Hannikel – 11. Teil
Christian Friedrich Wittich
Hannikel
oder die Räuber- und Mörderbande, welche in Sulz am Neckar in Verhaft genommen und daselbst am 17. Juli 1787 justifiziert wurde
Verlag Jacob Friderich Heerbrandt, Tübingen, 1787
Am folgenden Tag nach seiner Ankunft in Chur begleitete ihn der Sekretär Abiss auf hohen Befehl, vormittags um neun Uhr auf das Rathaus, wo sich das gesamte Tribunal schon versammelt hatte.
Nach wechselseitigen verbindlichen Komplimenten hielt der Kriminalpräsident und Stadtvogt von Chur, D. Bawier, eine Rede über die Gegenstände ihrer Zusammenkunft, worauf Schäfer kurz und bündig antwortete und sodann nach zehn Uhr einen nach dem anderen von den Verhafteten vor sich kommen ließ und verschiedene Fragen an sie richtete.
Alle 16 gaben bei diesem Verhör zuerst ihre Namen falsch an.
Da aber der Kundschafter Hanß Jerg Reinhardt, der sie alle genau kannte, vor sie hintrat und jedem mit fröhlichen Gebärden sagte, wer er sei, so leugnete keiner seinen Zigeunernamen mehr. Bis endlich die Reihe an Hannikel kam. Dieser wollte durchaus nicht Hannikel sein.
»Ich heiße«, sagte er frech hin, »Kilian Schmid und führe sonst keinen anderen Namen.«
Man überzeugte ihn mit Gründen und er blieb doch bei seiner Angabe. Man rief den Kundschafter herbei. Ungeachtet ihn dieser mit sehr bedeutender Mine ansah, ihn Hannikel nannte und an manche ehemalige Verhältnisse erinnerte, blieb er doch ungerührt und wollte den Reinhardt in seinem Leben nicht gesehen und noch viel weniger gekannt haben. Das machte jenen ganz aufgebracht.
Mit vieler Bitterkeit griff er an seine Nase, sah Hannikel unter die Augen und sagte mit schreiender Stimme: »Weißt du nicht, schwarzer Dieb, was du dem Tont bei Reutlingen – du bis noch so unverschämt, alles zu leugnen – du Bösewicht, du Teufel, gehe in dich, und rette deine Seele, dann hier gilt kein Lügen mehr.«
Dies war aber alles in Wind geredet. Der Verstockte blieb hartnäckig dabei, dass er der Kilian Schmid, ein gelernter Jäger sei und weiter keinen Landnamen führe. Zum Überfluss ließ man seine beiden Brüder Geuder und Wenzel noch einmal herbeirufen. Man wies mit dem Finger auf den frechen Leugner hin und fragte sie, wer er sei.
Ohne sich lange zu besinnen, sagten sie: »Dies ist Hannikel, unser Bruder.«
Nun hätte man es sich doch gewiss nicht mehr träumen lassen sollen, dass er seinen Namen noch weiter verheimlichen würde. Und doch tat er es und blieb zum Erstaunen aller Anwesenden unabänderlich darauf, er heiße nicht Hannikel, sondern Kilian Schmid. Man ließ ihn endlich abführen und befahl den Gerichtsdienern, ihn wieder sorgfältig in den Block zu setzen.
Nachmittags um halb zwei Uhr hörte das Verhör auf. Nun beschäftigten sich die Herrn Richter in Chur mit der Berechnung der Arretierungs- und Verpflegungskosten der Verhafteten.
Der Belauf wurde Herrn Oberamtmann erst am Neunten spät abends vom Sekretär vorgelegt und von demselben sogleich berichtigt.
Die Abreise war auf den folgenden Tag festgesetzt. Morgens um 4 Uhr sollten die Gefangenen schon auf die Wagen geschlossen sein und der Abzug angehen.
