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Eine Räuberfamilie – Zehntes Kapitel

Emilie Heinrichs
Eine Räuberfamilie
Erzählung der Neuzeit nach wahren Tatsachen
Verlag von A. Sacco Nachfolger, Berlin, 1867
Zehntes Kapitel

Agnes-Fidelio

Baron von Waldau hatte mit seinem reizenden Begleiter Fidelio Neapel erreicht und den Gasthof, auf welchen Georgs Adresse lautete, aufgesucht.

Die Freude des treuen Burschen war grenzenlos. Er weinte und lachte in einem Atem und es währte lange, bevor er imstande war, eine ziemlich klare, vernünftige Erzählung des Geschehenen zu geben.

Der alte Baron saß eine Zeitlang, als Georg geendet hatte, in tiefen Gedanken verloren da. Endlich sprach er entschlossen: »Wir fahren oder reiten heute Abend nach Pompeji, um die Räuber zu erwarten. Ich werde mich in einiger Entfernung mit dem Geld und den Pferden verborgen halten, und wenn sie Leonhardt nicht mitgebracht haben, dann sagst du, dass am nächsten Tag die Auslösung vor sich gehen könne.«

Auf Fidelios, wie wir Agnes während ihres Aufenthalts in Italien fortan nennen wollen, Bitte, sie mitzunehmen, ließ sich der alte Herr durchaus nicht ein, doch durfte sie ihn mit zu dem Bankier begleiten, um das Geld für den Wechsel zu heben, da die Räuber, wie er das sehr wohl wusste, kein Papier respektieren, sondern alles in klingendem Gold verlangen und sogar in den meisten Fällen ihre Frechheit so weit treiben, dass sie niedliche Goldwaagen mitbringen, um die Münzen in aller Gemütsruhe erst wiegen zu können und die leichten zurückzuschieben.

O, das Räubertum steht in dem Land der Zitronen und der Pfaffen noch in höchster Blüte, denn noch heute, wie vor fünfzig Jahren, werden friedliche Reisende überfallen, geplündert und grausam gemordet, wie auch die gegenwärtige Erzählung auf strenger Wahrheit beruht.

Einen Teil des Tages benutzte Waldau mit Fidelio, um Neapel, die himmlische Stadt, zu besichtigen und sich an den blauen Fluten des Golfes, wo die Natur ihr ganzes Füllhorn von Schönheit ausgegossen hatte, zu begeistern.

Wie berauscht von dieser südlichen Luft kehrte Agnes-Fidelio mit dem Baron und Georg ins Hotel zurück. Nun war es höchste Zeit, Neapel zu verlassen, um zur Mitternacht Pompeji zu erreichen.

Waldau beschloss nach reiflichem Nachdenken, einen Wagen zu nehmen und den kleinen Koffer mit dem Lösegeld so versteckt wie möglich mitzuführen.

Zuerst geriet er auf den Gedanken, die Polizei davon zu benachrichtigen und vielleicht einen der Räuberanführer zu fangen, doch gab er diese Idee nach kurzem Besinnen wieder auf. Er hatte dann keine Aussicht, Leonhardt jemals wiederzusehen, da die Räuber überall ihre Spione und Vorposten haben und die Sbirren und Soldaten auf eine Meile weit wittern.

Noch einmal bat Fidelio mit bewegter Stimme, den alten Herrn auf dem gefahrvollen Weg begleiten zu dürfen. Es half nichts, er war unerbittlich, sie musste daheim bleiben und ihm zum Überfluss noch das Versprechen geben, das Hotel nicht zu verlassen.

Als der Baron mit Georg weggefahren war, hatte ihre Unruhe den höchsten Grad erreicht. Es war ihr, als sei sie plötzlich gänzlich verlassen und stände einsam in der Fremde, ohne Freund und Schutz.

So mochte eine Stunde vergangen sein, als der Wirt zu ihr eintrat und im gebrochenen Deutsch ihr meldete, dass ein Diener des Signor Marchese Cantonelli, des reichsten und vornehmsten Herrn von Neapel, den jungen Signor zu sprechen wünsche.

»Ich bin der Einzige hier, der Deutsch versteht«, beteuerte der kleine bewegliche Italiener mit feierlichem Ernst, »erlaubt der Signor deshalb, dass ich dolmetsche. Der Diener versteht kein einzig Wörtlein.«

Fidelio schüttelte verwundert den Kopf, dann fiel ihr plötzlich der Name des Marchese ein, den sie in Georgs Brief zufällig gelesen hatte. Lebhaft rief sie:

»Lassen Sie den Diener hereinkommen, mein Herr! Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Dolmetscherdienste, da ich das Italienische weder spreche noch verstehe.«

Marco, unser alter Brigantenfreund aus dem Palast Cantonelli, trat ein und schaute den jungen fremden Herrn verwundert an.

»Das ist nicht der richtige Signor«, sagte er kopfschüttelnd, »ich suche den Signor Leonardi oder seinen Diener Corso.«

»Ich bin des Signor Leonhardts Bruder«, versetzte Fidelio rasch. »Georg ist mit dem Vater ausgefahren, um den von Räubern entführten Bruder zu suchen. Wir sind deshalb hierher nach Neapel gekommen.«

Der Wirt hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört, und dann die Hände mit der Miene des Zorns geballt, als von der Entführung die Rede war, worauf er dem horchenden Marco die Worte ziemlich getreu übersetzte.

»Ah, der Signor Bruder vom Signor Leonardi«, rief Marco erstaunt, »Signorina Marchesa Cantonelli, meine gnädige Gebieterin, wünschte den Herrn oder Diener zu sprechen, da wird sie auch mit dem Bruder des Signor Leonardi vorlieb nehmen. Will der junge Signor die Gnade haben, mir zur Signorina Marchesa zu folgen?«

Agnes-Fidelio besann sich einen Augenblick. Zwar hatte sie dem Baron das Versprechen gegeben, das Hotel nicht zu verlassen, doch musste ein so ungewöhnlicher Zwischenfall wohl die Ausnahme entschuldigen. War sie doch auch im Grunde, wie sie sich heimlich sagen musste, nur Leonhardts halber, um ihn zu retten, aus Räuberhänden zu befreien, nach Neapel gekommen, hatte nur für ihn die gefahrvolle Reise so allein unternommen, für ihn, der seit ihrer Kindheit das unbewusste Idol ihrer Träume gewesen war.

»Ich gehe zur Signorina Marchesa!«, sagte sie entschlossen, indem sie die leichte Studentenmütze ergriff und dem Diener folgte.

Marco ging stumm voran. Nur zuweilen schaute er sich um, ob der junge Herr ihm auch noch folge.

Als sie in die Toledostraße eingebogen waren, blieb Marco stehen und fragte in gebrochenem Französisch: »Versteht der junge Herr, was ich sage?«

Dieser nickte erstaunt.

