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Die drei Musketiere 64

Alexander Dumas d. Ä.
Die drei Musketiere
7. bis 10. Bändchen
Historischer Roman, aus dem Französischen von August Zoller, Stuttgart 1844, überarbeitet nach der neuen deutschen Rechtschreibung

XXXI.

Der Rotmantel

Die Verzweiflung von Athos hatte einem tiefen inneren Schmerz Platz gemacht, der die glänzenden Eigenschaften dieses Mannes noch leuchtender hervortreten ließ.

Nur mit einem Gedanken beschäftigt, nämlich an das Versprechen, das er geleistet, und an die Verantwortlichkeit, die er übernommen hatte, zog er sich zuletzt in sein Zimmer zurück, bat den Wirt, ihm eine Karte von der Gegend zu verschaffen, beugte sich über diese, betrachtete die auf derselben gezogenen Linien, fand, dass vier verschiedene Wege von Bethune nach Armentières führten, und ließ die Bedienten rufen.

Planchet, Grimaud, Mousqueton und Bazin erschienen und erhielten klare, pünktliche und ernste Befehle von Athos. Sie sollten mit Tagesanbruch abgehen und sich jeder auf einem anderen Weg nach Armentières begeben. Planchet, der Gescheiteste von allen, sollte denselben einschlagen wie der Wagen, auf welchen die drei Freunde geschossen hatten, und der, wie man sich erinnert, von dem Bedienten Rocheforts begleitet war.

Athos ließ die Bedienten zuerst ins Feld rücken, einmal weil er, seitdem diese Leute in seinem und seiner Freunde Dienst standen, bei jedem von ihnen verschiedenartige und wesentliche Eigenschaften erkannt hatte, und dann, weil Bedienten, wenn sie sich nach etwas erkundigen, den Bauern weniger Misstrauen einflößen, als ihre Messieurs, und mehr Sympathie bei denjenigen finden, an welche sie sich wenden. Endlich kannte auch Mylady die Messieurs, während ihr die Knechte fremd waren.

Alle vier sollten sich am anderen Tag um elf Uhr an einem bezeichneten Ort einfinden. Wenn sie den Aufenthalt Myladys entdeckt hätten, sollten drei zu ihrer Bewachung zurückbleiben, der Vierte aber sollte wieder nach Bethune kommen, um Athos Kunde zu geben und den drei Freunden als Führer zu dienen.

Als diese Anordnungen getroffen waren, gingen auch die Bedienten schlafen.

Athos erhob sich nun von seinem Stuhl, gürtete sein Schwert um, hüllte sich in seinen Mantel und verließ die Herberge. Es war zehn Uhr, um zehn Uhr finden sich bekanntlich in der Provinz nur selten Menschen auf den Straßen. Athos aber suchte offenbar irgendjemand, an den er eine Frage richten könnte. Endlich ging ein Verspäteter vorüber, er näherte sich ihm und sagte einige Worte. Der Mann, an den er sich wandte, wich erschrocken zurück. Er beantwortete jedoch die Frage des Musketiers durch ein Deuten. Athos bot diesem Menschen eine halbe Pistole, wenn er ihn begleiten würde, aber er schlug es aus.

Athos wandte sich zu einer Straße, die ihm der Befragte mit dem Finger bezeichnet hatte, aber als er auf einen Kreuzweg gelangte, geriet er abermals in eine sichtbare Verlegenheit. Da er jedoch auf diesem Kreuzweg mehr als irgendwo einem Menschen zu begegnen hoffen durfte, so blieb er stehen. Bald kam auch wirklich ein Nachtwächter. Athos wiederholte die Frage, die er bereits an die erste Person, die er getroffen, gerichtet hatte. Der Nachtwächter gab denselben Schrecken kund, weigerte sich ebenfalls, Athos zu begleiten, und zeigte ihm mit der Hand den Weg, den er einzuschlagen hatte.

Athos ging in der ihm angegebenen Richtung vorwärts und erreichte die am entgegengesetzten Ende liegende Vorstadt. Hier schien er abermals unruhig und verlegen und hielt zum dritten Mal an.

Zum Glück kam ein Bettler vorüber, der sich Athos näherte und ihn um ein Almosen bat. Athos bot ihm einen Taler an, wenn er ihn begleiten würde. Der Bettler zögerte einen Moment, aber beim Anblick des in der Dunkelheit schimmernden Geldstückes entschloss er sich und marschierte Athos voraus.

Als sie die Ecke einer Straße erreicht hatten, zeigte er ihm von fern ein kleines, einsam gelegenes düsteres Haus. Athos eilte auf dasselbe zu, während der Bettler, nachdem er seine Belohnung erhalten hatte, aus Leibeskräften davonlief.

