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Deutsche Märchen und Sagen 73

Johannes Wilhelm Wolf
Deutsche Märchen und Sagen
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1845

80. Das Stroh des Nixes

Zu Kappeln, einem Städtchen im Strasburger Gebiet, erzählt man sich die folgende Geschichte:

Es wohnte einmal eine Wehmutter in der Stadt, zu der kam der Wassermann und bat sie, seiner Frau in Kindesnöten beizustehen. Die Wehmutter wollte jedoch nicht vor großer Furcht, aber der Nix bat so lange, so flehentlich und gelobte ihr so teuer, dass ihr kein Leides geschehen solle, bis sie endlich mit ihm ging. Als sie ans Wasser kamen, schlug der Nix mit einer Rute darauf. Es teilte sich zur Stunde und beide stiegen eine Wendeltreppe nieder und kamen in eine Kammer, wo eine Wasserfrau auf einem kostbaren Bett in Kindesnöten lag. Als die Wehmutter ihre Pflicht getan hatte, führte der Nix sie dieselbe Wendeltreppe wieder hinauf und gab ihr oben zum Lohn für ihre Mühe ein Büschlein Stroh. Das wollte die Frau zuerst nicht annehmen, denn sie dachte Lohn genug zu haben, das sie wieder wohlbehalten auf festem Boden stand, doch nahm sie es endlich und ging ihres Weges, warf es aber auf der Straße weg. Als sie jedoch zu Hause ankam, da fand sie ein Hälmlein des Strohes, welches an ihrem Kleid hängen geblieben war. Als sie das näher beschaute, war es pures Gold.

Die Leute erzählen auch, dass ein Ritter seine entführte Frau in 77 Seen gesucht und sie endlich in demselben See gefunden habe, wo die Wehmutter gewesen war. Die Frau bezeugte oft, dass in keinem See, selbst in dem der Venus, so schöne Gewölbe wären, wie in diesem.