Aber nun denke man sich das Erstaunen, als die beiden Wächter, Reinhard und Hulzinger am Schlafzimmer des Herrn Oberamtmanns nachts um 2 Uhr anpochten und aus vollem Hals schrien: »Hannikel ist ausgebrochen! Keine Seele weiß, wo er hin ist!«
Herr Oberamtmann glaubte Schlafwanderer vor seiner Tür zu hören. Hannikels Ausbruch schien ihm einfach unmöglich, denn er hatte ihn den Tag zuvor nicht nur selbst an Hals, Händen und Füßen fester im Block anschließen lassen, sondern auch noch überdies aus besonderer Sorgfalt eine Wache für die ganze Nacht bezahlt.
Allein diese unerwartete Nachricht war nur allzu erwiesen und die Bestürzung des für die allgemeine Sicherheit so sehr interessierten Herrn Oberamtmanns über allen Ausdruck.
Er nahm seine erste Zuflucht zu dem edlen und rechtschaffenen Bundespräsidenten Baron von Salis, der ihn den Tag zuvor mit anderen großen Gästen kostbar zu Mittag bewirtet hatte, und bat sich seinen Rat aus. Von Salis, ebenfalls betreten über diesen unerwarteten Vorfall, hielt davor, man sollte die Sache sogleich dem Stadtvogt Bawier zu wissen machen und ihn bitten, es zu veranstalten, dass der Bösewicht durch Streife und Steckbriefe allenthalben schleunigst verfolgt würde. Dies geschah und es wurden 20 Louis d’or auf Hannikels Kopf gesetzt.
Alles kam in Chur in Bewegung. Vorzüglich aber machte sich der sehr rasche Wirt, Pfleger Matthis, um Hannikels Wiederhabhaftwerdung sehr verdient. Herr Oberamtmann ersuchte ihn. Dieser wackere, vom Einfangen der Banditen her alle nur erdenkliche Wege auf den Alpen kundige Mann bot seine beiden Hände. Mit ihm waren zugleich mehrere Bürger, über Hannikels Entweichung aufgebracht, zum Streifen parat. Eine sonst in ähnlichen Fällen in einem demokratischen Staat seltene Erscheinung.
Noch vor vier Uhr schwang sich der gefällige Pfleger Matthis auf sein Pferd, kommandierte eine starke Mannschaft, postierte solche auf alle Straßen hin, die der Entflohene allenfalls beschleichen konnte, durchspähte selbst alle mögliche Schlupfwinkel und gab auch dem Grafen von Salis sogleich Nachricht von dem ganzen Vorgang.
Herr Oberamtmann war selbst etliche Stunden unter den Suchenden und kletterte an den nahen Bergen der Stadt mit anderen herum.
Nach seiner Rückkehr besuchte ihn der Baron von Salis und bald darauf verfügte er sich zu dem versammelten Kriminaltribunal aufs Rathaus, bezeugte sein Missvergnügen über die unachtsamen und treulosen Stadtknechte, welche Hannikeln durchgeholfen hatten und forderte eine Zurückgabe an denen bereits auch vor den Entwichenen bezahlten Unkosten. Die Sache fand anfänglich Schwierigkeiten. Endlich wurden hundert Reichstaler an der Rechnung abgeschrieben.
Nun ließ Schäfer die gesamten Arrestanten in sein Quartier bringen, denn es schien nicht ganz ratsam zu sein, sie noch eine Nacht in ihren bisherigen Gefängnissen zu lassen.
Der Abend kam herbei und es kehrte eine Gruppe Streifer nach der anderen ohne Hannikel nach Hause zurück. Pfleger Matthis, den man am begierigsten erwartete, traf erst nachts um sieben Uhr wieder ein. Er war ganz entkräftet und beinahe halb tot, denn er hatte seit Tagesanbruch nichts als eine kleine Portion Milch und sein fast zu Schanden gerittenes Pferd nur ein wenig Alpengras zu sich genommen.
