegung entstand und alle drängten zum Eingang, um den berühmten Dr. Sabati zu begrüßen. Dieser war ein alter, hochgewachsener Herr, mit Glatze und weißem Vollbart. Seine stahlgrauen Augen blitzten hinter goldenen Brillengläsern, er war sehr lebhaft und redselig und unterbrach seine Worte oft durch ein kurzes heiseres, unmotiviertes Lachen. Seine Kleidung war fast antesuvianisch unmodern und er machte einen unheimlichen Eindruck. An seiner goldenen, dicken Uhrkette hing ein unförmig großer, aus Elfenbein geschnitzter Totenkopf, den seine weiße Hand in steter Bewegung erhielt.

Als Tham ihm vorgestellt wurde, und die Gräfin ihm sagte, dass er quasi sein Nachbar sei, flogen Sabatis Blicke mit seltsamem Ausdruck über ihn hin. Er stieß ein kurzes, unheimliches Lachen aus, indem er tief bedauerte, seine Nachbarschaft so gar nicht genießen zu können. Dabei ergriff er Thams Hand mit so festem eisernem Griff, dass dieser kaum einen Schmerzenslaut zu unterdrücken vermochte. Da er aber von Jugend auf ein gewandter Turner war, verstand er es, sich mit schnellem Griff und mit einem Ruck zu befreien.

Dr. Sabati schoss das Blut in die Schläfen. Er sagte aber nur: »Bravo, Signor Tham, man merkt, dass Sie ein Nordländer sind. Es steckt eine große Kraft in ihnen allen.«

Als Tham endlich in Laura Sabatis Nähe gelangte, sprach er ihr seine ehrliche Bewunderung über ihren herrlichen Gesang aus.

»Ach, was kann ich denn leisten,« sagte sie bescheiden, »da hätten Sie meine Cousine und Lehrerin Beatrice Sabati hören müssen, die Tochter meines Oheims Dr. Sabati. Die Ärmste ist in der Blüte ihrer Jugend an der Malaria gestorben, sie war nur wenige Stunden krank. Vor vier Jahren bewohnte sie mit ihrem Vater eine Villa im Albaner Gebirge. Sie konnte der Ansteckungsgefahr wegen nicht einmal nach Rom transportiert werden, man musste sie dort sofort begraben. Sie war so schön, gut und begabt, und meine beste, liebste Freundin. Hier ist ihr Bild.«

Sie öffnete ein Medaillon, aus dem ein entzückendes, feines Gesichtchen den Beschauer anlächelte.

Tham erkannte sofort sein vis-a-vis.

Da ertönten die Walzerklänge aus dem Ballsaal, und Conte L. holte Laura zum Tanz. Tham war tief bewegt und trug kein Verlangen danach, zu tanzen. Er ging in ein Nebenzimmer, wo er den alten Dr. Sabati im Kreise vieler Bewunderer sitzen sah.

Er schien einen Vortrag zu halten und sprach: »Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen nur die Versicherung geben, dass der Tod eine Kleinigkeit ist, wenn man erst dahinter kommt, was es eigentlich für eine Bewandtnis damit hat. Per bacco! Bisher hat der Mensch sich dem Sensenmann unbedingt ergeben müssen, aber nun geht seine Macht zu Ende. Was würden Sie dazu sagen, meine Freunde, wenn der Lebensfaden sich zweifach, ja dreifach verlängern ließe?«

»Aber ich stehe hier untätig und bin doch mit Arbeit überbürdet,« unterbrach er sich, »verzeihen Sie meine Herrschaften, arrivederci!«

Seine Zuhörer sahen ihm begeistert nach. Man sprach von seiner Arbeitskraft, seiner Weisheit, seinem Genie.

Tham hatte mit Interesse zugehört. Nach dem Abgang des berühmten Arztes kam es ihm sehr gelegen, dass die Gräfin ihn aufforderte, mit ihr die Gesellschaft zu verlassen. Im Atelier angelangt, dachte er unablässig an die schöne Mädchenerscheinung und nahm sich fest vor, hinter das um sie schwebende Geheimnis zu kommen. Er fiel in einen festen, tiefen Schlaf.

