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John Sinclair Classics Band 43

Jason Dark (Helmut Rellergerd)
John Sinclair Classics
Band 43
Das Hochhaus der Dämonen

Grusel, Heftroman, Bastei, Köln, 23.04.2019, 66 Seiten, 1,90 Euro, Titelbild: Ballestar
Dieser Roman erschien erstmals am 15.03.1977 als Gespenster-Krimi Band 183.

Kurzinhalt:
Das Hochhaus passt überhaupt nicht in die Landschaft. Wie ein viereckiger Klotz sticht es aus der Wiesen- und Waldlandschaft hervor, verschandelt die Natur, und selbst die farbig angestrichene Fassade tut nichts dazu, um den Anblick zu verschönern.

Aber diejenigen, die in diesem Haus leben, stört das nicht. Für sie ist es nur wichtig, eine Wohnung zu haben …

Leseprobe

Harry Custer schob wütend die Sandwich-Brote zur Seite.

»Linda!«, schrie er. »Den trockenen Fraß kann ja kein Mensch essen. Wenn ich schon den ganzen Tag über schufte, will ich wenigstens was Anständiges auf den Teller bekommen.«

»Stell dich nicht so an«, rief Linda Custer aus der Küche zurück. »Wenn dir mein Essen nicht passt, dann geh doch in die nächste Snack-Bar. Außerdem habe ich jetzt keine Zeit. Mein Dienst fängt pünktlich um zwanzig Uhr an. Würdest du mehr verdienen, brauchte ich nicht zu arbeiten und könnte dir jeden Tag feinstes Filet servieren.«

Harry Custer lachte grunzend. »Du weißt ja noch nicht mal, wie Filet aus­sieht«, sagte er, aber so leise, dass seine Frau es nicht hören konnte. Wenn er Linda zu sehr reizte und sie einen Wut­anfall bekam, hatte er nichts zu lachen.

Harry Custer stand auf. Er drehte den Ton vom Fernseher leiser und ging in die Küche.

Linda spülte. Sie sah gar nicht auf, als ihr Mann kam, sondern fragte nur: »Was willst du?«

Custer lehnte sich an den Türrahmen. »Ich hole mir was zu trinken.«

Linda nickte, ohne von ihrer Spülerei aufzusehen.

»Im Keller steht noch eine Kiste Bier.«

Harry Custer massierte sein Kinn.

»Shit«, knurrte er, »für zwei Flaschen extra in den Keller fahren. Und über­haupt – Keller im Hochhaus. Wo gibt’s denn so was?«

»Beschwer dich beim Architekten.« Linda drehte den Kopf und sah ihrem Mann erst jetzt ins Gesicht. Und wieder dachte Harry daran, dass seine Frau ruhig nur die Hälfte wiegen könnte. Vor fünfzehn Jahren, als sie geheiratet hat­ten, da war sie noch knackig gewesen, aber heute erinnerte sie Harry manchmal an einen weiblichen Sumo-Ringer.

»Willst du nicht runterfahren?«, fragte

Linda. »Sonst verdurstest du noch. Aber geh nicht wieder bei dem alten Kilrain vorbei. Letztes Mal musstest du krank­feiern, so habt ihr gesoffen.«

Harry winkte ab. »Wärm nicht immer den alten Kohl auf.« Er drehte sich um und nahm die von Linda gestrickte Jacke vom Garderobenhaken. Dann steckte er die Schlüssel ein und schlurfte aus der Wohnung.

Ohne Übergang gelangte Harry Cus­ter in den langen Gang des Apartment­hauses. Es war ein trostloser Korridor. Rechts und links die Türen der einzelnen Apartments und Wohnungen. Die Wände waren grün angestrichen worden. Kin­der hatten sie eingeritzt und ihre Figuren gezeichnet. Dazu kamen noch die Obs­zönitäten, die einige Halbwüchsige an die Wände geschmiert hatten.

Harry Custer wartete auf den Lift. Er hatte bereits auf den Knopf gedrückt, und der Fahrstuhl war schon unterwegs. Die einzelnen Zahlen, die die Etagen an­zeigten, blinkten hintereinander kurz auf.

Dann hielt der Lift. Custer zog die Tür auf und wollte gerade einsteigen, als er hinter sich die Frauenstimme hörte.