»Ich habe den Signor Leonardi und auch den Corso lieb gehabt«, fuhr Marco hastig fort, »könnte auch wohl ungefähr sagen, wo sie den Signor Bruder, wenn er noch lebt, hingeschleppt haben, darf aber nichts sagen. Ich werde den jungen Herrn wieder zum Hotel bringen. Sage der Signor mir nur, was die Marchesa gewollt hatte, auch Signor Rapo, der Student, ich werde dann schon raten. Mein gnädiger Herr ist toll geworden, er schreit immer nach Signor Leonardi, den er seinen Sohn nennt. Darum sollte ich ihn holen.«

Agnes-Fidelio hatte gespannt zugehört und auch ziemlich genau alles verstanden, was Marco halb Französisch, halb Italienisch zu ihr gesagt hatte.

Es schauerte ihr doch ein wenig, so tollkühn diesem Menschen gefolgt zu sein, doch beruhigte sie der Trost, dass der Wirt wisse, wohin der Diener sie geholt habe. So versprach sie ihm, seinen guten Rat später mit Dank in Anspruch zu nehmen, und auch wohl auf ihrer Hut zu sein.

Als sie in den prächtigen Palast mit den breiten Marmortreppen trat, kam es wie Angst und tödliche Beklemmung über sie. Die Pracht und Herrlichkeit, welche ihr hier von allen Seiten entgegenstrahlte, schienen sie förmlich zu betäuben.

Doch währte dieser Eindruck nur wenige Minuten, denn als Marco in den Saal trat, um sie zu melden, hatte sie mit einer gewaltigen Anstrengung ihre alte Energie, welche sie auf ihrer ganzen Reise geleitet hatte, bereits wiedererlangt. Mit stolz erhobener Stirn und freiem Blick trat sie der schönen Herrin dieses Palastes entgegen.

Bei Arabellas Anblick fuhr es ihr wie ein scharfes Messer durchs Herz. O, gewiss, diese wunderschöne Frau musste Leonhardt geliebt haben. Wer konnte gleichgültig bleiben bei so viel Liebreiz und Schönheit?

Aber auch Arabella war erstaunt beim Anblick des schönen deutschen Knaben mit dem zarten Frauenantlitz.

Sie blickte ihn eine Weile mit sichtlichem Wohlgefallen an und sagte dann freundlich im reinsten Deutsch: »Sie sind, wie mein Diener mir gemeldet hat, Signor Leonardis Bruder?«

»Zu Befehl, gnädige Signorina!« Fidelio verbeugte sich anmutig.

»Ich hätte das niemals erraten«, fuhr Arabella rasch fort. »Zwar haben Sie echt deutsche Züge, im Übrigen aber keine Spur von Ähnlichkeit mit dem Bruder. Wie darf ich Sie nennen, Signor?«

»Fidelio!«, antwortete sie leicht errötend und die blauen Augen schüchtern niederschlagend.

»Fidelio, ein schöner, süßklingender, vielsagender Name, der Treue heiliger Inbegriff«, sagte Arabella, sinnend den zarten Jüngling betrachtend, »doch darf ich Sie ersuchen, sich zu setzen?«

Sie deutete auf einen Sessel und ließ sich ihm gegenüber auf ein Sofa nieder.

Fidelio nahm ebenfalls in dem ihm angewiesenen Sessel Platz.

»Ich sandte zu Ihrem Bruder«, fuhr sie langsam fort, »er verließ uns so rasch, fast ohne Abschied. Er ist sehr leicht verletzt, und doch hätte er meinen armen Oheim in der unglücklichsten Stunde seines Lebens nicht verlassen müssen. Vielleicht wäre dann vieles anders, auch mit ihm selber gekommen. Ich höre, ihm ist ein Unglück zugestoßen?«

»So ist es Signorina!«, versetzte Agnes-Fidelio mit völliger Sicherheit in Haltung und Stimme, »sein Diener schrieb nach Hause, dass er von Räubern verwundet und entführt sei. Da machte sich der alte Vater in meiner Begleitung auf, um ihn zu befreien und wenn es Gottes Wille sei, in die Heimat, wo er stets so glücklich war, zurückzubringen.«

Arabella seufzte und fuhr sich mit der feinen Hand über die Augen. »Sie sagen, er sei von Räubern überfallen«, sprach sie, »so war er schon auf der Heimreise begriffen?«

»Das wohl nicht, gnädige Signorina«, versetzte Fidelio, »so viel uns sein Diener darüber mitzuteilen vermag, hat ein Duell ihn zu den Ruinen von Pompeji geführt, woselbst er von seinem Gegner verwundet und dann von Räubern fortgeschleppt wurde. Wenn er nur noch lebt, dann werden wir ihn finden, und sollten wir bis ans Ende der Welt wandern.«

Arabella blickte sie unruhig forschend an und schüttelte dann unmerklich den Kopf. »Kennen Sie den Gegner Ihres Bruders?«, fragte sie nach einer kleinen Pause.

»Georg nannte uns einen Studenten. Irre ich nicht, hieß er Signor Rapo.«

»Ah, ich dachte es mir«, sagte die Marchesa halblaut und ihre prächtige Stirn faltete sich leicht, »er hat ihn den Briganten überantwortet aus Rache. Nun, mein lieber, junger Signor«, fuhr sie rasch und lauter fort, »ich brauche Ihnen meine aufrichtige Betrübnis über diesen Unglücksfall nicht erst zu versichern. Signor Leonardi war uns stets, solange wir ihn gekannt haben, ein lieber, aufrichtiger Freund, bis zu jenem Unglückstag, wo mein guter Oheim so urplötzlich geistesverwirrt wurde und Ihr Bruder uns dann halb im Zorn verließ. Ich hätte es tatsächlich nicht gewagt, wieder zu ihm zu senden, wusste auch nicht einmal, wohin er sich gewendet, ob er Neapel vielleicht gleich verlassen hatte, wenn nicht mein Oheim in förmlicher Raserei nach ihm verlangte, und wir ihn nur mit dem Versprechen zu beruhigen vermochten, den Signor Leonardi holen zu lassen. Marco half uns aus der Verlegenheit. Er kannte das Hotel, wohin er sich begeben hatte. So sandte ich augenblicklich dorthin, um Sie, mein lieber, junger Signor, anstatt des Bruders kennen zu lernen, ein Glück, das sicher das viel größere Unglück nicht aufwiegt.«

»Und dem eigentlichen Zweck auch leider nicht entspricht«, ergänzte Fidelio, sich erhebend. »Ich bedauere außerordentlich, gnädige Signorina, Ihren Wunsch nicht erfüllen zu können, womit meine Gegenwart folglich ihren Wert für Sie verloren hat.«

»O, bitte, reden Sie nicht so, Signor Fidelio!«, rief die Marchesa lebhaft, »bleiben Sie noch und seien Sie großmütig, indem Sie mich zu meinem Oheim begleiten. Vielleicht ist auch Ihre Gegenwart imstande, seinen aufgeregten Geist zu beruhigen. Seien Sie der David des finsteren, unglücklichen Sauls, hören Sie, Signor Fidelio, wie er tobt und klagt um einen verlorenen Sohn. O kommen Sie, mir sagt es eine Ahnung und ein Blick in Ihr Antlitz, dass Sie den Dämon in ihm besiegen werden.«

Fidelio verbeugte sich zustimmend und die Marchesa schritt in großer Aufregung und sichtlicher Angst einer Tür zu, welche durch mehrere große Gemächer in ein entfernteres Zimmer führte.

