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Eine Räuberfamilie – Viertes Kapitel

Emilie Heinrichs
Eine Räuberfamilie
Erzählung der Neuzeit nach wahren Tatsachen
Verlag von A. Sacco Nachfolger, Berlin, 1867
Viertes Kapitel
Pompeji

Fünf Stunden von Neapel entfernt, am Fuß des Vesuvs sieht man die einst vor Jahrtausenden durch einen Ausbruch desselben verschütteten Städte Herculanum und Pompeji aus dem Grab erstehen und die Lavadecke des Todes, welche einst in wenigen Minuten eine Fülle von blühendem Leben vernichtete, durch menschlichen Fleiß abwerfen, um mitten in dem Wogen und Treiben einer fremden Zeit als Denkmal der Vorzeit stumm und mahnend uns anzuschauen.

Leise rauschte der Nachtwind über die unterirdische Stadt der Toten, als klage er um Vergangenes, um eine ferne, märchenhafte Zeit. Hoch vom tiefblauen Dom des Himmels leuchteten und blitzten Milliarden Welten herab und langsam schwamm die silberne Mondscheibe durch dieses nächtliche Sternenmeer dahin, in ewig junger Klarheit, wie vor Jahrtausenden so heute. Dieselben blitzenden Sternbilder, welche einst das geschäftige Leben und Treiben dieser Städtebewohner gesehen haben, schauen heute auf die neue Welt und die auferstandenen Totenstädte herab mit derselben Ordnung und derselben ewigen Klarheit.

Das ist ein ewiges Vergehen und Werden, Auferstehen und Sterben in dem schöpferischen All. Nur ewig und unvergänglich bleibt seine Kraft, welche wir den Urquell alles Seins nennen!

Es war Mitternacht. Aus der Ferne erscholl Pferdegetrappel, dessen Echo weit durch die Mauern Pompejis tönte. Zwei Reiter hielten an und spähten eine Zeitlang schweigend mit angestrengten Blicken umher.

»Habt doch nicht recht gehandelt, gnädiger Herr, dass Ihr die Warnung so in den Wind geschlagen hattet«, flüsterte der eine, in welchem wir Georg erkennen. »Was kümmert uns der falsche Welsche. Er wird nicht kommen, aber uns irgendeinen Banditen auf den Hals schicken.«

»Das verstehst du nicht, Georg!«, versetzte Leonhardt leise, »ich sage dir, er wird kommen.«

»Puh, mir kommt es hier so schauerlich vor wie auf einem Kirchhof«, meinte Georg, sich dichter in seinen Mantel hüllend, unter dem er zwei Degen verborgen hielt.

Nach ungefähr fünf Minuten hörte man neues Pferdegetrappel in der Ferne.

»Aha«, sagte Leonhardt, »jetzt bekommen wir Gesellschaft.«

In brausender Karriere kam ein Reiter daher gestürmt, welcher in dem hellen Mondenschein wie der gespenstige, wilde Jäger erschien.

»Das ist mein Mann«, sprach Leonhardt hastig. »Georg, bringe dem alten Herrn meine letzten Grüße und meinen letzten Dank, falls mir etwas Menschliches passieren sollte. Sage ihm, der Tod meiner Mutter wäre gesühnt! O, Mutter! Mutter!«, setzte er unhörbar hinzu, »wohin ich blicke, schaue ich dein blutiges Haupt, nimm doch deinen zweiten Sohn auch zu dir!«

Nun hielt der Reiter in ihrer Nähe, es war Pasquale Rapo. Sein Pferd wieherte und dampfte von dem fürchterlichen Ritt.

»Schon da?«, rief er mit lustiger Stimme, »willkommen, Signor Tedesco, in den Mauern von Pompeji. Es wäre keine geringe Ehre für Sie, bei den ruhmvollen Vorvätern Italiens Ihr Grab zu finden.«

»Wäre es gefällig, Signor?«, fragte Leonhardt mit eisiger Ruhe. Er war ein äußerst gewandter Fechter und im ehrlichen Zweikampf fürchtete Georg nichts für seinen Herrn, nur den Gedanken an das Banditen Stilett konnte er nicht loswerden. So wurzelte sein Blick bald an dem Studenten, der mittlerweile vom Pferd gesprungen war und es an eine Pinie anband, bald flog er ängstlich mit Blitzesschnelle umher, um irgendeinen heimlichen Feind zu entdecken.

Leonhardt schwang sich ebenfalls aus dem Sattel, warf Georg den Zügel zu und ließ sich von ihm einen Degen reichen, welchen er gleichgültig untersuchte und bog, um seine Schärfe und Elastizität zu untersuchen.

Rapo schritt einige Minuten auf und nieder, focht mit der Klinge durch die Luft und begann eine Melodie zu pfeifen.

