Im Zauberbann des Harzgebirges – Teil 34
Im Zauberbann des Harzgebirges
Sagen und Geschichten, gesammelt von Marie Kutschmann
Scharzfels und die Zwerge
Hoch oben auf waldigem Berg erhebt sich die Ruine Scharzfels, eine mächtige, freistehende Klippenmasse, deren graues Gestein weithin schimmert über die Gipfel der Buchen.
Wie majestätisch mag einst diese Burg in das liebliche Odertal geblickt haben, als noch mächtige Türme und Zinnen über ihr ragten, als noch weite Gemächer und Hallen sich auf dem felsigen Fundament erhoben. Alles das ist der Zerstörung anheimgefallen, nur die unerschütterlichen Felsen haben der Zeit und der Vernichtung widerstanden und geben der Nachwelt ein Zeugnis von einstiger Größe.
Als vor mehr denn tausend Jahren Kaiser Karl bestrebt war, den heidnischen Sachsen das Christentum mit dem Schwert aufzuzwingen, da wählten Bedrängte sich Scharzfels als Zufluchtsort. Die mächtigen Felsen bildeten gleichsam eine Burg. Nur hier und da musste ein Raum überdacht oder eine Wand aufgeführt werden, um schützende Wohnungen zu erlangen. Mit leichter Mühe wurde das ausgeführt und die Flüchtigen waren im Besitz einer festen Burg, die sie vor jedem feindlichen Andringen schützte.
Später, als Scharzfels in den Besitz eines freien Grafengeschlechts gelangte, wurde die Felsenburg das Fundament zu einem gewaltigen Schloss. Eine Zugbrücke führte durch den Brückenturm in einen von riesigen Klippen eingeschlossenen Vorhof. Eine lange, steinerne Treppe stieg den Fels hinauf, bis eine zweite, über dem Abgrund schwebende Zugbrücke in eine hohe, gewölbte Halle geleitete. Durch diese erst vermochte man in die Wohnung des Burgherrn zu gelangen.
Später fiel die Burg an Kaiser und Reich, welche manch edles Grafengeschlecht damit belehnten, bis der Besitz endlich an die Herzoge von Celle kam. Da Scharzfels sehr fest gebaut und neben der Burg noch ein besonderes Werk, der Frauenstein, aufgeführt war, so benutzte man denselben als Staatsgefängnis, außerdem aber diente sie den Herzogen als Stätte der Rast, wenn sie große Jagden in der Gegend hielten.
So wurde die Burg jahrhundertelang in gutem Stand erhalten, bis der mächtige Bau der Zerstörungswut der Feinde zum Opfer fiel.
Es war am 16. September, als die französischen Generale Victor und Vauvecoux mit elftausend Mann vor Scharzfels zogen und es zur Übergabe aufforderten.
Der Kommandant der Burg, der Hauptmann von Iffendorf, konnte dem Feind nur eine geringe Zahl Braunschweiger Jäger, die noch dazu zum größten Teil invalide waren, entgegensetzen, aber dennoch wies er entschieden jene Anforderung zurück. Die Besetzung war von gleichem Mut beseelt, zumal sie überzeugt war, dass die Festung uneinnehmbar sei. Hatte sie bis dahin doch noch niemals erobert werden können.
Die Franzosen begannen nun allen Ernstes die Belagerung. Sie schlossen Scharzfels fest ein und zwangen die Bewohner der Umgebung, tätig mit Hand ans Werk zu legen. Von den gegenüberliegenden Bergen wurde die Burg beschossen, sie wurde gestürmt – aber alles vergebens. Schon zweifelten die Franzosen an dem Gelingen ihres Vorhabens, als sich ein verräterischer Einwohner von Lauterberg bereitfand, den Feinden einen verborgenen Pfad zum Frauenstein zu zeigen. Nun hatten die Franzosen gewonnenes Spiel und mit Leichtigkeit konnten sie den tapferen Iffendorf am 25. September zur Übergabe zwingen.