Hier blieb sie einen Augenblick unruhig lauschend stehen.

»Weg, weg«, schrie eine heisere Stimme drinnen, »setzt ihr den Kopf wieder auf, ich habe ihr Kind gefunden. er ist es, wo habt ihr ihn, Jesus Maria! Sie haben ihn mir geraubt; Leonardi, komm zu deinem Vater, die Mutter verlangt nach dir. Sie wollen ihr das schöne, süße Lockenhaupt nicht wieder aufsetzen, hu, wie dass Blut rinnt, Leonardi, mein geliebter Sohn, komm zu deinem Vater!« Seine Stimme brach in Schluchzen, worauf eine tiefe Stille folgte.

Agnes-Fidelio stand bleich und starr vor Entsetzen. Sie wagte kaum zu atmen. Wie die Lösung eines schauerlichen Rätsels scholl es ihr aus dem Mund des Wahnsinnigen entgegen. Das Wort der alten Doris von dem Bastard Leonhardt, den der eigene Vater nicht anerkennen wolle, dessen Mutter auf dem Blutgerüst geendet, donnerte ihr wie eine furchtbare Mahnung ans Ohr.

Der wahnsinnige Marchese Cantonelli war Leonhardts Vater, das war das Verderben, welches Italien für ihn geborgen hatte.

Und doch kam es zu gleicher Zeit über ihre entsetzte Seele wie eine heilige Mission. War der unglückliche Mann, welcher da drinnen tobte und weinte, nicht sein Vater? Schien sie nicht gleichsam von der Vorsehung dazu berufen zu sein, Versöhnung und Frieden dieser zerrissenen und umnachteten Seele zu bringen?

»Gehen wir zu dem Herrn Marchese hinein, Signorina«, sprach sie mit leiser, aber fester Stimme. »Ich fürchte mich nicht vor dem Wahnsinnigen.«

Arabella schauerte zusammen. Man sah ihr die Furcht und den Widerwillen an. Gern wäre sie draußen geblieben, wenn sie nicht der egoistische Gedanke, diesen jungen, sanften David zur Beruhigung des rasenden Sauls gebrauchen zu können, dabei geleitet hätte.

»Ja, gehen wir hinein«, sagte sie seufzend, »Madonna segne Ihren Eintritt, junger Freund!«

Sie schlug die Portière auseinander und blickte vorsichtig hinein.

Der Marchese war in den wenigen Tagen, seit Leonhardt den Palast verlassen, furchtbar gealtert; sein Haar war schneeweiß geworden, die Augen eingesunken, das Gesicht bleich und hohl, wie das Bild eines Sterbenden. Er lag zusammengekauert in einem hohen Armsessel. Neben ihm stand sein alter Kammerdiener, welcher traurig und besorgt auf die eintretende Signorina schaute.

Der Marchese hatte sie kaum mit den unruhig umherirrenden Augen erblickt, als er sich emporrichtete und mit angstvoller Stimme fragte: »Hast du ihn gefunden? Bringst du mir meinen Sohn zurück?«

»Ich bringe dir einen Gruß von Leonardi, mein teurer Oheim«, sprach sie schmeichelnd, »sieh hier seinen Bruder, er kann dir von ihm erzählen.«

Sie reichte Fidelio die Hand und führte ihn zu dem Marchese hin.

Dieser schaute ihn einen Augenblick betroffen und forschend an, dann runzelte er die Stirn und sagte finster: »Sein Bruder bist du, Knabe? Du lügst, sein Bruder ist tot, sie hat ihn mit ihrem Haar erdrosselt, musste sie doch darum das Blutgerüst besteigen.«

Agnes-Fidelio fühlte sich von Grausen geschüttelt, vor ihren Augen zog es wie eine blutige Wolke hin.

Doch bezwang sie das Entsetzen mit ihrer starken Willenskraft und versetzte so ruhig als möglich: »Sie irren, Herr Marchese, ich bin wirklich Leonhardts jüngster Bruder. Ich bin mit dem Vater herübergekommen, um ihn in die liebe deutsche Heimat zurückzuholen.«

War es Sünde, den Wahnsinn zu belügen? Agnes hätte den Himmel belogen, um ihn zu retten.

»Wie heißt du, Knabe?« fragte der Marchese hastig.

»Fidelio!«

»Das heißt Treue«, murmelte der Wahnsinnige, »auch ich war treu, aber es kam zu spät. Wie heißt dein Vater?«

»Baron von Waldau!«

Agnes-Fidelios Stimme zitterte gewaltig bei dieser Antwort, und doch war es keine Lüge; hatte ihr ja der alte Herr den Kindesnamen gegeben.

»Waldau, ja, das passt«, murmelte der Marchese unruhig, »so ist es richtig. Leonardi gehört mir, wir beide wollen ihn suchen, Du bleibst bei mir, der alte Mann kann ohne dich leben. Er hat ein gutes Gewissen, braucht sich nicht zu fürchten, allein zu sein. Wie war es doch, Fidelio, ja, ja, das sieht ihm ähnlich, Du bist sein Sohn? Gut, gut, dann ist er auch nicht treu geblieben. Komm, Fidelio, schau mich an, deine Augen sind sanft und unschuldig. Sie war es auch, dann kam der Geier, das war ich, hörst du wohl, ich war es, der hackte ihr die unschuldigen Augen aus, dass es Nacht um sie wurde, tiefe Nacht. Sie konnte das arme Kindlein nicht sehen, darum musste es sterben. Sind meine Hände rot von Blut? Gib mir deine Hand, Fidelio, dann werden sie wieder weiß wie Schnee.«

So redete der Unglückliche in wirren Klagen durcheinander. Er schluchzte wie ein Kind und hielt Fidelios Hand krampfhaft umschlossen.

Arabella hatte sich leise zurückgezogen und atmete hoch aus, als die Portière hinter ihr zusammenfiel. Der Wahnsinn des Oheims beängstigte sie in mehr als einer Weise, eine beklemmende Ahnung von bereuten Jugendsünden, welche bei der Rückkehr seiner Geistes- und Verstandeskraft leicht sie selber um einen bedeutenden Teil ihres reichen Erbes bringen konnten, peinigte sie unaufhörlich und ließ sie im Inneren den heimlichen Wunsch hegen, er möge bald von seinen schweren Leiden erlöst sein und im Grab Ruhe finden.

Drinnen bei dem Wahnsinnigen war nun alles totenstill. Der Unglückliche hatte sein müdes Haupt an des zarten Jünglings Brust gebettet und schloss die Augen. Nach wenigen Minuten schon war er in festen Schlummer gesunken.