Dr. Sabatis Ansicht über das Besiegen des Todes schien, was seine eigene Persönlichkeit anlangte, kein leerer Wahn zu sein, denn seine Lebenskraft war schier unerschöpflich und er hatte bereits ein ungewöhnlich hohes Alter erreicht. Die ältesten Leute erinnerten sich, dass er in ihrer Jugend der bedeutendste Chirurg Roms gewesen war. Als Anatom genoss er den Ruf einer ersten Autorität, und in ganz Europa galt er als ein Genie ersten Ranges. Seine Praxis hatte er allmählich aufgegeben, um sich ganz wissenschaftlichen Studien und Experimenten zu widmen, deren Zweck niemand ahnte. Wenn er ab und zu manchen seine ärztliche Hilfe angedeihen ließ, so überließ er das Honorar den Armen. Insgeheim nannte man ihn den Totendoktor, denn er kam erst, wenn der Patient schon mit dem Tode rang. Aber auch in allerlei Liebesaffären, der in moralischer Hinsicht so wenig empfindlichen römischen Aristokratie schien er eine Rolle zu spielen. Man flüsterte seinen Namen in aller Heimlichkeit, aber gerade diese geheime Wirksamkeit füllte seine Kassen mit unermesslichen Reichtümern. Man wusste wohl, dass dabei nicht alles auf richtige und erlaubte Weise zuging, aber niemand dachte daran, ihn zu verklagen oder ihn auch nur aus seiner gesellschaftlichen Stellung zu verdrängen. In seiner Jugend hatte er sich verheiratet, aber seine junge, schöne, geistvolle Gattin starb, als sie Beatrice das Leben schenkte. Man munkelte damals, er habe sie rücksichtslos und brutal behandelt. Allmählich verstummten diese Gerüchte, und man sprach nur noch davon, dass er sein einziges Kind sehr sorgsam erziehe und in allen Zweigen der Wissenschaft selbst unterrichte. Dieses schöne, der Mutter sehr ähnliche Kind durfte nur mit seiner Cousine Laura verkehren, sonst mit niemandem mehr. Des Doktors geheimnisvolles Treiben fiel in Beatrices erste Kindheit. Als sie 12 Jahre alt war, dachte niemand mehr daran.

Eines Tages kam Dr. Sabati von seinem Sommeraufenthalt allein zurück. Er schien halb wahnsinnig vor Schmerz zu sein und erzählte, dass ihm seine blühende Beatrice plötzlich gestorben sei. Sie war kaum 19 Jahre alt geworden. Der trauernde Vater zog sich ganz in die Einsamkeit zurück. Als er nach langer Zeit wieder in Gesellschaften ging, vermied man es rücksichtsvoll und zartfühlend, mit ihm über seinen schweren Verlust zu sprechen.

Dr. Sabati besaß einen Palast am Corso, ein Haus am Tiber und ein Landgut. So oft er längere Zeit von Rom abwesend war, hieß es, er sei auf seinem Gut.

Bekanntlich grassiert die Malaria oft verheerend in den ärmlicheren Stadtteilen Roms. Die kleine Straße am Tiber, in der Tham nun wohnte, wurde besonders oft und schwer davon heimgesucht. Ganz auffallend nahmen die Todesfälle entsetzlich zu, seit Dr. Sabati dort Hausbesitzer geworden war.

In diesem Viertel befand sich eine Ordensgemeinschaft, die sich Brüder der Nächstenliebe nannte. Diese Ordensbrüder untersuchten jeden Einzelfall, trugen die Beerdigungskosten und nahmen sich der Hinterbliebenen an. Es trug vielleicht zum Eifer der Ordensbrüder bei, dass der große Dr. Sabati sich für die Armen lebhaft interessierte und sie freigebig mit Medizin und guten Nahrungsmitteln unterstützte.

