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Allerhand Geister – Zum schönen Brunnen – Teil 5

Allerhand Geister
Geschichten von Edmund Hoefer
Stuttgart. Verlag der I. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1876

Zum schönen Brunnen
Eine Kneip- und Spukgeschichte

5.

Explosionen

Mochte es der liebe Gott wissen, ob der Oberstleutnant Rudolf Kreishaupt in dieser Nacht wieder schlimme Erfahrungen mit dem langgeschwänzten Ungeziefer gemacht oder gar dunkle Gestalten und offene Türen gefunden hatte, wo die einen nicht an ihrem Platz waren und die anderen verschlossen sein sollten. Von einer Äußerung darüber war seinerseits keine Rede, allein er war heute Morgen von der allergrämlichsten Laune, so, als ob er nicht ausgeschlafen hätte oder verkehrt aus dem Bett gekommen wäre. Christopher erfuhr das gleich anfangs, denn er wurde mit seiner herzlichen Vertraulichkeit merkwürdig barsch zurückgewiesen. Er stieg daher auch höchlich erstaunt und die Ohren schüttelnd hinab und erklärte in der Küche, mit seiner Gnaden sei es ganz und gar nicht richtig; entweder sei er schon krank oder werde es in kürzester Zeit.

Viel anders erging es auch den Übrigen nicht: Sie bekamen in der einen oder in der anderen Weise alle ihren Teil von dem merkwürdig ungeduldigen und kritteligen alten Herrn, welcher anscheinend völlig zwecklos jeden Augenblick aus der Tür sah oder auf dem Vorplatz umherflankierte und sich jeden langte, der in seinen Gesichtskreis kam. »Werde wohl einmal zu ihm hinauf müssen«, meinte Frau Justine, als sie davon erfuhr, sah sich diesen Besuch aber erspart, da der Herr, gerade wie gestern, schon um den halben Vormittag gestiefelt und gespornt die Treppe herabkam und ihr an der untersten Stufe begegnete. Ihre freundschaftliche Erkundigung nach seiner Nachtruhe und dem allgemeinen Befinden erhielt eine grämliche und obendrein ausweichende Antwort: Was da viel zu sagen sei? Alte Leute seien eben alt und es gehe mit ihnen nicht mehr so glatt zu wie mit jungen. Na na, ob ihm etwa die Christine, der Unband, Verdruss gemacht habe, oder eine von den Dirnen? Da solle er nur gleich einen derben Trumpf darauf setzen, und sie wolle selber noch einen zweiten dazu tun, bemerkte die würdige Frau lebhaft. Da versetzte er mit sichtbarer Genugtuung und entschieden weniger grämlich, dass solch ein Trumpf unter allen Umständen sein Gutes habe und der Grashüpfer stets einen Dämpfer brauche. Mit diesen mysteriösen Worten ging er davon.

Danach, als er zurückkehrte und sich wie gewöhnlich zu seinem Frühtrunk in der Weinstube einstellte, war die Laune wieder schlechter geworden. Sein Wein stehe da schon viel zu lange auf dem Fensterbrett und sei abgestanden, behauptete er, ohne denselben probiert zu haben. Das gefalle ihm ganz und gar nicht und müsse er sich schon ausbitten, dass man ihm seine Sach bringe wie anderen Gästen, d. h. wenn sie danach verlangen. Aber es scheine eben alles zum Teufel gehen zu sollen!

»Gott bewahre mich!«, sagte der dicke Gottlieb, der wie gewöhnlich zu solcher Winterszeit in der Ecke am Ofen saß und trotz seines bequemen und zufriedenen Ruhens, den alten aufgeregten Freund mit sichtbarem Interesse beobachtete. »Habe schon allerhand von Euer Hochwohlgeboren heutiger kurioser Verfassung zu hören gekriegt, aber so erschrecklich habe ich es mir doch nicht gedacht. Das ist ärger als arg und über die Maßen bedauerlich! Wie soll Euch denn da auch der Wein schmecken? Er wird zu reiner Galle!«