»Die heilige Jungfrau sei gelobt!«, flüsterte der Kammerdiener erfreut, »dies ist die erste Ruhe nach drei Tagen und drei Nächten. Er hätte bald sterben müssen, mein armer, unglücklicher Herr!«

Agnes-Fidelio saß unbeweglich, um des Greises süßen Schlummer nicht zu stören. Es war eine seltsame Situation, in welche sie so rasch und urplötzlich und doch so natürlich hineingeraten war.

Seinen Vater, den reichen, vornehmen Mann, der ihn einst verleugnet hatte, von Gewissensbissen bis zum Wahnsinn getrieben, in ihren Armen, ihm Ruhe und Frieden zurückgebend, wie eine Mutter über den Greis wachend, während der unglückliche Sohn in Räuberhänden mit dem Tod ringend und der Pflegevater, dieser Mann mit der Strahlenkrone der Liebe und Opferfreudigkeit, für ihn in Gefahr und Tod ging.

Wie stolz musste Leonhardt sich fühlen, könnte er ahnen, wie viel echte, treue Liebe ihm entgegengetragen, wie viele schwere Opfer ihm dargebracht wurden.

Während sie, die Fremde, dieses Märtyrertum für den Greis ertrug, saß die Nichte desselben, die stolze Arabella della Cantonelli, in ihrem glänzenden Gemach und hörte, den runden Arm auf die Lehne ihres Sessels gestützt, zerstreut auf Pasquale Rapos Schmeicheleien und glühende Beteuerung seiner Leidenschaft.

Plötzlich machte sie eine stolze, abwehrende Bewegung, ließ den Arm niedersinken und blickte ihn groß an, während sich die wie aus Alabaster geformte Stirn leicht faltete.

»Lassen wir jetzt diese Torheiten, Signor Rapo!«, sagte sie kalt, »beantworten Sie mir erst eine Frage.«

»Mit Freuden, meine gnädige Marchesa!«, versetzte der Student, sie mit einer leichten Unruhe anblickend.

»Warum schlugen Sie sich mit dem jungen Deutschen?«

»Ah, beleidigte er mich nicht sogar in Ihrer Gegenwart, dieser Signor Leonardi?«

»Ich will diese Veranlassung gelten lassen, doch weshalb bestellten Sie ihn in dunkler Nacht zu den Ruinen von Pompeji, so weit von Neapel entfernt, um ihn dort den Briganten zu überliefern?«

»Daran bin ich tatsächlich unschuldig, meine Gnädigste!«, versetzte Rapo achselzuckend, »Signor Leonardi bestimmte selber Ort und Zeit, während ich die Waffen wählte.«

»Aber die Briganten!«, rief Arabella heftig, »es liegt eine Feigheit darin, Signor, den Verwundeten seinem Schicksal zu überlassen.«

Der Student erhob sich finster und sagte: »Sein Diener war bei ihm, warum wählte er jenen Ort? Ich hätte ihn vor den Briganten, denen ich selbst nur mit knapper Not entkam, nicht schützen können, sondern nur mich selber geopfert, ohne ihm im Geringsten zu nützen. Die Übermacht der Briganten war zu groß, mit drei oder vier kann ich es aufnehmen. Was darüber ist, gehört der Unmöglichkeit an und ist von Übel.«

Die Marchesa fühlte die Wahrheit dieser Behauptung und die leise Mahnung darin, was sie ihm schuldig sei. Sie streckte ihm deshalb lächelnd die Hand entgegen und versetzte begütigend: »Halten Sie es der finsteren Stimmung unseres Hauses zugute, wenn ich heftig und ungerecht gegen Sie war, Signor Rapo! Madonna sei es geklagt! Ich werde nicht eher wieder heiter, bis der Dämon von dem unglücklichen Oheim gewichen ist oder sein Geist im Tod Ruhe gefunden hat.«

Rapo hatte ihre Hand leidenschaftlich an seine Lippen gedrückt und sich wieder in seinen Sessel niedergelassen.

»Dieser seltsame Wahnsinn, welcher sich wie ein Dieb in der Nacht eingestellt hat, wird entweder bald mit dem Tod enden oder mit kurzen Unterbrechungen immer häufiger wiederkehren«, sprach er langsam.

»O, das wäre schrecklich«, flüsterte Arabella schaudernd, »und ich muss bei ihm ausharren, wenn es nicht geratener wäre, ihn einer Heilanstalt zu übergeben.«

»In Avellino ist eine derartige vorzügliche Anstalt; vom ärztlichen Standpunkt aus müsste ich unbedingt dazu raten.«

»So begleiten Sie ihn dorthin, Signor Rapo?«

»Mit Vergnügen, Sie werden in Bisaccia meine Schwester Seraphine besuchen, Signorina Marchesa!«

»Ah, daran dachte ich tatsächlich nicht mehr«, antwortete Arabella, wieder nachdenkend das schöne Haupt stützend, »ich glaubte, sie käme in nächster Zeit hierher.«

»Da unsere Reise dorthin beschlossene Sache ist, meine Gnädigste«, sagte Rapo ruhig, »so fällt jeder Grund für mich weg, meine Schwester hierher kommen zu lassen. Überdies wird sie auch schwerlich die Mutter und Geschwister verlassen, sie ist die belebende Seele des Hauses.«

»Wir werden meinen Oheim gar nicht fortschaffen können«, bemerkte Arabella, »er schreit noch fortwährend nach seinem Sohn Leonardi, wie er den Deutschen hartnäckig nennt.«

»Die ganze Sache ist äußerst rätselhaft, finden Sie nicht auch, Signorina Marchesa?«

»Ich zermartere vergebens mein Gehirn, um einen Ausweg zu finden, eine Lösung dieses Rätsels, mein Freund! Dieser urplötzliche Wahnsinn muss notwendig mit dem Deutschen verknüpft sein.«

»Unzweifelhaft«, versetzte Rapo rasch, »wie mir der Kammerdiener erzählte, habe der Herr Marchese eine lange Unterredung mit dem Signor Leonardi gehabt, worauf die seltsame Katastrophe, deren Lösung wir zum Teil in den wirren Reden des Signor Marchese zu suchen haben erfolgte. Seine anfänglich stereotypen Worte Es ist das tote Kind, das sie mit dem blonden Haar erwürgte, still, still, dass es nicht erwacht, um mich zu morden! wird sicherlich seine Bedeutung haben.«

»Sie haben ein scharfes Gedächtnis, Signor Rapo!«, sagte Arabella schaudernd.

»Für mein Studium eine Notwendigkeit, meine Gnädigste! Nehmen Sie ferner des Deutschen Zustand, sein ferneres Gebaren Ihnen gegenüber, von mir nicht zu reden, sein grober, plötzlicher Abschied aus diesem Palast, der ihn so gastfrei aufgenommen hat. All dies zusammen Signorina, lässt uns die Überzeugung gewinnen, dass Sie seines Schicksals halber keine Ursache zur Klage haben.«

»So glauben Sie, meines Oheims Vergangenheit sei mit dem Deutschen verknüpft?«, fragte Arabella leise.