»Ich habe noch einen Gruß von Signorina Arabella an Sie zu bestellen, Signor!«, rief er plötzlich mit lauter, höhnender Stimme. »Sie lässt Ihnen durch mich eine glückliche Reise wünschen, sei es nun in die deutschen Heimat, sei es in das Reich der Toten!«

Leonhardt schaute einige Augenblicke mit der Ruhe eines Menschen, der vollständig mit allem Irdischen abgeschlossen hatte, zum Sterben bereit war, in die klare Mondscheibe. Was kümmerte ihn noch der Hohn eines Menschen, der in seinen Augen nichts war als die Hand des Zufalls, welche ihn nach dem furchtbaren Bekenntnis jenes Mannes, der unzweifelhaft sein Vater war, von einem qualvollen Leben befreien sollte.

Und Arabella?

Er lächelte melancholisch. Wie hatte er diese Frau nur eine einzige Minute lieben können? Wie klein und erbärmlich erschien sie ihm nach der letzten Stunde.

»Ich bin bereit, Signor Rapo!«, sprach er mit vollkommen ruhiger Stimme, indem er sich die Haltung eines Fechters gab.

Der Student biss sich auf die Lippen. Ihn ärgerte die Ruhe seines Gegners, die ihm leicht gefährlich werden konnte. Er hätte ihn gar zu gern zum blinden, leidenschaftlichen Zorn entflammt.

Im nächsten Augenblick klirrten die Degen aneinander und glänzten blitzartig im Mondlicht.

»In die Hölle mit dir, Hund von Tedesco!«, schrie Rapo, wütend auf ihn eindringend.

Da schienen plötzlich Gestalten aus den Ruinen aufzusteigen und wie Geister mit geschwungenem Stilett näher zu kommen.

»Um Jesu Willen, gnädiger Herr! Wir sind verraten!«, schrie Georg, indem er die Pferde näher an die Kämpfer drängte, um seinen Herrn zu retten.

Leonhardt senkte auf den Schreckensruf seinen Degen und schaute sich überrascht um.

Diesen Moment benutzte Rapo, indem er ihm hohnlachend seinen Degen in die Brust stieß, dass Leonhardt stöhnend zusammenbrach, worauf der Mörder mit der größten Seelenruhe sein Ross losband, sich hinaufschwang und in gestrecktem Galopp davonsprengte.

Dies alles war das Werk einer Minute. Erst jetzt, als der Student davonjagte und das Donnern der Rosshufe an sein Ohr schlug, kam Georg zum Bewusstsein des Entsetzlichen, was soeben geschehen war.

Sein Herr lag erstochen am Boden, und da standen, wie aus den Ruinen emporgewachsen, drei oder vier unheimliche, wilde Gestalten, bewaffnet bis an die Zähne, ja, täuschte er sich nicht im Mondlicht, dieselben Gestalten, welche den Überfall am Golf in voriger Nacht ausführten.

»Her mit allem, was du an Geld und Kostbarkeiten bei dir führst«, herrschte ihn der Anführer an, »nicht gemuckst oder du bist ein Kind des Todes!«

Georg zog seine Uhr aus der Tasche, ein Erbstück seines Vaters, welches ihm für kein Geld feil gewesen war, dann sein Portemonnaie mit etwas Silbergeld. Der gute Bursche sah nur seinen armen Herrn. Er dachte an nichts mehr als an ihn. Dann fuhr ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf.

»Ihr sollt alles haben, was ich an Wert besitze«, sagte er, »nur lasst mich meinen armen Herrn mitnehmen.«

»Wenn er hergegeben hat, was er bei sich trägt. Untersuch ihn, Cecci!«

»Corpo di bacco! Der Hund scheint noch zu leben«, rief Cecci, unser bekannter Lazzaroni aus Neapel, indem er dem armen Leonhardt den Degen aus der Brust mit einer grausamen Freude riss.

»Ein schöner Signor! Er soll leben«, rief Filomena, »weg von ihm, Hund von Lazzaroni! Ich will seine Wunde verbinden, auf dass er nicht verblute.«

Carlo Schiavone lachte laut auf und betrachtete dann die Pferde, deren Zügel Georg, welcher, von Verzweiflung überwältigt, herabgesprungen war, hingeworfen hatte.

»Sachte, sachte, meine Jungen«, sagte der Räuber, die Zügel der beiden Pferde ergreifend und sie an die Pinie befestigend. »Ihr entschädigt einigermaßen für diese beiden Lumpenhunde.«

Georg war neben seinen bewusstlosen oder toten Herrn niedergekniet und unterstützte die Brigantine in dem Samariterdienst, den sie dem Verwundeten leistete. Leonhardts deutsche Männerschönheit zog sie an. Man sah, dass sie eine außerordentliche Fertigkeit in chirurgischer Behandlung der Wunden hatte. Sie verband ihn aus einer kleinen Tasche, welche sie zu dem Behuf stets mit sich führte, da es ohne Hiebe und Stiche selten abging, so gut es unter diesen Umständen möglich war.