Athos ging rings um das Haus, ehe er die Türeunter der roten Farbe unterscheiden konnte, mit der es angemalt war. Kein Licht schien durch die Spalten der Fensterläden, kein Geräusch ließ vermuten, dass es bewohnt wurde. Es war stumm und traurig wie ein Grab.

Athos klopfte dreimal, ohne dass man antwortete. Beim dritten Schlag näherten sich im Inneren Tritte, die Tür öffnete sich halb, und ein Mann von hohem Wuchs, bleicher Gesichtsfarbe, schwarzen Haaren und schwarzem Bart erschien.

Athos und er wechselten einige Worte mit leiser Stimme, dann machte der Mann von hohem Wuchs dem Musketier ein Zeichen, dass er eintreten könne. Athos benutzte sogleich diese Erlaubnis und die Tür schloss sich hinter ihm.

Der Mann, den Athos in so großer Entfernung aufgesucht und nur mit Mühe gefunden hatte, ließ ihn in ein Laboratorium eintreten, wo er eben daran arbeitete, die klappernden Knochen eines Skeletts mit Eisendraht aneinander zu befestigen. Der ganze Körper war bereits zusammengefügt, nur der Kopf allein lag noch auf dem Tisch.

Alles übrige Gerät deutete an, dass der Mann, bei dem man sich befand, sich mit den Naturwissenschaften beschäftigte. Es waren hier gläserne Gefäße voll von Schlangen mit Aufschriften nach den Gattungen, getrocknete Eidechsen glänzend wie Smaragde in großen Rahmen von Holz. Bündel von wildwachsenden, wohlriechenden Kräutern, ohne Zweifel mit Eigenschaften und Kräften ausgerüstet, die dem großen Haufen unbekannt waren, hingen an der Decke und in den Ecken der Stube.

Keine Familie, kein Gesinde war zu bemerken; der Mann von hohem Wuchs bewohnte das Haus allein.

Athos warf einen kalten, gleichgültigen Blick auf all diese Gegenstände und setzte sich auf die Einladung des Mannes, den er aufgesucht hatte, zu diesem.

Er erklärte ihm die Ursache seiner Erscheinung und den Dienst, den er von ihm forderte; aber kaum hatte er ihm sein Verlangen auseinandergesetzt, als der Unbekannte, der vor dem Musketier stehen geblieben war, voll Schrecken zurückwich und Gehorsam verweigerte. Athos zog aus seiner Tasche ein kleines Papier, auf welches zwei mit einer Unterschrift und einem Siegel versehene Zeilen geschrieben waren, und bot es demjenigen dar, welcher zu frühzeitig Zeichen des Widerstrebens kundgab. Der Mann von hohem Wuchs hatte kaum diese zwei Zeilen gelesen, die Unterschrift gesehen und das Siegel erkannt, als er sich verbeugte, zum Beweis, dass er keine Einwendung mehr zu machen habe und zu gehorchen bereit sei.

Athos verlangte nicht mehr, stand auf, verließ das Haus, ging auf demselben Weg, auf dem er gekommen war, wieder durch die Straßen, kehrte in das Villa zurück und schloss sich in seinem Zimmer ein.

Mit Tagesanbruch trat d’Artagnan bei ihm ein und fragte, was zu tun sei.

»Warten«, antwortete Athos.

Einige Augenblicke danach ließ die Äbtissin des Klosters die Musketiere benachrichtigen, dass die Beerdigung des Opfers von Mylady um die Mittagsstunde stattfinden solle. Von der Giftmischerin hatte man keine Kunde. Nur wusste man, dass sie durch den Garten entflohen war. Man hatte auf dem Boden die Spur ihrer Tritte erkannt und die Tür wieder verschlossen gefunden; der Schlüssel war verschwunden.

Zur bezeichneten Stunde begaben sich Lord Winter und die vier Freunde in das Kloster, alle Glocken wurden geläutet, die Kapelle war geöffnet, nur das Gitter des Chors war geschlossen. Mitten im Chor war der Leichnam des Opfers in seinen Novizenkleidern ausgestellt. Auf jeder Seite des Chors und hinter dem Gitter war die ganze Gemeinde der Karmeliterinnen versammelt, welche von hier aus den Gottesdienst hörte und ihren Gesang mit dem Gesänge des Priesters vermischte, ohne die Laien zu sehen und von ihnen gesehen zu werden.

An der Tür der Kapelle fühlte d’Artagnan, dass ihn der Mut abermals verließ. Er wandte sich, um Athos zu suchen; aber Athos war verschwunden.

Seiner Rachesendung getreu, hatte sich Athos in den Garten führen lassen, folgte auf dem Sand den leichten Tritten der Frau, von der überall, wo sie erschien, eine blutige Spur zurückblieb, gelangte bis zu der Tür, öffnete diese und drang in den Wald.