»Lassen Sie die Tür auf, Mister Cus­ter.«

Harry drehte sich um, und sofort ver­klärte sich sein Gesicht. Eine bessere Be­gleitung hätte er sich gar nicht wünschen können. May Chandler, das superblonde Fotomodell und Callgirl, trippelte auf den Lift zu. Trippeln war genau der rich­tige Ausdruck, denn größere Schritte ließ der enge schwarze Rock nicht zu.

May lächelte Custer an. Sie schob sich gekonnt an dem Mann vorbei und hatte nichts dagegen, dass ihr Busen über seinen Oberkörper strich.

Custers Augen bekamen den gewissen Glanz. Und als er in den weiten Aus­schnitt der roten schillernden Seiden­bluse sah, wurde ihm heiß und kalt zugleich.

May Chandler führte eine Hügelland­schaft spazieren, die nicht von schlech­ten Eltern war.

»Wollen Sie die Tür nicht schließen, Mister Custer?«, fragte sie und produ­zierte dabei einen gekonnten Augenauf­schlag.

»Äh … natürlich … hatte ich ganz vergessen. Wohin möchten Sie denn?«

Mays Zunge fuhr über die himbeerro­ten Lippen. »Ins Erdgeschoss.«

»Okay.« Harry Custer drückte auf den entsprechenden Knopf.

May lehnte an der Wand und lächelte, während Custer unruhig von einem Fuß auf den anderen trat.

»Ich gefalle Ihnen wohl, was?«, fragte sie.

Custer grinste. »Und wie. Wenn ich ehrlich sein soll …«

»… dann kommen Sie am besten mal zu mir«, meinte die Hellblonde. »Ich nehme zehn Pfund für die Stunde. Ist aber alles mit enthalten. Du wirst dich wundem.«

»Meine Frau … ich … äh …« Custer geriet ins Stottern, doch noch ehe er einen klaren Satz herausbringen konnte, hatte der Lift das Erdgeschoss erreicht.

May Chandler spitzte die Lippen. »Bis später mal«, sagte sie und verließ hüftschwenkend den Lift.

»Mensch, ist das ein Weib«, sagte Harry Custer andächtig und überlegte bereits, wie er zehn Pfund lockermachen konnte, ohne dass seine Frau etwas da­von merkte.

Allerdings ahnte Custer nicht, dass er sich vergebens über dieses Problem den Kopf zerbrach, denn er hatte in diesem Augenblick nur noch zehn Minuten zu leben.

Harry Custer fuhr eine Etage tiefer, in den Keller. Auch hier erstreckten sich lange, schachbrettartig angelegte Betongänge. Dazwischen die einzelnen Keller. Die Eingänge waren mit Lattenverschlägen gesichert. Schwere Vorhän­geschlösser schützten die Holztüren.

Harry Custer befand sich momentan allein in dem großen Kellergewölbe. Er hatte Licht gemacht. An der Decke waren Leuchtstoffröhren aufgeflammt.

Harry marschierte pfeifend auf seinen Keller zu. Er erreichte einen Quergang, bog rechts ab, und die vierte Tür auf der linken Seite beherbergte seinen Keller­raum.

Damit jeder der Mieter den Kel­ler auch fand, waren über die Tür die Nummern der Apartments angebracht worden. Aus seiner Cordhose holte Cus­ter den Schlüssel hervor und schloss den Verschlag auf.

Die Holztür quietschte etwas in den Angeln, was Custer jedoch nicht im Geringsten störte. Er schaltete auch im Kellerraum das Licht ein und suchte nach der Bierkiste.

Seine Frau hatte so aufgeräumt, dass er nichts wiederfinden konnte. Von ihrer Mutter hatte sie vor Kurzem eine alte Anrichte bekommen, die die Hälfte des Platzes einnahm. Harry Custer schloss die rechte der beiden Türen auf, bückte sich, peilte in den Schrank und fluchte.

In der Anrichte stand kein Bier, sie war vollgestopft mit Konservendosen.

»Ist das ein blödes Weib«, schimpfte Harry Custer, erhob sich ächzend und trat wütend gegen die Tür der Anrichte. Mit einem Knall fiel sie zu.

Schon ziemlich böse blickte sich Harry Custer in dem kleinen Keller­raum um.

Der Kasten stand direkt vor seinen Augen. Zwischen Anrichte und Wand.

»Mist«, meinte Custer, wollte auf die Bierkiste zugehen, doch seine Beine ge­horchten ihm auf einmal nicht mehr.

Harry Custer klebte am Boden fest.

»Was ist das denn für eine Schei…?«

Den Rest verschluckte der gute Harry. Noch im gleichen Atemzug weiteten sich seine Augen vor Entsetzen.