»Ja, Signorina Marchesa, das glaube ich fest. War der Oheim früher vielleicht einmal in Deutschland?«

»Verschiedene Male; ah, jetzt wird mir alles klar, meine selige Mutter erzählte mir einst, ich war ein Kind von zwölf Jahren, der Oheim müsse ein großes Unglück in Deutschland erlebt haben. Als er das zweite Mal von dort heimgekehrt wäre, sei er schwer krank gewesen und habe weißes Haar bekommen. Von einer Heirat habe niemand ihm reden dürfen.«

»Worüber die Frau Mama sicherlich keine Träne vergossen haben wird«, entgegnete Rapo. »Nun gut, ich denke, wir hätten danach Anhaltspunkte genug, um nicht in unseren Schlüssen fehl zu gehen. Signor Leonardi ist sicherlich ein Sprössling des Hauses Cantonelli, wenn auch ein ziemlich illegitimere. Es müsste denn der Signor Marchese mit irgendeiner obskuren Deutschen eine heimliche Ehe eingegangen sein. Das wäre nun für Sie, Signorina Arabella, eine recht üble Sache, denn er wäre danach rechtmäßiger Erbe seines Vaters, während Sie …«

»Pah, reden wir nicht weiter davon, Signor Rapo!«, unterbrach sie ihn bleich und mit blitzenden Augen, »die Sache ist unmöglich, sage ich Ihnen. Der Oheim wahnsinnig, der junge Deutsche in den Händen der Briganten«

»Mit dem Todesstoß in der Brust«, ergänzte Rapo mit tückischem Lächeln.

»Was hätte ich also zu fürchten? Wir bringen den Marchese morgen in aller Frühe nach Avellino.«

»Sie begleiten ihn dorthin, Signorina?«

»Mit Ihnen, versteht sich, ich werde dort eine Zeitlang wohnen.«

»Dann sorgen Sie für Mitnahme aller Wertpapiere und Juwelen, Signorina, überhaupt aller Kostbarkeiten. Sie sind Besitzerin derselben und müssen bei der jetzigen Unzurechnungsfähigkeit des Oheims selber für deren Sicherung sorgen.«

»Sie haben recht, mein Freund! Doch wird das seine Schwierigkeiten haben. Der Marchese führt die Schlüssel stets bei sich. Wir müssten den Kammerdiener damit beauftragen, sie ihm heimlich zu entwenden, Das wird er nicht tun, der Mensch hängt mit hündischer Treue an seinem Herrn.«

»Wollen Sie mir die Sache übergeben, Signorina?«

»O, mit Vergnügen, Signor Rapo! Sie sind nun mein einziger Freund!«

»Und sicherlich auch der treuste, aufrichtigste«, versicherte Pasquale, sich graziös auf ein Knie niederlassend und ihre weiße, schmale Hand mit glühenden Küssen bedeckend. »O hören Sie mich an, Arabella, stoßen Sie ein Herz nicht zurück, das Sie mit rasender Leidenschaft liebt, und bereit ist, alles Ungemach von Ihrem Lebenspfad zu beseitigen. Madonna selber will unseren Bund, da sie in jener Nacht am Golf mich zu Ihrem Retter vom furchtbarsten Schicksal machte, während sie die Hand des Ketzers lähmte.«

Pasquale Rapo besaß in diesem Augenblick wirklich eine hinreißende Männerschönheit. Leonardis Bild, das sich noch immer feindlich zwischen sie und den kühnen Studenten gedrängt, erbleichte in der Erinnerung an jene furchtbare Nacht, wo sie ohne Pasquale Rapos Hilfe ein Opfer der Briganten, was für eine Frau von ihrer Schönheit das entsetzlichste Los bedeutet, geworden wäre.

Das südliche Blut flammte in ihren Adern auf. Sie neigte sich lächelnd zu dem Flehenden nieder, der sie stürmisch umschlang und ihren Mund mit Küssen bedeckte, dann einen Brillantring vom kleinen Finger zog, ihr seinen Namenszug darin zeigte und denselben rasch mit einem ihrer kostbaren Ringe wechselte.

Arabella della Cantonelli war die Braut des kecken Studenten von Bisaccia geworden, bevor sie noch selber sich solches als möglich gedacht hatte.

Auch nun noch, von seinen Armen umschlungen, beschlich sie ein Gefühl der Demütigung, eine Unmut gegen sich selber, nicht stärker in einem Moment der Leidenschaft gewesen zu sein, welche, so ahnte sie dunkel, nicht das Glück ihres Lebens begründen könne. Hatte er für jene Rettung das Recht erhalten, sie selber als sein Eigentum zu verlangen?

Mit einer Art Heftigkeit entwand sie sich auch deshalb seinen Armen und sagte, tief aufatmend: »Reden und handeln wir vernünftig, Signor Rapo! Ich kann nicht selbstständig über meine Zukunft bestimmen. Mein Oheim …«

»Der Wahnsinnige hat kein Recht mehr über Ihre Zukunft«, fiel Rapo ein.

»Er kann geheilt werden.«

»Das ist sehr zweifelhaft, sein baldiger Tod scheint mir sicherer zu sein; indessen hat der Marchese eine so große Dankbarkeit und Freundschaft für mich an den Tag gelegt, dass ich um seine Einwilligung nicht besorgt wäre, falls sie nötig werden sollte. Ich denke, meine teure Arabella, dass wir die Vorbereitungen zur Reise träfen.«

»O, wir könnten übermorgen reisen«, rief die Marchesa, »wozu die große Eile? Der Oheim wird doch Schwierigkeiten machen, die sich, ohne Aufsehen zu erregen, in einigen Stunden nicht beseitigen lassen werden. Auch muss ich erst mit unserm Arzt reden.«

»Mittlerweile kann irgendein Zufall den Deutschen zurückbringen«, versetzte Rapo kalt, »der Sohn wird zu seinem Vater kommen und das Erbe in Empfang nehmen.«

»Signor Leonardi ist ein edler Mensch, er könnte selbst in allen nur denkbaren Fällen niemals unedel gegen mich handeln, Signor Rapo, aus dem einfachen Grund, weil er mich liebte.«

»Er hasst Sie, Signorina!«, rief Rapo mit schneidender Stimme, »ein Deutscher kann seine Liebe mit keinem anderen teilen. Bei ihm geht berechtigte Eifersucht in Hass über; sein letztes Wort bei Pompeji war eine Verwünschung gegen Sie.«

»Reden Sie die volle Wahrheit, Signor?«, fragte Arabella mit wild funkelnden Augen.

»Mein Wort muss Ihnen genügen, Signorina!«, sprach der Student stolz, »fragen Sie jedes Kind in Bisaccia: Ein Rapo lügt niemals.«

»Wissen Sie, dass sein Vater und Bruder heute in Neapel angekommen sind?«

»Nein, woher sollte ich dies wissen. Sie setzen mich tatsächlich mit Ihrer Allwissenheit in Erstaunen.«

»Sein Vater ist ein deutscher Baron. Er ist mit dem albernen Corso zu den Briganten, um ihn gegen ein hohes Lösegeld einzuhandeln.«

»Maledetto!«, fluchte Rapo überrascht.