Alle seine Zweifel wurden nun beseitigt: Der Weg, auf welchem der Wagen verschwunden war, lief um den Wald. Athos folgte diesem Weg eine Zeit lang, die Augen auf den Boden gerichtet. Leichte Blutspuren, welche entweder von einer Verwundung des Mannes, der den Wagen als Kurier begleitete, oder von einem verwundeten Pferd herrührten, besprenkelten den Weg. Nach ungefähr einer Dreiviertelsmeile, fünfzig Schritte von Festubert entfernt, erschien ein größerer Blutfleck. Der Boden war von den Pferden zertreten. Zwischen dem Wald und dieser verräterischen Stelle, etwas hinter der vertretenen Erde, fand man dieselbe Spur von kleinen Tritten: der Wagen hatte gehalten.

Hier hatte Mylady den Wald verlassen und war in den Wagen gestiegen.

Befriedigt durch diese Entdeckung, welche alle seine Vermuthungen bestätigte, kehrte Athos in das Gasthaus zurück, wo er Planchet fand, der ungeduldig seiner harrte.

Alles war, wie es Athos vorhergesehen hatte.

Planchet hatte seinen Weg verfolgt und wie Athos die Blutspuren bemerkt, wie Athos hatte er die Stelle erkannt, wo die Pferde anhielten; aber er war weiter gegangen, als Athos, und hatte im Dorf Festubert, im Wirtshaus trinkend, ohne viel fragen zu müssen, erfahren, dass um halb neun Uhr am Abend vorher ein verwundeter Mann, der eine in einer Postchaise reisende Dame begleitete, habe einkehren müssen, weil ihm seine Schmerzen das Weiterreisen nicht gestatteten. Der Unfall war auf Rechnung von Räubern gesetzt worden, welche den Wagen im Wald angehalten haben sollten. Der Mann war im Dorf zurückgeblieben, die Frau hatte frische Pferde genommen und ihre Reise fortgesetzt.

Planchet suchte den Postillon auf und fand ihn auch. Er hatte die Dame bis Fromelles geführt und von Fromelles war sie nach Armentières gereist. Planchet schlug einen Seitenweg ein und erreichte Armentières um 8 Uhr morgens. Es war hier nur ein Wirtshaus, das zur Post. Planchet gab sich für einen Lakai ohne Stelle aus, der einen Herrn suche. Er hatte noch keine zehn Minuten mit den Leuten vom Haus gesprochen, als er bereits wusste, dass um elf Uhr abends eine Frau ganz allein angekommen war, ein Zimmer genommen, den Wirt gerufen und diesem gesagt hatte, sie wünsche einige Zeit in der Gegend zu bleiben.

Planchet brauchte nicht mehr zu wissen. Er lief nach dem zum Zusammentreffen bestimmten Ort, fand die drei Lakaien pünktlich auf ihrem Posten, stellte sie als Schildwachen vor alle Ausgänge des Gasthauses und kehrte zu Athos zurück, der gerade die letzte Meldung von Planchet angehört hatte, als seine Freunde wieder erschienen.

Auf allen Gesichtern waren finstere Wolken gelagert, selbst auf dem sanften Antlitz von Aramis.

»Was soll geschehen?«, fragte d’Artagnan.

»Warten«, antwortete Athos.

Jeder zog sich in sein Zimmer zurück.

Abends um acht Uhr gab Athos Befehl, die Pferde zu satteln und Lord Winter und seine Freunde zu benachrichtigen, sie möchten sich zu dem Zug bereithalten.

In einem Augenblick waren alle fünf fertig. Jeder untersuchte seine Waffen und setzte sie in gehörigen Stand. Athos ging zuletzt hinab und fand d’Artagnan bereits ungeduldig zu Pferde.

»Geduld, d’Artagnan«, sprach Athos, »es fehlt noch einer.«

Die vier Freunde schauten erstaunt um sich her, denn sie besannen sich vergeblich, wer der eine sein möge, der noch fehlen sollte.

In diesem Augenblick führte Planchet das Pferd von Athos herbei. Der Musketier sprang leicht in den Sattel.

»Wartet auf mich«, sagte er, »ich komme sogleich.«

Und er sprengte im Galopp davon.

Eine Viertelstunde danach kam er wirklich in Begleitung eines maskierten und in einen großen roten Mantel gehüllten Mannes zurück.

Lord Winter und die drei Musketiere fragten sich gegenseitig mit Blicken. Keiner von ihnen konnte die anderen belehren, denn sie wussten insgesamt nicht, wer dieser Mann war. Sie dachten jedoch, es müsse so sein, da es auf Befehl von Athos geschah.

Um neun Uhr setzte sich die kleine Reitertruppe, von Planchet geführt, in Marsch und schlug den Weg ein, den der Wagen verfolgt hatte.

Sie boten einen traurigen Anblick, die sechs Männer, welche in der Stille hinritten, jeder in seine Gedanken vertieft, düster wie die Verzweiflung, ernst wie die Strafe.