Die Brüder trugen lange, schwarze Mäntel mit Kappen, die Kopf und Gesicht verhüllten. Wie schwarze Schatten schlichen sie einher. Sobald jemand im Sterben lag, kam einer von ihnen, setzte sich an das Krankenbett und murmelte die Sterbegebete. Nach dem Verscheiden des Kranken steckte er einige Kerzen an und entfernte sich. Sobald die Dunkelheit hereinbrach, brachten andere Brüder den Sarg und ein Leinentuch, in das der Tote eingehüllt und auf einer Bahre fortgeschafft wurde. Weder Seelenmessen noch andere Zeremonien wurden abgehalten, auch war es nicht Sitte, dass die Leidtragenden mitgingen. Wusste man doch, dass all diese Opfer der Malaria in ein großes gemeinsames Grab bei San Lorenzo gebettet wurden. Die Malaria forderte schließlich so grauenhaft viele Opfer, dass die übriggebliebenen Bewohner der Rionstraße doch vorzogen, ihr elendes Dasein anderswo zu fristen, um wenigstens bessere Luft atmen zu können. So wurde die Straße immer öder und leerer. Dennoch schienen die Brüder der Nächstenliebe ein gewisses Interesse für die Stätte ihres früheren Wirkungskreises behalten zu haben. Man konnte sie in mondhellen Nächten dort umherschleichen sehen. Wäre es einem nächtlichen Wanderer eingefallen, in dunkler Nacht, wenn alles in undurchdringliche Finsternis gehüllt war, die Rionstraße zu betreten, so hätte er gespensterhafte Gestalten, mit schwerer Bürde beladen, beobachten können, die ab und zu des Doktor Sabati Haus betraten oder verließen. Die römische Polizei war zu damaliger Zeit so unzuverlässig, dass sich mancherlei abspielen konnte, wovon niemand etwas erfuhr.

Die alte Gräfin Monti bewohnte die zur anderen Seite gelegenen Räume des Hauses, denn die Seite, in der sich das Atelier befand, war sehr verfallen. Nur von diesem und von zwei kleinen Kellerfenstern aus konnte man Dr. Sabatis Haus betrachten.

Nachdem Tham Dr. Sabati kennen gelernt hatte, war er fest überzeugt, dass es sowohl in seinem Leben als auch in dem alten Haus nicht mit richtigen Dingen zuging. Aber wie sollte er hinter das Geheimnis kommen? Die greise Gräfin wusste absolut nichts Bestimmtes, nur der alte Schlaukopf Pietro konnte ihm Aufschluss geben. Und dieser vermochte oder wollte es aus irgendwelchen Gründen nicht tun. Also hieß es, selber forschen, spähen, beobachten!

Er begann gleich am nächsten Abend seine Absicht auszuführen.

Pietro hatte ihm sein Abendbrot gebracht und ihn mit seinem gewöhnlichen felicissima notte verlassen. Tham verschloss vorsichtshalber die Tür und setzte sich an sein offenes Fenster. Er saß stundenlang, ohne irgendetwas Verdächtiges zu bemerken, bis ihn die Müdigkeit überwältigte und er auf seinem Stuhl bis zum hellen Morgen fest schlief. Er holte noch am Tage die verlorene Nachtruhe ein, um in der zweiten Nacht besser wachen zu können.

In dieser Nacht sah er Folgendes: Kurz vor Mitternacht erschien eine große, dunkle Gestalt in der Tracht der Brüder der Nächstenliebe. Sie huschte lautlos die Straße entlang und blieb vor Dr. Sabatis Haustür stehen, spähte zu der Gräfin Monti Wohnhaus hinüber und verschwand. Ein schwacher Lichtstrahl flammte auf, erlosch aber in demselben Moment. Ein Schlüssel wurde vorsichtig umgedreht, und aus dem Haus der Gräfin trat eine Gestalt, auch in Brüdertracht. Trotz der Vermummung erkannte Tham sofort den Diener der Gräfin, der die Straße vorsichtig überschritt, nachdem er sich vergewissert hatte, dass das Atelier dunkel sei, die Haustür des geheimnisvollen Hauses aufschloss und in ihr stehen blieb. Ein Wagen kam aus der Ferne herangerasselt. Nach einiger Zeit erschienen mehrere Brüder mit einer schweren Last, die sie ohne ein Wort zu wechseln an Pietro vorübertrugen. Bald darauf kamen sie wieder, eine Last tragend, gingen fort, und Pietro verschloss die Tür.

Nach einigen Schritten sagte einer der Träger: »Mach doch schnell, ich kann es kaum noch aushalten, es ist zu schwer.« Eine heisere Stimme antwortete: »Halt’s Maul und greif zu! Glaubst du, dass man Rosen nach San Lorenzo trägt?«

Sie verschwanden in pechschwarzer Nacht. Wieder ertönte das Wagengerassel, bis allmählich alles verstummte.

Tham, der vom langen Sitzen ganz steif geworden war, wollte sich nun recht behaglich ausstrecken, da hörte er plötzlich wieder schwere, ungleichmäßige Schritte, dazwischen das unterdrückte Miauen einer Katze. Er spähte hinaus, konnte aber in der tiefen Dunkelheit nichts erkennen. Er hörte nur auf eine anscheinend aus dem Haus des Doktors kommende Frage folgende Antwort.