»Ja, er und alles!«, grollte der alte Herr, der sich übrigens in diesem Augenblick sein erstes Glas noch recht gut munden ließ. »es geht alles verquer und kopfüber, und dass euch, dem Herrn Gottlieb Wengler und der Frau Eheliebsten, das alles partout egal ist, das seht, das ärgert mich am meisten!«

»Gott bewahre mich!«, sagte der Wirtkopfschüttelnd noch einmal. »Explizieren Euer Gnaden sich doch nur endlich einmal. Haben selber schon Gift und Tellereisen geholt und …«

»Ja, ihr werdet den Braten schon merken, wenn es zu spät ist!«, brummte der Oberstleutnant. »Dieser Monsieur Laub oder wie er sonst heißt …«

»Mit dem Ihr gestern Bekanntschaft gemacht habt …«

»Den Teufel hab’ ich! Er mit mir, das lasse ich gelten, aber es schmeckt mir nicht. Und wenn ich einmal mit ihm anfange – wollen sehen, ob es ihm besser schmeckt!«

Der brave Wirt schaute seinen Gast mit einem Ausdruck an, den man eigentlich nur als völlig verdummt bezeichnen konnte. Zu einer Erklärung oder Frage kam er jedoch derzeit nicht, denn eben trat Christine ein und meldete, dass die Mutter ihn zu sprechen wünsche und doch nicht aus der Küche fort könne. Sie werde während seiner Abwesenheit in der Weinstube bleiben und – dabei knickste sie ziemlich schnippisch gegen den Alten in der Fensternische – den Herrn Oberstleutnant bedienen. Als der dicke Gottlieb sich hierauf mit ungewöhnlicher, ja man möchte sagen, mit jugendlicher Raschheit erhoben und sich aus der Tür geschoben hatte, trat die Kleine vor den Oberstleutnant hin, machte einen neuen Knicks, schaute ihn noch schnippischer als vorhin an und sprach: »So, nun ist die Luft frei und nun kommen wir zwei beide an die Reihe. Und da will ich denn vor allen Dingen gefragt haben, was der Herr Oberstleutnant – mit der Onkelschaft ist es für jetzt aus – eigentlich wider mich haben und auf mich hacken, mich bei der Mutter verklagen und nun …«

Das kluge Auge des Herrn ruhte auf ihr mit durchdringendem Blick. »So, meinst du?«, unterbrach er sie nun. »Na, wenn das nur nicht erst kommt, das Hacken und Verklagen, meine ich. Und das will ich dir doch gleich sagen: Intrigen und Durchstechereien sind mir in den Tod zuwider und leide ich ein für alle Mal nicht!«

Sie war wohl ein wenig rot geworden, aber ihr Blick begegnete doch tapfer dem seinen. »Intrigen und Durchstechereien?«, wiederholte sie, »was sind das für

Dinger? Ich kenne sie nicht! Ich weiß gar nicht, was du eigentlich willst, Onkel Oberstleutnant«, redete sie in einem Ton weiter, der anfangs ein wenig unsicher, alsbald bittend, ja beinahe etwas weinerlich wurde. »Du bist schlecht gegen mich, und ich habe es so gut mit dir vorgehabt …«

»Buh! Du zischst umsonst, Schlange!«, schob er ein. Er sah dabei doch entschieden milder aus.

»Ich wollte mit dir wegen des guten, armen Herrn Laub reden …«

»Danke, unnötig! Werde schon selber mit ihm sprechen, wenn es Zeit ist!«, fiel er wieder grimmig ein.

»Du scheinst freilich Geschmack an seinen Konfidenzen zu finden, aber ich nicht an den deinen. Ich hasse alle Intrigen und Durchstechereien, sage ich.«

Sie schaute ihn einen Augenblick halb betroffen und halb forschend an, schüttelte dann den hübschen kleinen Kopf und sprach: »Onkel, du bist schlecht, sage ich! Sieh, der Herr Laub ist ein so braver Herr, und es geht ihm doch so traurig; ohne seine Schuld. Wir haben auf dich gerechnet …«

»Ohne den Wirt!«, schob er beinahe ein wenig hohnvoll ein.

