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Aus dem Wigwam – Der Traum des Abenaki-Häuptlings

Karl Knortz
Aus dem Wigwam
Uralte und neue Märchen und Sagen der nordamerikanischen Indianer
Otto Spamer Verlag. Leipzig. 1880

Vierzig Sagen
Mitgeteilt von Chingorikhoor

Der Traum des Abenaki-Häuptlings

angewaha, der berühmte Häuptling der Abenaki, schlief einst unter einem Tannenbaum ein und träumte einen sonderbaren Traum. Er sah fern im Osten auf dem See eine hellweiße Wolke, die vom Wind dem Land zugetrieben wurde. Als sie näher kam, bemerkte er jedoch, dass der untere Teil derselben ganz schwarz war und sie überhaupt eine merkwürdige Gestalt hatte.

Die Söhne des Waldes versammelten sich in stillem Erstaunen am Ufer und die Priester stimmten heilige Gesänge an. Plötzlich verschwand jedoch die Wolke und ein großes Tier mit unzähligen Armen und Beinen kam zum Vorschein. Auch schien es, als ob sich darauf noch eine Art kleinerer Tiere in Menschengestalt mit der Schnelligkeit und Gelenkigkeit eines Eichhorns bewegten. Zuletzt bemerkte man deutlich, dass sich mehrere derselben an einem dicken Seil in ein kleines Kanu herunterließen und sich dem Ufer näherten.

Sie kamen auch richtig zu den Abenaki und stellten sich unter allerlei Sinnlichkeiten als treue Freunde vor. Es hatte damit indessen nicht seine Richtigkeit. Die Fremden hatten zwar Menschengestalt angenommen, waren aber nichts anderes als schlaue und gefährliche Raubtiere. Sie waren stark, mutig und besaßen größere Klugheit als die Medizinmänner.

Eines dieser Tiere war von großer Schönheit und schien die Königin zu sein. Es hatte Frauengestalt und war mit einem langen Rocke von unbekanntem Stoff bekleidet. An ihren Armen trug sie glänzende Ringe und einer ihrer Hände hielt sie eine Art von Korn, wie man es nie vorher gesehen hatte. Ihre Brust war mit einem Schild geschmückt, auf dem sich zwei Bilder befanden, die kein Priester erklären konnte. Diejenigen, welche mit ihr kamen, sagten, sie sei Königin über eine große Insel, die mächtiger als die ganze übrige Welt sei.

Kurz danach kam eine andere Frau aus dem Dickicht des Waldes, die viel größer und von der Gesichtsfarbe der Indianer war.

»Du gebietest über ein sehr schönes Land!«, sprach die fremde Königin.

»Gewiss!«

»Seine Berge und Flüsse sind unvergleichlich!«

»Ich glaube es!«

»Seine Winde …«

»Sind sanft wie der Hauch eines jungen Mädchens!«

»Hast du noch Raum für mich in deiner Hütte?«

»Du bist zu jeder Zeit willkommen!«

»Weißt du nicht, dass wir Schwestern sind?«

»Nein, ich weiß es nicht!«

»Nun, so höre. Wir haben noch zwei andere Schwestern und von allen bist du die Jüngste. Ich bin die Zweitjüngste und bin hierher gekommen, dir einen Beistand anzubieten und dein Land schöner und fruchtbarer zu machen. Ich habe deshalb einige Gehilfen mitgebracht!«

»Suche dir die schönsten Stelle meines Reiches aus und betrachte meine Untertanen als die deinen; denn ich glaube dir gern, dass wir Schwestern sind!«

»Wozu gebrauchst du jenen breiten Fluss?«

»Er liefert meinem Volk unzählige Fische.«

»Ich wünsche, er gehörte mir.«

»Ich kann ihn entbehren.«

»Sieh den See dort, wie schön er ist!«

»Es ist der schönste See meines Landes.«

»Fluss und See gehören eigentlich zusammen!«

»Gewiss; und ich bin nicht diejenige, die sie teilen will. Betrachte den See als dein Eigentum!«

»Nun habe ich einen prächtigen Fluss mit fruchtbaren Ufern und einen schönen See, aber du hast mir noch keinen Berg gegeben, dessen kühle Winde mich zur Zeit der Sonnenhitze erfrischen.«

»Nimm dir den höchsten Berg, den du siehst, und sage mir, was du sonst noch brauchst.«

»O, meine Wünsche sind bescheiden; nur noch einige Flüsse und Täler, die du leicht entbehren kannst, und noch einen anderen hohen Berg zum Sommeraufenthalt; dann noch einige Seen mit vielen Wasservögeln darauf, mehrere Wälder mit fettem Wild darin und einen Teil des Großen Sees, damit ich meine Walfische unterbringen kann, weiter nichts, vielleicht noch ein Tal, einen Fluss, einen Berg und noch ein anderes Stück des Großen Sees – das wäre so ziemlich alles, was ich mir erbitten möchte!«

Die rote Königin lächelte ob der bescheidenen Wünsche ihrer Schwester und sprach: »Du sollst alles haben!«

Dann nahm jene von allen schönen Flüssen, Seen und Bergen des Landes Besitz und meinte, dies sei so wenig, dass es kaum des Dankes lohne.