Nur zwei Stunden von Chur kam er auf die Spur des Hannikels, konnte ihn aber selbst nicht mehr einholen und machte deswegen allenthalben auf den Alpen herum Anstalten, dass drei Tage nacheinander die Wege besetzt, auf den Flüchtling genau gefandet und als angewandt werden solle, damit er ja nicht über die Grenzen käme.
Matthis machte übrigens Herrn Oberamtmann gute Hoffnung, dass der Graf von Salis Hannikel gewiss noch auftreiben werde.
Dieser vor Menschenruhe und Menschenglück auch selbst mit Lebensgefahr alles wagende, durchaus edel gesinnte Reichsgraf wurde äußerst bestürzt als ihm Pfleger Matthis Hannikels Ausbruch hinterbrachte. Die rechtschaffene Majorin von Salis wurde vor Schrecken und Angst wegen des Lebens ihres Schwagers wirklich von einem Fieber befallen.
Der Graf erholte sich sogleich wieder, ließ unverweilt durch die Sturmglocke 80 Mann zusammenrufen und begab sich mit ihnen und seinen Jägern so schnell wie möglich in das Gebirge, welches Hannikel, nach den Gerüchten, betreten hatte.
In diesen Gebirgen verteilte der Graf seine Leute in das Gebüsch, so viel es nur sein konnte. Er selbst aber durchstreifte mit seinem Jäger bis in die späte Nacht hinein alle Haupt- und Nebenwege, welche sonst verdächtige Leute zu durchwandern pflegen.
Seine große Ermattung rief ihn nach Hause. Hingegen ließ er seine Bauern zurück, wies seinen Jäger und ihnen die verdächtigen Plätze an, auf welchen sie Wache zu halten hatten, und befahl ihnen bei harter Leibesstrafe, dass sie nicht von ihrem Posten weichen, mit Tagesanbruch den Streif fortsetzen und nicht nachlassen sollten, bis sie auf die Spur gekommen und Hannikel wieder eingefangen hätten.
Während diesem unausgesetztem Nachsuchen irrte Hannikel in den großen Alpen herum, schlug sich Sargans zu, um in das Walliser oder Klarer Land zu kommen, und auf diese Weise dem Streif ganz zu entgehen. Zum Glück aber fiel auf den dortigen Bergen am 6. und 7. ein tiefer Schnee, und Hannikel wagte es nicht, aus Furcht, verraten zu werden, über denselben zu gehen. Er zog sich auch eine halbe Stunde zurück, um einen anderen Weg zu suchen.
Hier geschah es, dass er unvermutet auf eine Bauernfamilie stieß, die aus 12 bis 15 Personen bestand, auf ihrer Alb geöhmdet ums Mittagessen herum gelagert hatte.
Diese Leute sprachen gerade von den Churer Dieben, als Hannikel hinter sie trat. »Prost, Prosit«, rief er ihnen, sich auf eine Stütze vorwärts lehnend, über die Köpfe hin, »schmeckt es gut? Gibt es nicht auch noch ein paar übrige Brocken für mich?« Man winkte ihn heran, und er setzte sich zu ihnen in den Kreis. Während des Essens fragte er sie, worüber sie bei seiner Ankunft gesprochen hätten.
»Wir redeten«, sagten sie, »soeben von den Churer Dieben, welche heute abgeführt werden sollen. Gäbe es nicht so viel zu schaffen, wir wären ihnen auch zuliebe an die Straße gelaufen.«
»Ich hätte sie selbst auch gerne sehen mögen«, erwiderte Hannikel, das müssen rechte Erzspitzbuben sein. Wenn man sie nur auch fest gepackt hat, dass sie nicht durchgehen können.«
Der Schalk hatte es sich trefflich schmecken lassen und setzte sodann seinen Weg, immer in den Teppich eingewickelt, den er aus dem Gefängnis mitgenommen hatte, damit für seine Kleidung nicht sehen sollte, so schnell wie möglich fort, um einen fremden Himmel zu suchen.