»Er hat es so bedauert, dass ihr gestern Mittag gestört wurdet. Er wollte der Namensgeschichte wegen zuerst lieber selber mit dir reden und dass man ihn dann abrief. Und heute musste er nun in aller Frühe zu Georg hinaus …«

»Halt – stillgestanden!«, sagte der Oberstleutnant im Kommandoton. Sein Blick traf sie noch schärfer.

»Wie war das? Zu Georg hinaus, sagst du? Den kennt er und mit dem verkehrt er? Ich sollte sagen, der verkehrt mit ihm?«

»Aber Onkel, sage mir doch nur um Gotteswillen, was du eigentlich willst und argwöhnst? Sie kennen sich, von der landwirtschaftlichen Akademie her, wo sie zugleich studierten. Auf den Georg baute er bei seinem Herkommen hauptsächlich – o du lieber Gott«, brach sie plötzlich mit höchst ärgerlicher Miene ab und stampfte sogar mit dem Fuß, »da kommt schon dieser langweilige Assessor, und ich hätte dir doch noch so viel zu sagen!«

Mit der Laune des alten Herrn war ersichtlich eine sehr erfreuliche Veränderung vorgegangen. Die mürrischen und grimmigen Züge waren aus seinem Gesicht verschwunden und, als er nun sprach, auch die barschen Töne aus seiner Stimme entwichen. »Das sind ja ganz verflucht kuriose Geschichten«, redete er, »und habe ich keine Ahnung, was dabei endlich herauskommen wird. Muss also warten, bis es zu den Konfidenzen des besagten Herrn Laub kommt – für die deinen danke ich, Katze! Du bist eine Intrigantin und ich traue dir nicht. Also bis morgen, kannst du ihm sagen. Heute Abend bin ich beim Sanitätsrat zum Geburtstag. Eines aber will ich dir noch sagen«, fügte er mit eigentümlich aufleuchtendem Blick hinzu, »macht ihr mir ein Z fürs U und ertappe ich euch auf falscher Fährte, so – ah, schönsten guten Morgen, Herr Assessor! Das ist recht, dass Sie so früh kommen! Kleine, was stehst du? Bring dem Herrn doch einen Schoppen und mir auch noch einen. Der Wein mundet mir heute extra!«

Es war ein bewegter Tag. Der Assessor feierte gleichfalls seinen Geburtstag und war so früh erschienen, um sich mit Gottlieb Wengler über den Wein zu verständigen, den man an solchem Fest der Tischgesellschaft vorsetzen könnte. Nun fing die Feier schon an und setzte sich in der muntersten Weise beim Mittagessen und nach demselben noch eine gute Weile fort. Alle waren aufgeräumt, und dass der Oberstleutnant es nicht am wenigsten war, erhöhte die Stimmung der Gäste und beruhigte die Hausgenossen. Mit dem hatte es noch keine Not, dachten sie, und krank wurde der gewiss nicht. Er band auch nun wieder mit aller Welt an, nur nicht, wie morgens, im Bösen, sondern mit allerhand Einfällen und Witzen, sodass man nicht aus dem Lachen kam und selbst die anfangs etwas seriöse Christine zu ihrer alten Munterkeit aufwachte. Und es war dem alten Herrn nur das eine nicht recht, dass einerseits die Sitzung denn doch endlich ein Ende nahm.  Es sei nichts mehr mit dem jungen Volk, bemerkte er achselzuckend gegen Gottlieb Wengler, das höre auf, wo die Alten erst recht anfangen möchten! Und dass er andererseits sie abends nicht in seiner alten Sopfaecke, sondern im Plüschlehnstuhl bei der Frau Sanitätsrätin nebst sonstiger Honoratiorenschaft fortsetzen sollte.