Arabella warf ihm einen verweisenden Blick zu und fuhr langsam fort: »Vielleicht erhalten sie nur seine Leiche, genug, der Bruder, ein blutjunger, reizender Bursche, ist augenblicklich bei meinem Oheim, den er wie damals König David zu beruhigen versteht.«

Wie ein Tiger fuhr Pasquale empor.

»Das sagen Sie mir erst jetzt, Signorina?«, rief er heftig, »ich merke schon, Sie haben hinter meinem Rücken irgendeine Torheit, die Sie teuer bezahlen müssen, begangen.«

»Signor Rapo, welche Sprache?«

»Die Sprache des Verlobten, der seine Auserwählte vor allem Unheil zu bewahren hat«, sprach der Student plötzlich wieder sanft und schmeichelnd, »ich bitte Sie, teure Arabella, doch gütigst bedenken zu wollen, dass Ihr Verderben von nun an in dem Namen Leonardi und was damit zusammenhängt, liegt. Kommt dieser Mensch zurück und gelangt zum Marchese, dann ist Ihre Zukunft vernichtet.«

»An Ihrer Seite, Signor Rapo?«. fragte Arabella spöttisch.

»Sie scherzen die drohende Situation nicht hinweg, Signorina!«, sprach Rapo finster, »meine Liebe kann unmöglich den Glanz der Gegenwart ersetzen, wie es nur das Erbe des Marchese vermag. Dann freilich«, fuhr er mit schmeichelnder Zärtlichkeit fort, »werde ich das Dasein meiner Königin mit Liebe und Glanz umgeben, wie es deiner nur einzig würdig ist. Jetzt erlaube mir, holde Braut, ein wenig den Bruder unseres Schreckgespenstes anzusehen.«

Er küsste ihr die Hand und verließ wie ein Sieger, der soeben eine große Schlacht gewonnen hatte, das Zimmer.

Die Marchesa sah ihm mit einem Blick nach, der mehr Ähnlichkeit mit Hass und Abscheu, als mit Liebe und Glück besaß.

»Elender Plebejer!«, murmelte sie, die Hände zornig ballend, »wähnst du, eine Marchesa Cantonelli heimführen, ja schon jetzt ihren Tyrannen spielen zu dürfen? Gemach, auch die Dankbarkeit hat ihre Grenzen, und wenn Signor Leonardi wirklich sein Sohn wäre, wohl, ich würde Ketzerin, um die seine zu werden. Ja, lieber Ketzerin als das elende Weib dieses Menschen!«

Sie stützte seufzend das junonische Haupt und versank in ein tiefes Nachdenken.

Mittlerweile schritt Pasquale Rapo, als sei er bereits Herr dieses Palastes, dem Zimmer des Marchese zu, um dort den ungebetenen Gast zu beschauen.

»Pah, stolze Frau!«, zischte es halblaut zwischen seinen Zähnen, »ob du mich liebst, ist mir völlig gleichgültig. Ich will dein Erbe besitzen, so oder so.«

Er lachte leise und höhnisch, worauf er mit fester Hand die Portière zurückschlug und unangemeldet eintrat.

Der alte Kammerdiener erhob sich unwillig und flüsterte, als er Pasquale Rapo in dem Halbdunkel, welches in dem Zimmer herrschte, erkannte: »Sie sind es, Signor Rapo? Der Herr schläft, ich bitte dringend, seinen Schlummer nicht zu stören.«

»Ei was, ich hörte von einem sonderbaren Gast, einem Bruder jenes Menschen, um deswillen der Herr so unglücklich geworden ist. Es ist meine Pflicht, solchen Einwirkungen entgegenzutreten.«

»Erlauben Sie mir eine Frage, Signor Rapo! Handeln Sie im Auftrag der Signorina Marchesa?«

»Ich handle als künftiger Herr dieses Hauses, als Verlobter der Signorina Marchesa!«, versetzte der Student hochmütig.

Der Kammerdiener trat erstaunt einen Schritt zurück und starrte ihn an, als hätte er ebenfalls den Verstand verloren.

»Nun, was gaffen Sie mich an, es ist so, wie ich sage. Ah, das sieht ja verteufelt idyllisch aus«, fuhr er lachend fort, als er den schlummernden Greis an Agnes-Fidelios Brust erblickte. »Du scheinst deine Rolle gut einstudiert zu haben, mein Bürschchen! Nimmt der Herr dich schon für den Bruder? Sprich, was bezweckst du hier mit deinem Samariteramt?«

»Um aller Heiligen willen, Signor Rapo! Gönnen Sie dem armen Herrn doch den Schlummer«, flehte der Kammerdiener mit Tränen in den Augen.

»Ist das der Mann, welcher meinen armen Bruder auf den Tod verwundete und ihn dann den Räubern preisgab?«, fragte Fidelio plötzlich mit leiser, aber fester Stimme.

»Ei, du bartloser Knirps, willst du den Zorn des Löwen reizen?«, rief Rapo spöttisch in deutscher Sprache.

»Der Löwe ist niemals heimtückisch und falsch«, versetzte Fidelio, »doch wer Sie auch sein mögen, mein Herr, in diesem Raum ist Ihre Macht zu Ende. Wagen Sie es, mich hier fortzureißen, der Fluch des Wahnsinns soll Sie treffen!«

Rapo lachte laut auf, und im selben Augenblick erwachte der Marchese.

»Es ist das tote Kind, das sie mit dem blonden Haar erwürgte, still, still, dass es nicht erwacht, um mich zu morden!«, flüsterte er, wirr umherblickend.

»Wir wollen fort, um deinen Sohn Leonardi zu suchen«, schrie Rapo ihm ins Ohr.

Der Greis blickte ihn ganz erschrocken an und klammerte sich dann mit beiden Händen an Fidelio.

»Treiben Sie keinen sündigen Spott mit dem Unglück, Signor Rapo!«, sprach der Kammerdiener, zitternd vor Unwillen.

»Schweig, bis man dich fragt«, herrschte Rapo ihm zu, »packe des Herrn Garderobe ein. Wir werden in dieser Nacht noch verreisen. Und du, dreister Geselle, hast dich auch bis dahin gepackt.«

Mit diesen Worten verließ er zornig das Zimmer, während der Kammerdiener ihm die geballte Faust nachstreckte und dann zu seinem Herrn eilte, welcher mit unverständlichem Flüstern seinen wirren Spruch zu wiederholen schien und dann plötzlich im herzzerreißenden Jammerton nach seinem Sohn rief.