Die französischen Generale hatten nichts Eiligeres zu tun, als nach Paris die Einnahme einer der wichtigsten Festungen Deutschlands zu melden. Große Festlichkeiten wurden zur Feier dieser Eroberung in der französischen Hauptstadt begangen. Indessen waren Victor und Vauvecoux höchst niedergeschlagen, denn außer einigen alten Kanonen und ein paar Zentner Munition hatten sie nicht das Geringste vorgefunden und mussten dazu noch sehr bald einsehen, dass Scharzfels für sie ganz ohne Bedeutung sei. Wütend über diese niederschlagenden Entdeckungen ließen sie Bergleute aus Lauterbach kommen und den mächtigen Bau zerstören. Auch die untere Felsenburg wollten sie sprengen, aber plötzlich wurden sie abgerufen und die Klippen entgingen der Zertrümmerung.
Zur Erinnerung an diese Begebenheiten ist der Ort unterhalb des Burgberges, wo sich das Lager des Hauptheeres befand, Franzosengrund genannt worden.
Solange Scharzfels von Menschen bewohnt war, hauste auch ein Kobold in der Burg, welcher selbst die ungeheuren Felsenhallen und den zum Himmel ragendem Turm mit geheimnisvoller Macht hatte erbauen helfen. Deshalb hing auch dieses nie alternde kleine Männchen in großer Zuneigung an der gräflichen Familie. Wenn derselben irgendein fröhliches Ereignis bevorstand, sah man den Kleinen in hellgrauem Gewand auf den Zinnen, Dächern und Treppen lustig umhertanzen. Drohte den Burgbewohnern aber ein Unglück, so schlich er trübe und finster durch die Gänge des Schlosses. In Zeiten der Ruhe und des Friedens kam er nicht zum Vorschein, sondern ruhte zusammengekauert in den Felsenklüften oder in einem entlegenen Gemach des riesigen Turmes, von wo aus er das Tun und Treiben der Burgbewohner beobachtete. Nur in der Nacht verließ er oft seinen Schlupfwinkel, um den Mägden oder Knappen eine Arbeit abzunehmen.
Als einst ein großes Unglück über die Familie des Burgherrn hereinbrach, welches der Zwerg schon lange vorher durch sein Poltern und düsteres Umherschleichen angekündigt hatte, fuhr er mit gewaltigem Krach durch den Turm in die Luft hinaus, nahm das Dach des Turmes mit hinweg und schrie und klagte entsetzlich. Seit der Zeit litt der Burggeist kein Dach mehr auf dem Turm. Als später auf Scharzfels ein Vergnügungsort errichtet wurde und manchmal ein Sängerfest dort oben gefeiert werden sollte, richtete er es so ein, dass die Festlichkeiten jedes Mal verregneten. Er will keinen Frohsinn mehr auf Burg Scharzfels dulden.