»Darf nicht einmal meine Pfeife rauchen, sondern muss einen solchen neumodischen Glimmstängel zwischen die Zähne stecken …«

»Wenn Ihr nämlich noch Zähne hättet, alter Oberstleutnant!«, schob Gottlieb Wengler schmunzelnd ein.

Und da wurde wieder eine von den heutigen mysteriösen Bemerkungen laut: »Na na, alter Gottlieb, vielleicht beiße ich doch noch einmal, und zwar bald!«

Um vier Uhr brach er zu der herkömmlichen Nachmittagspromenade auf, saß, als er zurückkehrte, mit Gottlieb gewissenhaft die Vesperstunde ab und musste endlich von diesem und den schon erscheinenden Stammgästen ernstlich zum Aufbruch getrieben werden, weil die Sanitätsrätin sonst mit Recht zanken könnte. »Hol sie der Kuckuck und den ganzen Geburtstagseinfall dazu!«, brummte er im Davongehen, rumorte dann noch eine halbe Stunde bei der Toilette in seinen Zimmern umher und war bald nach sieben Uhr, als Christine noch einmal bei ihm anklopfte, verschwunden, ohne dass jemand sein Fortgehen wahrgenommen hatte; kein Wunder, beiläufig gesagt, da zu dieser Stunde die Hausgenossen alle in der Küche oder in der Weinstube zu tun hatten. Und dass er in der letzteren nicht mehr Adieu gesagt hatte, war gleichfalls nichts Merkwürdiges.

»Er wäre am Ende doch noch bei uns hängen geblieben «, witzelte der Apotheker.

Es ging heute Abend in der Weinstube ruhig zu, denn es fehlten auch noch außer dem Oberstleutnant und dem Sanitätsrat selber, ein paar andere Festgäste. Einige waren von der Mittagssitzung her müde, und der Postmeister sah so häufig nach der Uhr, dass der Apotheker spitzig fragte, ob ihm der Hausschlüssel eingeschlossen worden sei. Aber auch der Einfall hatte keine nachhaltige Wirkung; man fühlte sich ungemütlich und ging gleich nach zehn Uhr auseinander.

»Es ist doch nichts ohne unseren Oberstleutnant«, sagte der Apotheker beim Abschied zu Gottlieb Wengler.

»Gleichviel, ob er den Mund auftut oder nicht. Wenn er nur in seiner Ecke sitzt und uns anguckt und es sich so herrlich munden lässt – es wird einem ganz warm ums Herz!«

»Sag ich auch«, sprach der Wirt. »Mir will es ohne ihn nicht mehr schmecken, Gevatter.« Da er die Tür zugeschlossen hatte, nickte er noch ein paarmal bekräftigend vor sich hin, ja schaute im Zimmer, beim Ausschrauben der Lampen, mit ernsthaftem Blick zu der leeren Sofaecke des alten Gastes hinüber. »Na – morgen!«, murmelte er.

Es wurde totenstill im Haus, so still, dass man nach einer Viertelstunde das gesunde Schnarchen des braven Wirts und seiner wackeren Ehehälfte trotz der dicken Wände und massiven Türen in schönster Zweistimmigkeit auf dem Hausflur vernehmen konnte und hier und da das Pfeifen der Mäuse erlauschte, welche unter den schweren Leinwandkoffern und Schränken entlang schossen und Frau Justines Katzen auslachten. Hin und wieder knackte oder rasselte es auch wohl leise, wie es in einem so alten Haus schon einmal passiert, ohne dass man die Laute zu erklären oder nach einem bestimmten Platz zu verweisen imstande wäre. Aber die Stille wurde durch dieselben nicht gestört, im Gegenteil, sie wurde gewissermaßen nur noch bemerkbarer und eindringlicher. Und so still, wie es war, ebenso dunkel war es auch. Es brannte kein Licht mehr, und selbst im Küchenherd waren die Kohlen schon schwarz geworden.