»Es ist Francesco … wir haben etwas ganz Besonderes … auf Bestellung.« Dann wieder eine geflüsterte Frage und: »Nein, wir fanden ihn beim Vorbeifahren. Er muss eben erstochen worden sein, denn der Körper ist noch ganz warm. Man sieht keine Blutflecken, das Messer steckt in der Wunde. Mach schnell auf!«

Die Tür wurde geöffnet und eine dröhnende Bassstimme erklang vernehmlich: »Pietro bezahle! Ich werde euch selber helfen, den Kadaver hinaufzutragen. Kommt!«

Nach einer Weile entfernten sich die Träger. Hinter den Vorhängen der ersten Etage sah man einen Lichtschein sich hin und her bewegen, aber alles blieb totenstill.

Im Morgengrauen schlich Pietro über die Straße, nachdem er zu einer nicht sichtbaren Person die Worte gesprochen hatte: »Seien Sie nur ganz unbesorgt. Er hat alles vergessen. Übrigens halte ich meine Augen offen und werde während Ihrer Abwesenheit schon nach dem Rechten sehen.«

»Ja«, sprach der dröhnende Bass, »pass um Gotteswillen gut auf. Sollte Beatrice wieder auf ihre Gartenfantasien mit der Loggia verfallen, so gib keinesfalls nach. Das darf nie wieder vorkommen. Wenn es irgend möglich ist, bin ich übermorgen zurück, bis dahin ist noch genug mit dem Facchino zu tun.«

Tham hörte Pietro unten ins Haus treten, dann den Fall eines schweren Gegenstandes im Souterrain und schließlich Pietros knarrende Zimmertür.

Am nächsten Morgen brachte Pietro einen Gruß von der alten Gräfin und die Aufforderung, sie nach der Villa B. zu begleiten. Er würde dort dieselben Gäste wie bei der Marchesa M. sehen. Tham, der sich innerlich schon einen festen Plan gemacht hatte, antwortete nur mit einem tiefen Stöhnen.

»Sind Sie leidend, Signor Tham?«

»Ja, lieber Pietro, ich bin so elend, dass ich kaum aus den Augen sehen kann. Ich vermag heute nicht aufzustehen.«

»Ach, lieber Signor Tham, ich bin auch krank und habe die ganze Nacht so gefiebert, dass ich mich kaum auf den alten Beinen halten kann. Aber unsereiner hat ja keine Zeit, krank zu sein. Diese verdammte Einladung! Wie soll ich nun die Pferde beschaffen? Denn Sie müssen wissen, dass ich immer die Leichenpferde der Brüder der Nächstenliebe bekomme, ohne dass die Gräfin eine Ahnung davon hat. Der Kutscher ist auch ein Bruder.«

»Lieber Pietro, ich muss große Ruhe haben, dann kann der Migräneanfall wohl in 10 bis 12 Stunden vorübergehen, aber ich muss ganz still liegen.«

Die alte Gräfin war sehr beunruhigt und kam, um sich persönlich nach Thams Befinden zu erkundigen. Er stellte sich aber schlafend und atmete tief und ruhig.

»Es wird eine Krankheit sein, von der die Fremden hier oft befallen werden, und die wir nicht kennen. Da er aber so gut und fest schläft, kann es wohl nichts Schlimmes sein. Lass anspannen, Pietro, in einer Stunde muss ich fahren.«

Pietro widersprach nicht, aber er verließ nur ungern seinen Aufpasserposten und war auch todmüde von der schlaflosen Nacht. Er stellte frisches Wasser für Tham hin und verschloss die Haustür doppelt, ehe er mit der Gräfin abfuhr.

Jetzt war die Zeit zu Forschungen für Tham günstig. Er stand schnell auf und begab sich zu dem Souterrain. Der Eingang war aber mit Schloss und Riegel fest verrammelt. Er versuchte mit seinem eigenen Schlüssel Pietros Zimmer zu öffnen. Es ging nicht. Da fiel ihm ein, dass vielleicht einer der Schlüssel von den Alkoventüren passen könnte. Er öffnete aus Neugier die hintere Alkoventür und erblickte eine Holztreppe, die rotbraune Blutspritzer zeigte.

