Eine Räuberfamilie – Sechstes Kapitel
Emilie Heinrichs
Eine Räuberfamilie
Erzählung der Neuzeit nach wahren Tatsachen
Verlag von A. Sacco Nachfolger, Berlin, 1867
Sechstes Kapitel
Auf der Reise
Auf den Flügeln des Dampfes flog Agnes Walter als reizende junge Touristin durch Deutschlands Gauen dem fernen Süden zu.
Wohl klopfte dem Kind das Herz, als der Vater in Hannover, wohin er sie gebracht hatte, Abschied von ihr nahm. Der Inspektor war des Barons rechte Hand, welcher ihm unumschränkte Vollmacht in allen Geldangelegenheiten durch Siegel und Unterschrift vor seiner Abreise gegeben hatte.
So war es ihm auch möglich gemacht, die große Summe beim Bankier des Barons in Hannover zu bekommen, zumal er demselben Georgs Brief unter dem Versprechen des Geheimnisses gezeigt hatte.
»Der Inspektor des Barons von Waldau«, meinte der Bankier, »könne die doppelte Summe ohne Weigern erhalten.« Er hielt es aber doch für geratener, dem jungen Menschen gute Wechsel auf ein befreundetes Haus in Neapel zu geben, um nicht die kostbare Last des Geldes mitschleppen und behüten zu müssen. Diese Wechsel konnte er wohlverwahrt auf der Brust tragen.
Nach und nach entwickelte sich auf der Reise, von der Notwendigkeit geboten, eine wunderbare Energie in Agnes, eine sichere Selbstständigkeit, die sie vor manchen Unbilden schätzte und ihr die Ungezwungenheit eines Jünglings verlieh. Man schaute in Coupés und auf den Dampfschiffen wohl häufig nach ihr ob ihrer zarten Schönheit und freute sich des bescheidenen jungen Mannes, doch im Übrigen hatte sie durch keine Zudringlichkeit zu leiden, und atmete bald, von dem freien, belebenden Strom der Welt und ihren großartigen Eindrücken fortgetragen, in zuversichtlicher Hoffnung frei und freudig auf.
Sie hatte auf allen größeren Stationen die Spur des Barons gefunden, da sie, durch seine früheren Reisebücher unterrichtet, die besten Gasthöfe aufsuchte und sich auch nicht ein einziges Mal täuschte.
Und doch war er ihr stets um eine Tageslänge voraus, bis sie die Schweiz erreichte, wo er durch einen Unfall gezwungen war, seiner fieberhaften Ungeduld Zügel anzulegen und einen vollen Tag im Gasthof zu bleiben. Dort fühlte sich der alte Herr von den ungewohnten Anstrengungen der Reise so furchtbar erschöpft, dass er tatsächlich eine kurze Rast halten musste, wenn er nicht todkrank in Neapel ankommen wollte. Die Anspannung aller Seelenkräfte durch die furchtbare Aufregung hatte ihn bisher die Beschwerden einer solchen Reise künstlich überwinden lassen.
Schon wollte Agnes weiterreisen, ohne sich in den verschiedenen Gasthöfen nach ihm zu erkundigen, als sie, von Unruhe getrieben, noch einmal umkehrte, um nicht an diesem einen Ort, es war in Basel, ihre Pflicht versäumt zu haben.
Hier fand sie ihn, matt und krank auf dem Sofa liegend, fremden, lieblosen Händen übergeben.
Der alte Mann wusste nicht, wie ihm geschah, als er den zarten Jüngling mit den bekannten Zügen vor sich knien sah und seine Hand von Küssen und Tränen bedeckt fühlte.
»Träume ich, wache ich?«, stammelte er verwirrt. »Du trägst so liebe, bekannte Züge, aber Agnes Walter besitzt keinen Bruder!«
»Und warum soll es nicht Agnes selber sein?«, rief sie unter Freudentränen. »Ja, mein teurer, gnädiger Herr! Ich bin es, Agnes, welche Ihnen nachgeeilt ist mit des Vaters Erlaubnis, um Sie zu trösten und zu pflegen in der Fremde. Wie glücklich bin ich, dass Gott mich Sie finden ließ, wo Sie meines Trostes, meiner Pflege schon jetzt so sehr bedürfen.«
Der alte Baron vermochte vor Bewegung nicht zu sprechen. Er legte die Hände auf ihr Haupt und schämte sich der Tränen nicht, welche über seine Wangen flossen.
»Ich danke zuerst dem gütigen Gott, der dich mir sandte in trüber Stunde, mein geliebtes Kind!«, sprach er endlich. »Ja, du bist meinen Augen ein Trost und meiner Seele eine wirkliche Erquickung. Von dieser Stunde an will ich dich halten als mein leibliches Kind und will für dein Glück sorgen wie ein Vater. Hast du doch in deiner Liebe und Aufopferung für mich alten Mann viel mehr getan, als was ich dir jemals vergelten könnte. Aber nun erzähle mir, wie du nur zu dem wunderbaren Entschluss gekommen bist, mir nachzureisen, und wie dein Vater solches hat billigen können?«
Agnes erhob sich von ihren Knien und ließ sich auf einen ihm gegenüber stehenden Stuhl nieder.