Da, mit einem Mal öffnete sich oben auf dem großen Vorplatz die Tür von Nr. 3. Ein Geräusch vernahm man nicht, aber es fiel ein heller Lichtstreifen von ihr in das Dunkel hinaus. Er verschwand jedoch augenblicklich wieder, und darauf würde ein sehr scharfes Ohr vielleicht ein leises Bewegen erlauscht haben, als ob ein Mensch mit gar zu großer Vorsicht und ein wenig unsicher durch einen dunkeln Raum schlüpft und hier und da mit den Händen umhertastet, um seinen Weg zu finden. Das ließ sich um den ganzen Vorplatz am Geländer des Treppenhauses entlang verfolgen. Dann ging wieder eine Tür auf, das heißt, es fiel wieder ein heller Lichtstrahl für einen Augenblick auf den Gang hinaus, dieses Mal aus Nr. 5, welches Zimmer bekanntlich hinter den Gemächern des Oberstleutnants in der entgegengesetzten Hausecke gegen den Hof zu lag.

In dem Augenblick, als der Lichtstreifen draußen verschwand, sagte eine bebende Stimme: »Um Gotteswillen, Rudolf, weshalb so spät? Der alte Herr kann jeden Augenblick kommen!«

»Ich habe es nicht früher gewagt, Marianne«, sprach der Eintretende gedämpft. Es war der Herr Forstkandidat Laub oder Laubrecht! »Gerade, da ich gehen wollte, hörte ich auf dem Vorplatz noch Geräusch …«

»Das bin ich gewesen«, fiel eine dritte, muntere Stimme ein, »ich bin heute nicht hinten, sondern vorn herauf, weil ich fürchtete, dass die Lore mit ihrem Zahnweh noch nicht schlafen könnte. Und da bin ich an etwas gestoßen. Aber um Eile möchte ich die Herrschaften nun auch bitten«, fügte sie hinzu. »Für den Alten stehe ich nicht ein. Misstrauisch ist er einmal – die Überraschung vorgestern war gar zu dumm, und noch dümmer ist es, dass Sie ihn nicht gesprochen haben, Herr Laubrecht! Also, ich will ins Kabinett gehen. Beeilt euch, Kinder!«

»Um Gottes willen, bleib da, Christine! Ich ängstige mich so!«, flüsterte die Erste wieder, die sich an den jungen Mann schmiegte. »Sag rasch, Rudolf, du hast also mit Georg alles beredet? Will er?«

»Freilich will er, mein liebes Herz. Morgen kommt er herein und wird mit deinem Vater offen sprechen. Aber auch er meint allerdings, dass die Unterstützung des alten Herrn für uns viel wichtiger sei; und es ist, wie Fräulein Christine sagt, zu dumm, dass ich noch nicht mit ihm reden konnte!«

»Genug, Rudolf, genug! Lass mich fort. Wir haben uns gesehen. Ich weiß Bescheid. Um Gottes willen, Christine, das war eure Haustür! Komm, komm!«, flüsterte und bat das junge Mädchen und zog seine Hand aus der des – wir müssen wohl sagen – Geliebten zurück und strebte der Tür zu, welche in das Kabinett des Oberstleutnants führte. »Gute Nacht, lieber Rudolf! Komm Christine! Es war gewiss …«

»Nur ruhig, ruhig, Marianne! Es ist noch alles sicher. Die Haustür war es nicht, sind vielleicht des Alten Ratten gewesen!«, sagte Christine schalkhaft. »Aber besser ist besser, und ihr beide könnt nun schon bis morgen warten!«

Damit öffnete sie auch nun unhörbar den Riegel und die Tür und fuhr mit einem Aufschrei zurück, sodass sie, wenn Rudolf Laubrecht sie nicht aufgefangen hätte, möglicherweise niedergestürzt wäre. Denn im dunklen Kabinett, hart vor der Tür, stand der Herr Oberstleutnant Rudolf Kreishaupt in Lebensgröße, in seinem gewöhnlichen Tagesanzug, die Marschpfeife zwischen den Lippen, das Gesicht gerötet und in den scharfen Zügen und den dunkeln Augen das Drohen eines – militärisch ausgedrückt – siedigen Donnerwetters.