Agnes-Fidelio zitterte vom Kopf bis zu den Füßen. Sie fühlte in diesem Augenblick, dass ihre Kraft einer solchen Aufgabe nicht gewachsen sei, und flüsterte, zu dem Kammerdiener gewandt: »O, lassen Sie mich zum Hotel, ich werde selber wahnsinnig.«

»Ja, ja, mein lieber, junger Herr«, versetzte jener betrübt, »es ist keine leichte Aufgabe. So gern ich Sie hier behielte, es kann ja doch nicht sein, Ihres Vaters wegen. O, wenn Sie den Signor Leonardi wiederfinden, bringen Sie ihn her, denn was die Reise betrifft, welche der saubere Signor Rapo befohlen hat, da wird doch wohl der Arzt das letzte Wort mitzusprechen haben. O, heilige Mutter Gottes! Wer hätte nur je solches von der reichen Signorina Arabella Cantonelli geglaubt. Wir wissen nur, dass dieser Signor aus Bisaccia ist, einem winzigen Städtchen unweit der Abruzzen, wo es nur so von Räubern wimmelt.«

Als Agnes-Fidelio Miene machte, sich leise aus den Armen des wahnsinnigen Greises zu befreien, fuhr dieser mit einem wilden Schrei empor und hielt sie so fest umklammert, dass sie kaum zu atmen vermochte.

»O, Signor! Helfen Sie doch, mich zu befreien«, rief sie in Todesangst.

Der Wahnsinnige ließ sie plötzlich los und blickte scheu und angstvoll umher. Der Kammerdiener schlug den Vorhang zurück, um das scheidende Licht des Tages hereinzulassen.

Es schien, als kehre mit diesem Licht auch ein Strahl der Vernunft zurück. Der Greis betrachtete mit einer rührenden Wehmut Fidelios Antlitz, von blonden Locken eingerahmt, fuhr sich dann mit der Hand über die gramdurchfurchte Stirn, als wolle er die Gedanken festhalten, und seufzte: »So blond und schön war sie auch, als ich sie treulos verließ. Gott sandte mir den Sohn als Zeichen seiner Gnade. Wer hat ihn von mir gerissen?«

»Das hat Signor Rapo getan«, versetzte Fidelio mit festem Ton.

»Rapo?«, flüsterte der Greis nachdenkend, »o, wie wirr die Bilder wieder durcheinanderjagen, jetzt ist das Kind wieder da, das tote Kind. Erbarmen, es will mich, seinen Vater, morden.«

Der lichte Moment war vorüber, wirre Nacht umgab aufs Neue den Geist des Unglücklichen.

Als Agnes-Fidelio wieder versuchte, sich von des Wahnsinnigen Seite fortzuschleichen, tobte und jammerte er so entsetzlich, dass die Marchesa erschreckt die Portière auseinanderschlug und mit bleichem Antlitz nach der Ursache des markerschütternden Geschreies fragte.

»Der junge Signor wünscht zu seinem Hotel zurückzukehren«, versetzte der Kammerdiener betrübt, »deswegen erhob der Herr solches Geschrei.«

»Bleiben Sie bei ihm«, bat Arabella, »Madonna wird es Ihnen tausendfältig vergelten und meine Dankbarkeit ewig sein.«

»Was würde mein Vater dazu sagen, Signorina!«, sprach Fidelio, »sein Wille ist hierin allein maßgebend.«

»Wie heißt doch Ihr Herr Vater?«, fragte die Marchesa weiter.

»Baron von Waldau.«

»Waldau!«, flüsterte der Wahnsinnige, jäh zusammenzuckend, »o, hätte die Kugel mein Herz getroffen. Warum schoss er so schlecht, sein Arm war ein schlechtes Ziel, Kopf und Herz, da hinein die Kugel. Aber wir zitterten beide.«

Agnes-Fidelio hörte in diesen Worten die volle Wahrheit ihrer Ahnung, und auch Arabella bebte leicht zusammen. Es wurde immer heller, das unselige Geheimnis.

»Ich sende einen Diener in Ihr Hotel, Signor Fidelio«, sagte sie rasch, »um dort über Ihren Aufenthalt die nötige Nachricht zu geben. Sie sehen wohl ein, dass Sie, ohne ein unberechenbares Unglück herbeizuführen, den Kranken nicht verlassen dürfen.«

»Signor Rapo hat vorhin dem jungen Deutschen die Tür gezeigt«, bemerkte der Kammerdiener.

»Wohlan, Signorina!«, sprach Agnes-Fidelio nach einer Weile, »ich werde noch bleiben. Senden Sie den Diener ins Hotel. Fordert mein Vater jedoch, dass ich zurückkehre, dann werde ich gehorchen. Das Gebot des Signor Rapo wird mich in meinem Entschluss nicht beirren, obwohl er mich wie einen aufdringlichen Gast behandelte.«

»Signor Rapo soll Sie nicht weiter belästigen, mein Freund!«, entgegnete die Marchesa mit einer stolzen Kopfbewegung, »nur ich bin hier Herrin und er Gast wie Sie.«

»Um Verzeihung, gnädigste Signorina!«, sprach der Kammerdiener leise, »Signor Rapo befahl mir ebenfalls, des Herrn Garderobe zur sofortigen Abreise zu packen. Ich glaubte, der Arzt müsse dabei doch erst gehört werden.«

Arabella biss sich auf die Lippen und erwiderte: »Das hat noch keine Eile, du erhältst den Befehl dazu von mir allein.«

Fidelio freundlich zunickend, verließ sie rasch das Zimmer und befahl, sogleich den Arzt zu holen.

Voll der kühnsten Pläne hatte Pasquale Rapo mittlerweile den Palast Cantonelli verlassen und schritt, aufmerksam nach rechts und links spähend, durch das Gewühl der Toledostraße.

Plötzlich erblickte er unseren bekannten Lazzaroni Cecci und gab ihm einen Wink, ihm zu folgen.

Rapo schritt hinunter an den Golf, wo Cecci ihn einholte.

»Sind Freunde in der Nähe?«, fragte er kurz.

»Ich sprach heute den roten Lorenzo von Croccos Bande.«

»So lauert Crocco in der Nähe?«

»Ja, er soll verteufelt Langeweile haben. Nach dem Geschäft mit einem Dickwanst von Prälaten hat er keine Arbeit wieder gehabt, die Geschäfte gehen schlecht, Signor!«

»Pah! Ihr passt nur schlecht auf, daran liegt es. Doch nun gehst du sogleich zum Crocco und meldest ihm von mir, dass nach Mitternacht eine Reisekutsche Neapel verließe und den Weg nach Bisaccia einschlüge. Ich säße mit in der Kutsche. Er solle mit seiner Bande mutig angreifen, doch bei seinem Leben, kein Blut vergießen, es sind meine Freunde. Er mag uns alle gefangen nehmen.«

»Auch Sie, Signor Rapo?«, fragte Cecci erstaunt.

»Auch mich, Dummkopf! Soll ich selber als Räuber gelten, ich will dem Crocco dann schon die nötigen Winke geben. Hast du mich verstanden, Cecci?«

Dieser nickte und begab sich sogleich auf den Weg.

Der Student aus Bisaccia kehrte langsam zur Stadt zurück. Doch beschleunigte er seinen Schritt, als er in der Ferne den alten Arzt erblickte und erreichte ihn noch dicht vor dem Palast.