Tham dachte an Pietros Erzählung von seinem Vorgänger und konnte sich eines unheimlichen Gefühls nicht erwehren. Über diese Treppe konnte man zum Souterrain gelangen, in dem er eine Menge alten Gerümpels aufgestapelt sah. Die schwarze Ordensbrudertracht hing an der Wand. Auf dem Fußboden standen mehrere gehobelte, schwarz angestrichene Kisten. Als er diese zur Seite schob, entdeckte er einen großen Schlüssel, wahrscheinlich denselben, dessen schweren Fall er in der Nacht gehört hatte.

Er stieg durch ein niedriges Fenster und schloss mit einiger Mühe das geheimnisvolle Haus auf. Hier betrat er das Vestibül, des sein Licht teilweise durch Arkaden vom Hof aus empfing. Eine verpestete Luft schlug ihm entgegen. An der Wand stand eine schwarze Kiste, ähnlich denjenigen, die er bei Pietro entdeckt hatte.

Tham trat durch eine Arkade auf den Hof, um etwas frische Luft zu schöpfen, aber auch dort herrschte diese verpestete Luft, die aus kleinen Tonnen und Wannen zu strömen schien. Einige Waschleinen waren durch den Hof gezogen, auf denen braungefleckte Handtücher und Lappen hingen. Auf einer Steinbank lagen einige abgeschabte Totenschädel.

Das Ganze machte einen überaus widerlichen Eindruck. Hätte Tham als Maler nicht schon genügend anatomische Studien gemacht, sein Grausen auch nun überwinden zu können und hätte vor allem die Sehnsucht nach der schönen Unbekannten ihn nicht gefesselt, er wäre sicher davongelaufen. Nun löste sich ihm allmählich das Geheimnis auf und er erkannte die verborgene Werkstatt des berühmten Anatomen.

Um sein Ziel zu erreichen, musste er aber weiter eindringen. So betrat er eine mit Blutflecken bespritzte Treppe und gelangte in ein großes Zimmer, dessen mit Seidenportieren verhängte Fenster er von seinem Atelier aus gesehen hatte. In der Mitte dieses Zimmers stand ein großer, langer Tisch, auf dem allerlei Glaszylinder und anatomische Instrumente lagen. An den Wänden befanden sich mächtige Bücherregale. Elektrische Maschinen und allerlei Apparate standen umher. Auch hier war die Luft verpestet.

Tham öffnete eine Tür und betrat ein kleines, sehr elegant eingerichtetes Boudoir. Ein schöner alter Teppich bedeckte den ganzen Fußboden. Der Schreibtisch, der elegante Diwan und eine wundervolle Hängelampe erfreuten sein Malerauge. Die Zimmerdecke zeigte Malereien des Cinquecento, aber auch hier sah alles schmutzig und unordentlich aus. Eine Galerie führte aus diesem Zimmer in den Hof hinaus. Regale an den Wänden trugen eine Menge Töpfe und etikettierter Flaschen. Die Zettel gaben Aufschluss über die Altersstufen verschiedener Menschen. In der Mitte der Galerie stand ein Tisch mit einer tiefen Rinne, die in ein Abflussrohr, das durch den Fußboden ging, geleitet war.

Auf diesem Tisch lag die ausgemergelte Leiche einer Frau in mittleren Jahren. Der Schädel war durchsägt und das Gehirn in ein Steingefäß abgelaufen. Daneben stand ein Mikroskop und an der andern Seite lag kopfüber eine am Rückgrat zerstückelte Männerleiche.

Während Tham alle diese Details betrachtete, vernahm er plötzlich den Gesang einer prachtvollen Altstimme mit Klavierbegleitung.

Er folgte dem Schall der Töne und trat in ein großes Laboratorium mit vielen Öfen und einem mächtigen Kochherd.

Vor diesem saß eine alte halb bekleidete Frau und kochte in allerlei Gefäßen unerkennbare Dinge. Eine Reihe mit fertig etikettierten Glasflaschen stand auf einem Nebentisch. Die Alte schien taub zu sein. Sie hatte Thams Kommen gar nicht bemerkt. Er schlich vorsichtig hinaus, um die Sängerin zu finden. Er wusste nun, dass es die totgeglaubte Beatrice sein müsse.