Und da brach es auch schon aus! »So!«, tönte es aus ihm dumpf rollend hervor, »also wirklich ertappt, den leichtsinnigen Kindskopf und den sauberen Monsieur Laub? Und um Mitternacht und in meinem Zimmer, ihr …«

Christine war schon wieder auf und neben ihm und drückte ihre Hand auf seinen Mund. »Onkel, willst du denn das ganze Haus zusammenschreien?«, rief sie.

»Was schwatzest du denn von Herrn Laubrecht und mir? Wir verbitten es uns! Wir sind da in allen Ehren …«

»Ehren!«, grollte der Alte leidenschaftlich.

»So sieh dich doch nur um! So sieh dir doch nur die da an!«, rief das Mädchen mit einem neuen festen Druck auf seine fortgrollenden Lippen und winkte mit dem Kopf gegen die zitternd an Laubrecht sich schmiegende Marianne zurück.

da wurde der Oberstleutnant ruhig. Er machte sich von der Kleinen los und schaute das Paar von unten bis oben an, schüttelte mehrmals den Kopf und sagte endlich mit dem Ausdruck eines großen Erstaunens: »Weiß es Gott, Marianne Stephani! Kind, wie kommen Sie denn zu dieser Stunde hier ins Haus und in diese Gesellschaft? Katze, Schlange, wenn das nicht wieder deine gottverdammlichen Künste sind …«

»Gar keine Künste, sondern die reine Natur, Onkel Oberstleutnant!«, unterbrach ihn das Mädchen schon wieder ganz lustig und schelmisch. »Sollst alles hören, alles sehen; musst nur fünf Minuten lang den Mund halten. Dann braucht Herr Laubrecht nicht mehr mit dir zu reden und ich auch nicht, und du kannst zu Bett gehen!«

Der alte Herr schüttelte den Kopf, aber was wollte er machen! In der nächsten Minute saß er auf einem Stuhl und Christine stand vor ihm und berichtete, was wir in gleicher Kürze dem Leser mitteilen können; dass Herr Stephani, der Apotheker, vor zwei Jahren einen schweren Verlust durch den Fall des Geschäftshauses Laubrecht und Söhne in Dingsda am Rhein erlitten hatte und gleich darauf erfahren musste, dass ein anderer junger Herr Laubrecht seiner Tochter Marianne, die mit Bekannten in einem rheinischen Bad weilte, stark den Hof mache und ernste Absichten zu haben scheine. Der Apotheker war nach Gottlieb Wenglers Versicherung bekanntlich »ein guter Kerl«, schüttete aber gern »das Kind mit dem Bade« aus. Er war durch den Verlust äußerst ergrimmt und auch ernstlich geschädigt worden. Er ließ sich nicht bedeuten, dass dieser Laubrecht mit den bösen Laubrecht und Söhnen in gar keiner Verbindung stehe. Er rief die Tochter zurück, verbot ihr jeden Gedanken an den »unverschämten Menschen«, und bewies seinen bitteren Ernst, als im letzten Herbst Rudolf Laubrecht an ihn schrieb und wirklich um Marianne anhielt, durch den entschiedensten, ja unhöflichsten Abschlag. Die jungen Leute hielten indessen treulich aneinander und kamen überein, dass Rudolf selber herkommen und, wenn auch vorläufig unter anderem Namen, persönlich sein Heil versuchen solle. Das Misstrauen des Apothekers trat ihm bekanntlich aber auch hier entgegen, und es hätte für das Paar übel ausgesehen, wäre der junge Mann nicht mit seinem Studienfreund Georg zusammengetroffen und von ihm an Christine gewiesen worden. Diese schaffte in der Tat Rat und ermöglichte vor allen Dingen eine Begegnung der Liebenden.