Aber dieser Zwerg war nicht der Einzige, der in der Gegend hauste. Nein, sogar eine ganze Schar des kleinen Völkchens wohnte nahe beim Dorf Scharzfels in dem Gemeindeholz auf der sogenannten Sneie. Hier hatten sie ihre Höhle, von hier aus unternahmen sie ihre Raubzüge. Diese Zwerge, Quärge genannt, glichen sehr wenig dem Burggeist, der den Menschen nur Gutes tat; im Gegenteil, das lose Völkchen bestahl und betrog die Einwohner der Umgebung, wo es nur konnte. Selbst die Kinder, welche von den Frauen, die auf dem Feld arbeiten mussten, in der Kiepe abseits gestellt wurden, waren vor den Anfechtungen der Zwerge nicht sicher. Sie nahmen die Kleinen aus den Körben und legten statt derselben die eigenen hässlichen Kobolde hinein. Bemerkten die Mütter den Tausch sogleich und fingen heftig an zu schreien, dann kamen die Bösewichter rasch herbei, brachten die gestohlenen Kinder wieder und holten die eigenen zurück. Aber nicht immer lief es so glücklich ab und in der Nähe von Scharzfels haben Bauersleute einmal sehr lange solch ein Zwergkind statt des eigenen gehabt. Zu der Edelfrau auf der Burg aber kam nämlich einst ein alter Zwerg und sagte, sie solle einmal seinen Namen erraten. Wenn sie das nicht könne, würde er ihr Kind fortnehmen. Die Dame wurde sehr ängstlich und bat ihn, von seinem Vorhaben abzustehen. Aber der Zwerg schüttelte den Kopf. Drei Tage gab er ihr Zeit; dreimal dürfe sie raten. Sei es ihr dann nicht gelungen, so käme, was er angekündigt habe. Damit verschwand er. Die Edelfrau grübelte vergeblich nach. Wie sollte sie auch den Namen eines fremden Zwerges erraten? Sie wurde tief traurig und weinte bitterlich, wenn sie ihr Kindchen sah. Ein Tag war schon vergangen und der zweite neigte sich seinem Ende zu. Da kam plötzlich des Kindes Amme jubelnd herbeigestürzt. Sie war die Vertraute ihrer Herrin und hatte nur deren Kummer gewusst. Wie sie nun am Fuß des Burgberges entlang gegangen war, da hatte sie plötzlich einen klingenden Ton an dem Felsen vernommen. Als sie neugierig ihr Ohr daran gelegt hatte, um besser horchen zu können, da hatte ein Stimmchen da drinnen ganz deutlich gesungen:
Heute brau ich,
morgen back ich,
übermorgen bin ich Edelkind.
Wie gut ist es, dass die Edelfrau nicht weiß,
dass ich Fidlefitchen heiß’!
Als die Dame das vernahm, schrie sie laut auf vor Freude, herzte das Kind, dankte der Amme. Als der Kleine danach mit seiner Frage kam, siehe, da war der Name richtig und er musste mit langer Nase wieder abziehen.
Alle Abend, wenn es dunkelte und im Dorf die Hausbewohner sich zur Ruhe begaben, machten die Quärge sich auf, um Nahrungsmittel aller Art zu holen. Manch sorgende Hausfrau, die, sich der reichen Vorräte freuend, sie abends selbst gut verwahrt hatte, mochte wohl am nächsten Morgen den losen Dieben fluchen, wenn sie Schüsseln und Teller geleert fand. Die Zwerge nahmen alles, Fleisch, Brot, Mehl, Eier, nichts war vor ihnen sicher. Ihr Leibgericht aber waren Erbsen. Darum hausten sie auch so arg auf den Erbsenfeldern, rissen und stampften in dem Eifer, recht viele zu erlangen, die Stauden nieder. Diese Verwüstungen ihrer wohlbestellten Felder hatten die Bauern schon Jahre hindurch mit großem Kummer angesehen. Aber keiner wusste Rat, die diebischen Zwerge fernzuhalten, denn die machten sich durch ihre Nebelkappen unsichtbar und konnten nicht ergriffen werden.
Da kam einem der Bauern ein guter Einfall. Er ließ die langen Leinen, mit welchen die Pferde beim Pflügen gelenkt wurden, über die Grenzen seiner Felder ziehen und verbarg sich mit seinen Knechten in der Nähe. Bald hörten sie das Trappeln der kleinen Schar, die sehr eilig zu laufen schien. Zu sehen war erst keine Spur von ihnen, aber mit einem Mal prallten die Zwerge mit den Köpfen gegen die Leine, ihre Kappen fielen ab und sichtbar standen sie vor den Augen der Verborgenen. Rasch kamen diese mit ihren Knütteln hervor und hieben die Kleinen so jämmerlich durch, dass sie schreiend auf und davon liefen. Das haben sie den Bauern aber sehr übel genommen und waren so erzürnt, dass sie alle fortzogen. Nur einer blieb zurück und soll noch heute dort wohnen.