Eine zweite Treppe ersteigend, kam er in eine Loggia. Es war aber nicht diejenige, die er schon kannte. Von der schlechten Luft war hier nichts zu merken, denn eine große Menge von Blumentöpfen verbreitete betäubende Düfte, eine leise plätschernde Fontäne verbreitete erfrischende Kühle.

Der Gesang ertönte immer näher. Ein zu wildestem Crescendo sich steigernder Saltarello.

Endlich betrat er das große Gemach. Wie versteinert blieb er vor der darin herrschenden Unordnung stehen. In den Ecken standen riesengroße Leuchter, an den Wänden schwellende Diwans, überall lagen kleine Nippes, Bücher, polierte Totenschädel, Schreibzeuge und eine Menge beschriebener Briefbogen, Majolikavasen, physikalische und Musikinstrumente — ein Wirrwarr von allerlei Dingen. Inmitten des Zimmers stand ein großer Sessel, auf dem ein Facchino saß. Er trug die gebräuchliche Kleidung, braune Samtjacke, schwarze Kniehosen und eine rote Weste, die ebenso wie sein Hemd auf der Brust aufgerissen war. Das dicke, lockige Haar war an den Schläfen weggeschnitten, an diesen, an den Wangen und Halsmuskeln, wie auch in der Herzgrube waren kleine, plattenförmige Apparate angebracht, die durch eigenartige Fäden mit einem Schrank in Verbindung standen. An der linken Halsseite dicht am Schlüsselbein befand sich ein grünes Pflaster, und von hier aus, von den Pulsadern der groben Hände und der entblößten Beine führten rotseiden besponnene Fäden zu demselben Schrank. Die Augen des Mannes rollten unheimlich, sein Mund war in rastloser Bewegung, zuweilen riss er ihn auf, als wolle er die eigene Kinnlade zersprengen, dann schloss er ihn wieder so heftig, dass die Zähne knirschten. Er zog ihn schief nach einer Seide und lachte unnatürlich. Hände und Füße bewegten sich und das totenblasse Gesicht nickte dazu.

Die Sängerin am Klavier sang mit wilder Lust zu dem rasenden Takt des Saltarello folgende Worte:

Hüpfe Junge, tanze, blinzle froh.
Hoppla! Viele tausend Küsse,
Schenk ich dir in dieser Nacht!
Für die Mühe, die du hast!
Tanze doch, mein guter Junge,
Habe selber dich befreit
Von des Todes schwerem Banne
Schenke dir viel tausend Küsse!

Nach mehrmaliger Wiederholung dieser Worte, sprang sie in höchster Ekstase auf, eilte zu der Leiche, die sie leidenschaftlich umarmte und küsste, sodass sie über die Stuhllehne zurückfiel. Darüber brach sie in stürmisches Gelächter aus und versuchte die in Unordnung geratenen Fäden zu entwirren.

Da erblickten ihre lächelnden, funkelnden Augen Thams entsetztes Gesicht. Sie richtete sich hoch auf, streckte die Arme empor und sah ihn mit demselben eigentümlichen Ausdruck an, der ihn gleich beim ersten Mal ganz in ihre Gewalt gegeben hatte.

Er stand wie gebannt, während sie sich ihm leise und schleichend näherte und die unnatürlich erweiterten, schwarzen Pupillen fest in seine Augen zu bohren schien.

Ihre Wachstuchschürze war mit Blut bespritzt.

Als sie nahe bei ihm stand, flüsterte sie eilig mit den hingebenden Tönen der Liebe:

»O, ich wusste, dass du kommen würdest und deshalb habe ich nicht nachgegeben. Ich habe von dir geträumt, und sie wollten mich betrügen, erst der Alte.« Sie sah sich scheu um. »Er ist ja doch mein Vater, wenn ich auch gestorben bin, und dann der Verbrecher hier gegenüber, der sich den Hals durchschnitt. Welche schöne, neue Entdeckung habe ich mit seinem Gehirn gemacht! Ich fand die Stelle, wo der Wahnsinn saß! Es war aber nicht möglich, ihn wieder zu beleben. Wir hatten auch damals noch nicht den richtigen Weg gefunden. Nun wird es aber gelingen, und ich habe die Entdeckung gemacht. Nun weiß ich es genau, mein Geliebter, meine Seele!«

Dabei schlang sie den Arm fest um Thams Hals und erstickte ihn fast mit ihren Küssen. Die schwellenden roten Lippen waren aber kalt wie Eis. Tham stand wie in einem Zauberbann.