»Und wie es nun gekommen ist«, schloss das Mädchen, »das sollst du alles sehen, Onkel Oberstleutnant, heißt das, wenn du recht brav bist«, fügte sie übermütig hinzu. »Komm! Herr Laubrecht, nehmen Sie das Licht! Marianne, du musst jetzt wirklich nach Hause! So! Vorwärts!« Damit zog sie den alten, völlig verstummten, aber unausgesetzt kopfschüttelnden Herrn fort, in das dunkle Kabinett, zu dem großen Schrank. »So, Onkel, da schau dir das einmal an und sage, wie geht es nun weiter?«

»Weiter?«, wiederholte er und sein Auge traf die Übermütige mit einem eigentümlichen, halb forschenden, halb zärtlichen Blick. »Ja wie denn sonst,  so wie bei durchgehenden Gäulen? Immer geradeaus!«

»Richtig, Onkel Oberstleutnant!« Und damit war sie mit einem Sprung in dem tiefen Schrank an der Rückwand, rückte ein wenig, und plötzlich schoben sich die Bretter auseinander und es zeigte sich eine tiefe, dunkle Höhlung, welche in einen anderen, gleichfalls matt erleuchteten Raum hinüberführte. »Na, siehst du?

Recht gewitzt bist du doch noch nicht! Dreizehn Jahre wohnst du hier und hast das nicht entdeckt, und es ist doch kein Hexenwerk! Wären wir nicht so ehrlich, wir

Der Oberstleutnant verbiss, gleich den beiden anderen, ersichtlich nur mühsam das Lachen. »Ja, für solche Intrigen und Durchstechereien bin ich freilich in hundert Jahren noch nicht gewitzt«, sagte er launig.

»Intrigen und Durchstechereien nennst du dies?«, fragte sie entrüstet. »Schämst du dich nicht? Und was war denn das, als du uns vorgestern Abend überraschtest, dass wir kaum uns noch salvieren konnten? Und wie nennst du die heutige Spionage? Sag einmal, aber ehrlich, Onkel, wann bist du nach Hause gekommen?

Ich habe doch aufgepasst! Sieh, das nenne ich Intrigen!«

Nun lachte der Alte wirklich. »Nein«, sprach er, »Intrige nicht, sondern teufelsmäßige Strapaze! Seit fünf Stunden hocke ich hier in der Stube, hungere, durste, langweile, ärgere mich, horche, ob die saubere Bande …«

»Oh!«, sagte Christine kopfschüttelnd. »Gar nicht fortgewesen? Onkel Oberstleutnant, du betrübst mich! Das ist schlecht, so unser Vertrauen zu täuschen!«

»Alles aus Liebe zu dir, du Grashüpfer, dass du dich nicht verhüpfen solltest! Alles aus Liebe, sonst wäre es nicht zu prästieren gewesen, und verdient hast du es auch nicht. Aber nun Frieden, geschlossen und zu Bett gegangen«, fügte er hinzu, strich über Christines glänzende Scheitel und bot die Hand dann der immer noch etwas blassen Marianne. »Sie gehen jetzt hinüber, liebes Kind, und mögen guten Mut haben. Muss hier meines alten Wilhelm Laubrecht Sohn zwar noch ein wenig examinieren; aber er wird ja wohl gut bestehen. Und dann, Kinder«, unterbrach er sich mit schalkhaft lachendem Blick, »eigentlich sollte ich mit hinüber und dem Papa als Geist erscheinen und ihm befehlen, Ja und Amen zu sagen! Kinder, es wäre glorios! Aber wir wollen vernünftig sein. Die da«, und er deutete auf die lachende Christine, »erklärte mich am Ende wieder für einen Intriganten!«

Die hübsche Nachbarin schlüpfte in den Schrank und die Wand schloss sich hinter ihr wirklich fast geräuschlos. Der alte Herr betrachtete den Vorgang ohne besonderes Erstaunen. Denn er wusste gut genug, dass sich solche Verbindungswege zwischen alten Häusern häufiger finden, als viele denken, oft seit Generationen vergessen, zuweilen durch Zufall entdeckt, meistens aber erst beim Abbruch der Gebäude wieder gefunden. Er schloss den Schrank zu, winkte den beiden Zurückgebliebenen, ihm in sein Zimmer zu folgen. Sich wieder zu ihnen wendend und sie mit launigem Blick musternd, sprach er: »So, nun zu euch. Und zuerst zu Ihr, Jungfer – kurz und klar: Wie steht Sie mit dem Georg?«