»Sieh da, Signor Rapo!«, rief der Arzt, ihm die Hand reichend, »die Marchesa ließ mich soeben rufen. Hat sich der Zustand des Kranken verschlimmert?«

»Es wird mit ihm in Tobsucht ausarten, wenn er nicht schleunigst unter andere Hände, ich meine in eine Heilanstalt kommt, Doktor!«

»Hab es mir gleich gedacht«, versetzte dieser, »mochte es der Signorina nur nicht sagen. Es klingt schrecklich, ist aber doch das Beste.«

»Ich kenne in Avellino einen tüchtigen Irrenarzt, der würde ihn mir zu Gefallen gewiss aufnehmen, und wenn er noch zu heilen ist, dann gelingt es ihm gewiss.«

»Sie sind also mit der Heilanstalt einverstanden, Signor Dottore?«, fragte Rapo, indem sie den Palast betraten.

»Vollkommen, Signor, ich halte es fürs Beste.«

»Wollen Sie es der Marchesa sagen und ihr den Arzt in Avellino vorschlagen?«

»Wenn ich es wagen dürfte, die Marchesa wird sich nicht von ihm trennen wollen.«

»Sie beginnt sich bereits zu fürchten und hofft, von Ihnen diesen Ausspruch zu hören.«

»Ah, gut, Signor! Sie sollen beide mit mir zufrieden sein.«

Der schlaue Student verabschiedete sich von dem Arzt, nachdem er ihm das Versprechen abgenommen hatte, seiner nicht dabei zu erwähnen, und schlich sich auf sein Zimmer.

»Ach, lieber Freund, ich bedarf Ihres Rates!«, rief Arabella dem Doktor entgegen.

»Betrifft es unseren lieben Kranken?«, fragte der Arzt, Hut und Stock auf einen Sessel legend.

»Ja! Sagen Sie mir aufrichtig, kann der gute Oheim noch geheilt werden?«

»O wohl, gnädigste Signorina! Nur nicht hier im Haus. Er muss in eine Heilanstalt.«

»Sie meinen also auch, mein Freund! Ich möchte ihn aber hier behalten.«

»Dazu ist nicht zu raten, Signorina! Darf ich Ihnen einen Ort vorschlagen, so rate ich zu Avellino. Dort wohnt ein berühmter Irrenarzt, der, wenn es überhaupt möglich ist, unseren Kranken sicherlich heilen wird.«

»Avellino!«, wiederholte die Marchesa betroffen. »Haben Sie bereits mit Signor Rapo darüber gesprochen?«, setzte sie argwöhnisch hinzu.

»Keine Silbe«, versicherte der Arzt, mit der ehrlichsten Miene sie anblickend, »ich sah den Signor seit gestern nicht.«

»Seltsam«, flüsterte sie, »soll ich dies als eine Fügung ansehen, Pasquale zu trauen? Wissen Sie keinen besseren Ort, mia cara?«, fügte sie laut hinzu.

»Keinen besseren, teure Signorina! Und dann, ei, das liegt ja nicht sehr entfernt von Bisaccia. Signor Rapo wird Ihr Reisebegleiter sein und Ihnen dort zugleich befreundete Kreise öffnen.«

Ein Diener trat in diesem Augenblick ein und meldete den Signor Rapo.

»Er ist willkommen!«, antwortete die Marchesa.

»Sie kommen just zur gelegenen Minute, Signor Rapo!«, rief ihm der Arzt entgegen. »Unsere teure Signorina zollt meinem Ratschlag, unseren Kranken in eine Heilanstalt zu Avellino zu bringen, zwar ihren vollen Beifall, doch fürchtet Signorina die Unsicherheit der dortigen Provinz hinsichtlich des Brigantentums. Ich rate zu einigen Soldaten als Schutzwache, was meinen Sie dazu?«

»Ei, Avellino ist ja so zu sagen meine Heimat«, antwortete Rapo, »ich gab, irre ich nicht, der Signorina schon ebenfalls diesen Rat. Es freut mich, Signor Dottore, auf gleichem Weg mit Ihnen zu sein. Avellino birgt die beste Anstalt für solche Kranke. Und was die Unsicherheit der Gegend anbetrifft, so gehört nur ein wenig Klugheit, Mut und Ortskenntnis dazu, um sich die sämtlichen Briganten vom Leib zu halten.«

»Aber die Soldaten, Signor Rapo?«, fragte Arabella kopfschüttelnd, »ich dächte, die wären doch besser als Klugheit und persönlicher Mut?«

»Pah, wir können doch keine ganze Kompanie mitnehmen, gnädigste Signorina? Die besten Rosse, welche sich im Stall befinden, einen leichten Wagen, wir alle gut bewaffnet, das ist die beste Schutzwache. Und dann, die meisten Reisen sind den Räubern in der Regel schon signalisiert, wir haben soeben den Plan gefasst und führen ihn noch in dieser Nacht aus; das ist die erste Klugheitsregel.«

Arabella dachte einen Augenblick nach, dann sagte sie entschlossen: »Nun gut, doch nur unter zwei Bedingungen.«

»Lassen Sie hören, Signorina!«, sprach Rapo, einen triumphierenden Blick mit dem Arzt austauschend.

»Wir haben durch den wunderlichsten Zufall einen Gast aus Deutschland bekommen; den Bruder des Signor Leonardi!«

»Ah, ah!«, machte der Arzt erstaunt, »und der Marchese?«

»Will sich nicht von ihm trennen. Er ist ruhig wie ein Kind in seiner Nähe und gerät in wahre Tobsucht, sobald der junge Mann, ein Knabe fast an Gestalt und Jahren, sich entfernen will.«

»Dann nehmen Sie den jungen Mann mit«, versetzte der Arzt erfreut, »das kann nur von heilsamen Einfluss sein.«

»Es war meine erste Bedingung zur Reise«, sagte Arabella, »indessen ist eine Schwierigkeit dabei, der Vater des Signors ist augenblicklich nicht anwesend, und ohne Erlaubnis desselben geht der junge Mann sicher nicht mit.«

»So lassen wir ihn hier«, meinte Rapo.

»Dann bleibe auch ich mit dem Oheim«, entgegnete die Marchesa fest, »auf der Landstraße mit dem Wahnsinnigen ohne diesen guten Engel zur Seite, nimmermehr!«

»Hm, man müsste dem Marchese die Idee beibringen, dass wir Leonardi suchten«, sagte Rapo mit einem boshaften Lächeln.

»Er hat lichte Momente und würde Misstrauen fassen. Nein, Signor Rapo, ich lasse nicht von meiner ersten Bedingung.«

»Nun gut, die zweite?«, fragte Rapo, sich verbeugend.

»Die werde ich Ihnen später mitteilen, Signor! Mit der ersten ist die zweite Bedingung ebenfalls hinfällig.«

»So lassen Sie mir erst einmal meinen Kranken sehen«, sagte der Arzt, »dann hören wir gleich, wie wir mit dem guten Engel dran sind.«

Lächelnd schritt die Marchesa voran, von dem Arzt gefolgt, während Rapo zurückblieb und ihnen mit höhnischem Ausdruck nachblickte.