Er konnte seine Füße nicht mehr se­hen!

Sie waren im Kellerboden ver­schwunden.

»Das … das ist doch unmöglich«, stotterte der Mann. Mit aller Gewalt versuchte er seine Füße hochzureißen.

Vergebens. Sie saßen fest, wie ange­schmiedet.

Angstschweiß sammelte sich in Cus­ters Nacken. Und plötzlich sah er, wie sich der gesamte Kellerboden bewegte. Wellenförmig, wie ein Sumpfgebiet, das seine Opfer gnadenlos in die Tiefe zerrt.

Sumpf, das war genau der richtige Ausdruck. Aber wie sollte hier in den Keller eines Hochhauses ein Sumpf hin­kommen? So etwas gab es nicht, das war unmöglich…

Harrys Gedanken stockten.

Bis zu den Knien war er schon ein­gesunken. Und jetzt hörte er auch das furchtbare Schmatzen und Gurgeln. Der Boden des Kellers begann röt­lich zu schimmern, wurde sogar etwas durchsichtig, und Harry Custer konnte fratzengesichtige Gestalten erkennen, die ihn anstarrten und die Hände nach ihm ausstreckten.

Verzweifelt versuchte der Mann sich zu befreien. Er schlug um sich, packte die Anrichte, hielt sich an ihr fest und wollte sich so aus dem gefährlichen Sumpfboden ziehen.

Er schaffte es nicht.

Unaufhaltsam wurde er in die Tiefe gezerrt. Die schmatzende Masse um­klammerte bereits seine Hüften und stieg von Sekunde zu Sekunde höher.

Da begann Harry Custer zu schreien. Es war ein verzweifelter, von Panik er­füllter Todesschrei, der sich hallend an den kahlen Betonwänden brach, sich

fortpflanzte und in den weiten Gewöl­ben verlor.

Niemand hörte die Schreie des Man­nes, niemand kam ihm zu Hilfe.

Harry Custer kämpfte um sein Leben. Wild ruderte er mit den Armen. Immer wieder stemmte er sich ab. Der Aus­druck seines Gesichtes war kaum noch als menschlich zu bezeichnen. Speichel sprühte vor seinen Lippen, weit waren die Augen aus den Höhlen gequollen. Der unheimliche Sumpf schwappte schon bis an Custers Kinn. Custer hatte das Gefühl, als würde sein Unterkörper von gierigen Händen umklammert wer­den, die wie Feuer brannten und ihn in die heißeste Hölle zogen.

»Ich will nicht … Ich … ahhh …«

Custers letzter, panikerfüllter To­desschrei endete in einem Gurgeln. Der dämonische Sumpf hatte seinen Kopf erreicht, erstickte den Hilferuf unbarm­herzig.

Und wieder packte der Sumpf zu. Zehn, fünfzehn Sekunden vergingen. Nur noch eine Hand schaute hervor, und dann war der schreckliche Spuk vorbei.

Wie immer lag der harte, glatte Beton­boden des Kellers da. Fast nichts deutete darauf hin, dass sich hier vor Sekunden noch ein Drama abgespielt hatte.

Bis auf die vier Fingerkuppen, die etwa einen Zoll weit aus dem Betonbo­den hervorwuchsen …

 

 

Barry Barden war Vertreter. Kein Klin­kenputzer im üblichen Sinne, sondern Repräsentant eines internationalen Elektronikkonzerns. Das setzte natür­lich voraus, dass Barden immer unter­wegs war. Er kannte praktisch jede Hauptstadt der Welt und lebte nur aus dem Koffer. Er richtete auch Messen aus, war ein begehrter Fachmann und hatte ein Gehalt, das sich sehen lassen konnte.

Immer wenn er in London war – und das kam zwei bis dreimal im Jahr vor – besuchte er seinen Bruder.

James Barden lebte in einem der neuen Wohnsilos am östlichen Stadt­rand von London.

Das Hochhaus passte überhaupt nicht in die Landschaft. Wie ein viereckiger Klotz stach es aus der Wiesen- und Waldlandschaft hervor, verschandelte die Natur, und selbst die farbig ange­strichene Hausfassade tat nichts dazu, das Gebäude zu verschönern. Aber das störte die Menschen nicht, die in dem Haus lebten. Für sie war es nur wichtig, eine Wohnung zu haben.

Barry Barden lenkte seinen grünen Jaguar über die neu angelegte Straße, die in den großen Parkplatz vor dem Hochhaus mündete.

