Im Zauberbann des Harzgebirges – Teil 35
Im Zauberbann des Harzgebirges
Sagen und Geschichten, gesammelt von Marie Kutschmann
Die Steinkirche
In unmittelbarer Nähe von Scharzfels liegt in einem harten Kalksteinfelsen eine geräumige Höhle, die den Namen Steinkirche führt. In der Tat deuten auch alle Anzeichen darauf hin, dass dieser Raum einst ein Gott geweihter war und dass er ein Denkmal der ältesten Ausübung des Christentums in diesem Land ist.
Vorn am Eingang erhebt sich eine Kanzel, zu der einige Stufen hinaufführen und von welcher vermutlich ein Eremit der auf dem rasigen Vorplatz lagernden Menge das Wort Gottes gepredigt hat.
Inmitten der achtzig Fuß langen Höhlung gewahrt man eine Art Altar, rings an den Wänden Nischen, in denen wahrscheinlich Heiligenbilder angebracht waren, und am Eingang eine Spitzbogenvertiefung für den Weihwasserkessel. Licht erhielt der Raum durch den Eingang und durch eine Öffnung in der Decke, in welcher vormals wahrscheinlich das Betglöcklein hing.
Die Entstehung dieses seltenen Steingebildes wird durch die Sage folgendermaßen erklärt:
Vor langer, langer Zeit, als noch die Altäre der heidnischen Götter auf diesen Bergen standen, Feuer zu Ehren der Göttin Ostera und des Krodo emporloderten und ihnen blutige Opfer dargebracht wurden, hatten sich alle Bewohner der Umgebung hier versammelt, um ein solches wildes Fest zu feiern. Als sie mitten im tosenden Reigen waren, trat plötzlich ein Eremit unter die unbändigen Sassen. Sein ehrfurchtgebietendes Äußere und seine furchtlose Haltung ließ sie in ihrem Gesang verstummen und verwundert auf den Fremdling blicken. Der aber stellte sich unbekümmert um die halb staunenden, halb drohenden Blicke der Heiden in ihre Mitte und verkündete mit weithin schallender Stimme die Lehre des Christentums.
Anfangs horchte die Menge neugierig auf die fremden Worte, doch als der Eremit begann, ihre Götter zu schmähen, ihr Heiligstes anzugreifen, da erhob sich ein wütendes Geschrei. Empört stürzten die Versammelten über den Alten her und fesselten ihn.
Geduldig ließ dieser alle Schmähungen über sich ergehen und sich hinab auf einen Anger führen. Als er aber dort vernahm, dass man beschlossen habe, ihn wegen des an den Göttern begangenen Frevels zu töten, da blickte der Greis verzweiflungsvoll zum Himmel und flehte um Mut für die schwere Stunde. Nachdem er sein Gebet beendet hatte, war die Furcht aus seinen Zügen gewichen. Mutig entriss er einem neben ihm stehenden Sassen eine hölzerne Axt, hob sie hoch empor und sprach: »So wahr ich mit diesem schwachen Werkzeug das harte Gestein spalten und aus dem unerschütterlichen Felsen einen Tempel zur Verehrung des alleinigen Gottes schaffen werde, so wahr ist in dem Wort, welches ich euch predigte, das wahre Heil und die höchste Kraft.«
Mutig hieb er in den Felsen und Siehe da: Zum Staunen der Menge, die hohnlachend und zweifelnd seine Worte vernommen hatten, gab das harte Gestein den schwachen Streichen nach. In kurzer Zeit zeigte sich den Blicken der Umstehenden eine Öffnung. In demselben Augenblick trat die Sonne aus den Wolken hervor und erleuchtete den Raum mit ihren Strahlen, sodass derselbe wie in Himmelslicht getaucht erschien. Das Wunder wirkte gewaltig auf das Gemüt der wilden Sassen, lautlos sanken sie in die Knie und starrten verehrungsvoll das Werk an, welches durch die schwachen Hände des Greises entstanden war. Einstimmig erklärten die Heiden nun, dass sie den neuen Glauben annehmen wollten und ablassen von den blutigen Opfern, durch die sie bisher ihre Götter geehrt hatten. Willig folgten die Bekehrten dem Eremiten zur Oder, wo er sie taufte und zu Gliedern der christlichen Kirche weihte.
So entstand an jenem Felsenabhang das Gewölbe der Steinkirche mit seiner Kanzel, mit seinem Altar. Noch Jahrhunderte loderten hier auf den Bergen am heiligen Osterfest die Freudenfeuer, durch kirchliche Gesänge zu christlichen Dankopfern verwandelt. Die Bewohner der Umgebung aber wallfahrteten noch lange beim Beginn des Frühlings zur alten Steinkirche, dem ersten Versammlungsort der Christen in diesen Bergen.