Die Augen blickten ihn schelmisch an, über die Wangen flog ein helles Erröten. »Mit dero gütigem Wohlnehmen«, versetzte sie mit zierlichem Knicks, »morgen kommt er herein und wird, so viel ich gehört habe, auch bei uns einsprechen. Soll ich ihn an dich verweisen?«

»Damit ich ihn vor deinen Streichen warne?«, fragte er gut gelaunt. »Na also, in diesem Falle – Pardon! Sonst nicht. Und nun zu dem Herrn hier – Kleine, was meinst du?«, brach er ab und schaute Christine mit schlauem Blick an. »Es stehen unten im Kabinett sicher noch volle Flaschen. Hol uns ein paar herauf, Katze, du verstehst ja das Schleichen! Ich habe einen unmenschlichen Durst, merke ich, und zwar seit sieben Uhr und nur um deinetwillen! Der Herr hier – le nommè Laubrecht — bittet um Audienz. Jetzt soll er sie haben. Hole Wein, Kleine, und dann gehst du zu Bett. Wir werden besser ohne dich fertig.«

Der Apotheker hatte, als der Oberstleutnant ihm am folgenden Morgen in voller Paradeuniform seinen Besuch machte und ihm militärisch kurz und präzise des Herrn Laubrecht Unschuld, Liebe, Vorzüge und Aussichten auseinandersetzte, zwar noch mehrere »Kinder mit dem Bade« verschüttet und viele Winkelzüge gemacht.

Allein er fand in dem alten Herrn seinen Mann. Als ihm derselbe zuletzt energisch erklärte, dass er für sich und seine Vögel fortan Ruhe vor Ratten und Gespenstern haben wolle oder fortziehen und zu seinem alten Kameraden Wilhelm Laubrecht übersiedeln werde, da gab der Apotheker seufzend nach. Einen solchen Verlust konnte er weder für sich noch für den schönen Brunnen noch für die Stadt verantworten.

Daheim fand der Oberstleutnant bei seiner Heimkehr gleichfalls alles im besten Gange Gemeinderat Georg war richtig da und wurde ihm feierlich als Bräutigam vorgestellt. »Hätte es im Leben nicht geglaubt, dass diese Kindsköpfe endlich noch einmal so vernünftig würden«, sagte der dicke Gottlieb dabei, indem er sich Feuer für seine Pfeife schlug.

Aber Frau Justine bemerkte dazu fast ein wenig schwermütig: »Es ist uns eine Freude und ein Trost, aber wenn nun gar kein junges Gesicht mehr zwischen uns herum lacht …«

»Hab ich auch schon einmal gedacht, meine werte Frau Wirtin«, fiel der Oberstleutnant bedächtig ein, »allein es ist nichts damit. Was Kuckuck, können wir nicht auch noch lachen ohne sie? Passt nur auf, die kriegt bald genug Heimweh, allein dann ist es zu spät! Aber«, fügte er hinzu, sein Arm umfasste die soeben noch verspottete, voll Schelmerei und Bewegtheit zu ihm aufschauende Christine und sein Auge begegnete mit einem wunderbar schlauen Blick dem fragenden des Wirts, »aber alter Gottlieb, ich sehe es Euch an, dass Ihr einen heidnischen Durst habt – es ist ja auch Eure Zeit! Mann, geniert Euch nicht vor uns, wir halten mit, wenn Ihr uns ein gutes Wort gebt. Also Rüdesheimer Hinterhaus, alter Gottlieb! Es ist unsere letzte Braut im schönen Brunnen! Oder, meine liebe Frau Wirtin?«

»Aber, Herr Oberstleutnant!«, sagte Frau Justine ganz verschämt und ein klein wenig entrüstet.