Barden hatte vor, bei seinem Bruder zu übernachten. Sie würden erst an­ständig einen heben, von alten Zeiten erzählen, und vielleicht hatte James auch ein paar Puppen aufgerissen, die mithalfen, den Abend zu verschönern.

Das Wetter in London war mies. Es war Ende November. Die ersten pappi­gen Schneeflocken fielen vom grauen Himmel. Sie schmolzen jedoch sofort, der Boden enthielt noch zu viel Wärme.

Barry war einunddreißig Jahre alt, passionierter Junggeselle und Modefan. Seine Kleidung war schick und teuer. Er kaufte bei den führendsten Mode­schöpfern der Welt. Auch jetzt saß der graue Anzug mit den Nadelstreifen wie angegossen. Keine Falte knickte die Hose. Das weiße Hemd war tailliert, die Krawatte aus Rohseide. Barry Bardens Wahlspruch lautete immer noch: Kleider machen Leute.

Jetzt passierte er das abgeteilte Ge­viert, in dem die Müllcontainer standen, und lenkte den Jaguar schließlich in eine vorgezeichnete Parktasche.

Rasch eilte er auf das Hochhaus zu. Hinter den meisten Fenstern brannte Licht. Eine Fassade voller heller, recht­eckiger Augen, so kam es Barden jedes Mal vor.

Etwa hundert Yards von dem Hoch­haus entfernt wurde ein Zweites gebaut. Strahler leuchteten einen Kran an, des­sen Gestänge wie kahle Totenfinger in den Himmel ragten.

Mit zwei Hausbewohnern ging Barry Barden auf den Eingang zu. Die breite Tür war aus Metall. Links von ihr schim­merten die Klingelbretter. Die Brief­kästen befanden sich unten im Flur. Auf der Eingangsstufe kauerten sechs Halbwüchsige. Sie trugen Lederjacken, qualmten um die Wette und ließen eine Flasche Gin kreisen.

Die Eingangshalle sah ziemlich ver­kommen aus. Ganze Putzbahnen waren aus den Wänden geschlagen worden, und ein paar leere Büchsen rollten auf dem Boden herum. Niemand dachte daran, sie wegzunehmen.

Während die beiden Hausbewohner zu einem der drei Lifts rannten, ließ Barden sich etwas Zeit.

Aus einem der Aufzüge kam eine Frau. Barden stutzte. Die Kleine hatte er noch nie hier gesehen. Schwarzer Rock, rote Bluse und eine Anatomie, die direkt zum Ausruhen einlud.

Barry Barden lächelte.

Auch das blondhaarige Girl bemerkte den Mann. Es blieb stehen, warf Barry einen eindeutigen Blick zu und hob dann bedauernd die Schultern.

»Tut mir leid, Mister, aber für heute bin ich belegt.«

»Schade. Es hätte wirklich ein herr­licher Abend werden können.«

»Davon bin ich überzeugt.« Die Blon­dine biss sich auf die Unterlippe. »Viel­leicht morgen. Apartment hundertzwölf, komm doch mal vorbei.«

Personen

  • Harry Custer, Mieter
  • Linda Custer, Harrys Ehefrau
  • May Chandler, Fotomodell, Callgirl
  • Barry Barden, Vertreter eines internationalen Elektronikkonzerns
  • James Barden, Barrys Bruder
  • Grünhäutiges Monster
  • Mrs. Pawless, Mieterin
  • vierschrötiger Mann, Mieter
  • Florence Barkley, alte Frau
  • John Sinclair, Oberinspektor bei Scotland Yard
  • Sir James Powell, Superintendent
  • Suko, Chinese, Johns Freund
  • Lee Roy Jackson, Architekt
  • Mrs. Pearson, Leiterin des Altenheimes Sun-House in Chelsea
  • Theo Plummer, Florence Barkleys Freund
  • Ted Storm, Skandalreporter
  • Vampir
  • vier halbwüchsige Rocker
  • Ed Musso, Mieter
  • Wilma Musso, Eds Ehefrau
  • Captain Dunner, Einsatzleiter der Feuerwehr
  • Hausmeister

Orte:

  • London

Quellen:

  • Jason Dark: John Sinclair Classics. Geisterjäger John Sinclair. Band 43. Bastei Verlag. Köln. 23.04.2019
  • Thomas König: Geisterwaldkatalog. Band 1. BoD. Norderstedt. Mai 2000