Danach kamen alle fremden Tiere ans Land und richteten sich häuslich ein. O, wie waren sie so freundlich gegen die armen Indianer! Sie streichelten sie zärtlich mit der einen Hand und nahmen ihnen mit der anderen ihre schweren Felle ab, damit sie sich nicht erhitzten. Dann kochten sie Feuerwasser und gaben es ihnen zu trinken, damit sie glücklich würden. O, sie waren sehr freundlich!

Nun erwachte Wangewaha. Er hatte so lebhaft geträumt, dass er sich die Augen ausreiben musste, um sich zu überzeugen, dass es nur ein Traum gewesen war. Kurz danach schlief er wieder ein und sah im Land seiner Kindheit eine unzählige Masse fremder Menschen, welche die Wälder niedergehauen hatten und die Flüsse mit kleinen Wolken befuhren.

Am Ufer eines dieser Flüsse stand ein Indianer mit seiner Frau, die ein sterbendes Kind in ihren Armen hielt. Vor ihnen lag ein abgemagerter Hund.

»Siehst du nichts in dem Strom?«, fragte ihn die Frau.

»Ich sehe nichts«, erwiderte jener, »denn die Netze der Fremden haben dem Speer der Indianer nichts übrig gelassen.«

»Hörst du nicht die Tritte eines Büffels?«

»Ich höre nichts, denn die Fremden haben uns nichts als Maus und den Maulwurf gelassen!«

»Dann muss unser Kind vor Hunger sterben. Doch dort sehe ich eine Hütte, deren Farbe mir verrät, dass sie von einem Blassgesicht bewohnt ist.«

»Willst du vielleicht, dass der rechtmäßige Erbe dieses Landes bei seinem Räuber betteln soll?«

»Denkst du nicht mehr an deinen Traum im Wurmmonat?«

»Ja, du hast recht. Der Sohn der Wildnis wird seinen Stolz beugen und den Fremden um Brot für sein Kind bitten.«

Darauf gingen sie zu dem Haus.

Der Weiße, der sie kommen sah, donnerte ihnen entgegen: »Warum hast du meine Blumen mit deinen plumpen Füßen zertreten und meine Herden durch dein wildes Geschrei verscheucht!«

»Der weiße Mann hat am Tag Eulenaugen. Ich habe weder deine Blumen berührt noch dein Vieh gestört. Ich komme nur, dich um Nahrung für mein hungerndes Kind zu ersuchen!«

»Hebe dich aus meinen Augen, Hund!«

»Aber mein Kind wird sterben!«

»Dann gibt es eine Rothaut weniger!«

»So sprachen die Abenaki nicht zu den Fremden, als sie arm und hungrig in ihr Land kamen. Sie gaben ihnen das Brot aus dem Mund und die warmen Felle vom Leib, doch sie sind schlecht dafür belohnt worden!«

Die Augen des Träumenden füllten sich mit Tränen. Am Saum eines Waldes sah er eine tote Fran liegen, die ein halb verwestes Kind in den Armen hielt. Dicht dabei stand sorgenvoll ein Indianer und lehnte sich in stillem Nachdenken versunken auf seinen Bogen. Aus seinen Zügen sprach unbegrenztes Elend, aber seine Augen sprühten wie Feuer. Er lachte, denn vor ihm loderte das Haus des Blassgesichtes in Flammen auf. Er lag nebst Frau und Kindern von sicheren Pfeilen getroffen in den blutigen Blumen seines Gärtchens. Der Sohn der Wildnis hatte sich bitter gerächt.

Dann sah der Träumer die beiden Göttinnen wieder auf demselben Platz, wo sie sich zuerst begegnet waren.

»Du hast ein schönes Land!«, sagte die Jüngste.

»Ein wunderschönes Land!«, erwiderte die andere und sah stolz auf die herrliche Gegend vor sich.

»Es hat schöne Berge!«

»Die Berge sind hoch und schön!«

»Es hat viele prächtige Flüsse!«

»Unzählige!«

»Hast du nicht Platz für mich in deiner Hütte?«

»Platz genug – aber glaubst du, dass er für dich da sei?«

»Weißt du nicht mehr, dass wir Schwestern sind?«

»Das weiß ich allerdings nicht!«

»Wir sind Schwestern, denn du sagtest es ja selber, als wir uns zuerst sahen und ich dir alle Berge, Seen und Flüsse schenkte, die du nur wolltest!«

»O, du Närrin, die du warst. Dergleichen wegzugeben!«

»Aber ich wollte dir eine Freude machen. Warst du denn nicht meine Schwester?«

»Ich kann mich dieser Geschichte nicht mehr entsinnen, aber wenn du mir wirklich früher einmal Gefälligkeiten erwiesen hast, so ist es sicherlich unverschämt, mich daran zu erinnern, und solche Frechheit macht dich selbstverständlich einer jeden Belohnung verlustig! Komme mir deshalb nicht mehr vor die Augen!«

Die dunkelfarbige Königin zog sich scheu zurück und der Abenaki-Häuptling erwachte und erzählte den Traum seinem Stamm.