»Ich flicke den schönen Tedesco wieder zusammen«, sagte sie lachend. »Schiavone, wir nehmen ihn mit. Er ist meine Beute. Wir bringen ihn der Seraphine, da wollen wir ihn, dem Pasquale zum Trotz, heilen.«

»Schweig, Närrin! Du bringst uns mit deiner Zunge an den Dreibein«, schnaubte der Räuber, »gebt dem Hund den Gnadenstoß und nehmt was er hat, dann lasst ihn liegen.«

»Erbarmen«, flehte Georg in Todesangst, »sein Leben kann Euch mehr nützen. Er ist reich, sein Vater wird ein hohes Lösegeld für ihn zahlen.«

»Ah, das klingt freilich anders, aber sein Vater ist weit von hier, in Deutschland!«

»Ich schreibe noch in dieser Nacht, o, nennt mir nur die Summe, sie ist in wenigen Tagen hier.«

»Gut«, sagte Schiavone nach kurzem Bedenken, »der Alte mag 5.000 Scudi zahlen, dann mag er den Jungen, tot oder lebendig, sich wieder holen.«

»Er wird leben«, versicherte Filomena mit einer Anwandlung von Gutmütigkeit. »Ich bringe ihn meiner Freundin, die verliebt sich auf der Stelle in ihn, und dann ist er gerettet. Für einen Liebhaber opfert eine Italienerin alles, wenn es sein muss, ihr Leben.«

Georg war in einer unglückseligen Lage. Konnte er den Räubern vertrauen? Und wenn sich die Brigantine in seinen Herrn wirklich verliebte, würde sie ihn dann um alle Schätze der Welt ausliefern? Hier galt nun freilich kein langes Besinnen, ihm blieb keine andere Wahl, als sich mit dem Begehr des Räubers zufrieden zu stellen.

»Wie aber soll ich Euch wiederfinden?«, fragte er mit einem tiefen Seufzer.

»Es soll zwölf Tage nach dieser Mitternacht in jeder Nacht um dieselbe Stunde jemand hier harren, um deinen Bescheid zu empfangen. Die Losung ist San Gennaro!«

»San Gennaro!«, wiederholte Georg seufzend, »ich werde es schon behalten.«

»Und das Lösegeld?«

»5.000 Scudi, viel Geld, edler Räuber!«

»Narr! Das Leben ist doch mehr wert«, gab Filomena lachend von sich. »Müssen wir den Toten nicht erst wieder zusammenflicken?«

»O, edle Signorina! Schwört mir bei allem, was Euch lieb und teuer ist, bei dem Haupt Eurer Mutter und der Seele Eures Kindes, über meinen armen Herrn zu wachen, als sei es Euer leiblicher Bruder!«

»Das schwöre ich dir, Tedesco!«, rief Filomena, feierlich die Hand erhebend. »Von diesem Schwur kann mich kein Priester absolvieren.«

»Jetzt ist es genug«, herrschte Schiavone, »sonst machst du mir diese Seele ganz ketzerisch mit deiner Salbaderei. Vorwärts, Hund! Die Pferde bleiben hier.«

»Kann ich mir denken«, murmelte Georg, die kalten Hände seines Herrn mit Küssen und Tränen bedeckend. »Gott sei uns allen gnädig, hätten wir dieses Land doch niemals betreten.«

Schiavone schwang sich auf Leonhardts Ross, während Filomena das andere bestieg und den Verwundeten behutsam quer vor sich über den Sattel legte.

»O, Herr! Noch eine Bitte!«, flehte Georg.

»Was soll es?«

»Lasst mir die Uhr, ich bringe Euch auch dafür ein Lösegeld.«

»So bringe zehn Scudi mit«, forderte der Räuber, indem er das Pferd antrieb. »Maledetto, du siehst, ich bin billig, habe dir sogar Dein Leben gelassen.«

Die beiden Reiter stürmten in östlicher Richtung davon. Als Georg sich laut schluchzend umwandte, waren die beiden anderen Räuber spurlos verschwunden.

Der ehrliche Bursche stand nun allein in der fremden Gegend, wo ihn die Trümmer einer längst vergangenen Welt gespenstisch anstarrten.

Er horchte noch eine Zeitlang auf das verhallende Pferdegetrappel und wandte dann, von Schauer und Kummer erfüllt, seinen Fuß, um nach Neapel zurückzukehren und sogleich einen Brief an den alten Baron von Waldau nach Deutschland zu schreiben.

Den Brief von heute Morgen hatte er bereits abgesandt und den alten Herrn so zu sagen schon auf das Unglück vorbereitet.

Wie bitter beklagte er es nun, nicht schon früher geschrieben und dem Baron alles mitgeteilt zu haben. Vielleicht säße der junge Herr dann wohlbehalten in der schönen Heimat, während er nun, auf den Tod verwundet, von Banditen gepflegt, vielleicht schon in diesem Augenblick eine Beute des Todes sei.

Georg hatte sich in seinem ganzen Leben, selbst beim Tod seiner Eltern nicht so unglücklich gefühlt, wie nun. Es war die furchtbarste Nacht seines Lebens.