Dann erzählte sie von ihrer Sehnsucht, ihn begleiten zu dürfen, und wie unglücklich sie sich nach seiner Abreise im Schloss gefühlt habe, bis sie nach vorsichtigen Umwegen zu der Erwähnung des zweiten Briefes von Georg kam.
»Weiter, weiter, mein Kind!«, drängte der Baron, als sie inne hielt und ihn mit trauriger Miene anblickte. »Sag mir alles, ich bin aufs Schrecklichste gefasst.«
Agnes zögerte noch einen Augenblick, dann zog sie entschlossen den Brief hervor und reichte ihn hin.
»Mein Gott! Mein Gott«, stöhnte er, als er die Zeilen mit fieberhafter Hast überflog, »so ist Italien doch sein Verderben geworden, die Prophetin behält Recht!«
Er bedeckte sich das bleiche Antlitz mit der Hand und lag eine geraume Weile unbeweglich, um seinen furchtbaren Schmerz auszukämpfen.
»Wir müssen fort, mein Kind!«, sagte er dann entschlossen. Sein Antlitz zeigte wieder die alte Energie. »Hier hilft kein Zaudern mehr. Hat dein Vater nicht an das Lösegeld gedacht? Ich habe eine solch große Summe nicht mitgenommen.«
»Ihr Bankier in Hannover gab mir diese Wechsel auf Neapel, der Vater hat die Sache in Ordnung gebracht.«
»Gut, gut, ich wusste wohl, dass ich mich auf meinen alten Freund Walter verlassen konnte. Ja, mein Kind, an Ruhe ist für uns beide vorerst nicht mehr zu denken. Wir müssen weiter, dass wir so bald wie möglich unser Ziel erreichen. Wir wollen ihn wiedersehen, den armen Leonhardt, und sollten wir diese ganze Summe für seine Leiche hingeben müssen.«
»Aber Sie sind noch so leidend, teurer Herr!«, versetzte Agnes ängstlich, »Sie dürfen so nicht reisen.«
»Nein, ich bin nicht mehr leidend, mein liebes Kind!«, sprach Waldau, ihr mit zärtlichem Lächeln die Hand reichend. »Seitdem du bei mir bist, fühle ich keine Schwäche mehr. Du bist ein Kind noch, und doch ist mir, als hätte ich eine Stütze an dir gefunden, in einer Welt, welche mir seit vielen, vielen Jahren so fremd geworden ist. Doch halte ich es für geratener, dass du, so lange wir in der Fremde sind, als Knabe an meiner Seite bleibst. Und wie nenne ich dich, mein schöner Knabe? Ah, mir fällt der herrlichste Name ein, Fidelio sollst du heißen, deiner Treue und Aufopferung wegen. Dann aber habe ich einen Wunsch, den du mir erfüllen musst.«
»Mit Freuden, gnädiger Herr!«
»Nicht gnädiger Herr, das ist es. Vater sollst du mich nennen, dann ist unser Verhältnis ein schönes, natürliches. Willst du, Agnes?«
»O, wie hoch ehren Sie mich, mein teurer Vater!«, sprach Agnes, vor Freuden errötend.
»Recht so«, sprach der Baron, »nun noch das traulich-kindliche Du, und alles ist, wie ich es wünsche. Mein Freund Walter wird mir den kleinen Raub an seinen Rechten wohl verzeihen. Ah, ich fühle mich trotz des Unglücks, das dieser Brief enthält, wie neugeboren und kräftig genug, dem Verhängnis die Stirn zu bieten. Sieh, mein Kind! Es macht mich ruhig, an eine Fürsehung zu glauben, welche dich in dieser Stunde gesandt hat, um Leonhardt zu retten, und jenen bösen Zauber, der ihn nach Italien zum zweiten Mal geführt und dort in sein Verderben stürzen ließ, zu brechen. Jetzt aber wollen wir vorerst miteinander speisen und dann die nächste Gelegenheit zu unserer Weiterreise benutzen. Willst du so gütig sein, dem Kellner zu klingeln?«
Während Agnes diesem Wunsch nachkam und dem eintretenden Kellner das Nötige auftrug, las der Baron den Brief von Georg zu Ende.
»Wahnsinnig!«, murmelte er plötzlich erschüttert, »o, mein Herr und Gott! Es gibt eine Nemesis auf Erden!«
Er faltete den Brief hastig zusammen und verbarg ihn in seinem Portefeuille.
Nach einer Stunde befanden sich beide bereits wieder auf der Reise und durcheilten mit Eisenbahn und Extrapost bald die weite Strecke, welche zwischen ihnen und dem Ziel ihrer Sehnsucht, Neapel, lag.