»Geliebter, du musst nun sterben, aber ich selber werde dich nach den Regeln der Kunst töten, dich küssen, während dein Leben entflieht. Dann werde ich dich erwecken und dann legen wir beide diesen Dr. Sabati – uh, hu, wenn du wüsstest, wie schrecklich der Mensch ist, – in eine von seinen schwarzen Kisten. Aber ihn wecken wir niemals mehr auf!«

Beatrice hatte ihn, ihn immer fester ans Herz drückend, mit der Kraft des Wahnsinns bis zum Klavier gezogen. Dort ergriff sie mit katzenartiger Geschwindigkeit ein langes Messer, um es ihm in den Rücken zu stoßen.

Tham merkte ihr Vorhaben und legte seine linke Hand um den Oberarm der Wahnsinnigen, sodass das Messer nur leicht seine Schulter streifte.

Aber nun hieß es, das Leben zu retten. Er machte eine gewaltsame Bewegung und schleuderte die leichte Gestalt so heftig fort, dass sie über die Leiche des Facchino fiel. Das Messer hatte sie krampfhaft festgehalten. Da sie vornüber stolperte, drang es in ihre Brust und durchbohrte das Herz. Sie seufzte tief auf, sandte ihrem unfreiwilligen Mörder einen vorwurfsvollen Blick zu, in dem der Wahnsinn ganz erloschen schien, und dann lag sie ganz still.

Tham war wie vernichtet. Aber im Selbsterhaltungstrieb schlich er mechanisch aus dem Hause, verschloss die Haustür, legte den Schlüssel wieder hinter die Kisten und ging zu Bett. Der Schlaf floh ihn, aber seine kräftige Natur hielt ihn aufrecht. Hier war nichts mehr zu tun, aber fortziehen musste er sobald wie möglich.

Die Zeit schlich langsam hin. Endlich hörte er den Wagen der Gräfin kommen. Große Schweißtropfen perlten auf Thams Stirn. Die alte Gräfin und Pietro kamen, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Er bat nur um Ruhe, und so gingen sie fort.

Die Dämmerung brach herein. Er lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit aus jedes kleinste Geräusch. Da hörte er, wie Dr. Sabatis Haustür geöffnet wurde, bald darauf schleichende Schritte auf der Treppe.

Man pochte an Pietros Tür. Er öffnete und Tham hörte ein leises Jesus Maria.

Dann wurde die Ateliertür leise geöffnet und Pietro fragte: »Schlafen Sie, Signor Tham?«

Als keine Antwort erfolgte, ging er, und man hörte seine eiligen Schritte auf der Straße.

Tham verfiel endlich in einen dumpfen Schlaf mit beängstigenden Träumen. Am nächsten Morgen kam Pietro wie gewöhnlich, sah aber ganz verstört aus. Er bemühte sich unbefangen nach des Malers Befinden zu fragen. Tham war erstaunt, dass der Diener nichts verriet, verstand aber sofort, dass das Geschehene auch ein Geheimnis bleiben sollte, wie alles andere, was des Doktors Haus betraf.

Tham ging zu der Gräfin, der er erklärte, dass er die Luft der Rionstraße doch wohl nicht vertragen könnte, wie sein letzter kurzer Fieberanfall beweise. Dieser könnte sich zu leicht erneuern und der alten Dame womöglich die Last eines Kranken aufbürden. Pietro schien sehr zufrieden mit seinem Entschluss zu sein, da er noch immer sein Interesse für die Nachbarschaft fürchtete.

Tham ging auf Reisen. Aber die Erinnerung an Beatrice und ihr schreckliches Ende ließ ihm keine Ruhe. Er malte das Haus mit der Loggia und der holden Mädchengestalt, wie er sie zuerst erblickt hatte. Vor diesem Bild konnte er dann tagelang nachsinnend und untätig stehen.

Nach mehreren Jahren wurde ein schwedischer Maler, der in Rom lebte, aufgefordert, in ein Krankenhaus zu kommen, wo ein Landsmann in heftigem Fieber lag, immer von dem Wunsche beseelt, noch vor seinem Tod einen Landsmann zu sprechen.

In einigen lichten Augenblicken erzählte er dem Fremden die niemals aufgeklärte Geschichte des geheimnisvollen Hauses von Dr. Sabati.