Der Detektiv – Der Einsiedler vom Dschebel Schamschan – 2. Kapitel
Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Harald Harst gegen Cecil Warbatty
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient
Der Einsiedler vom Dschebel Schamschan
2. Kapitel
Der Dolch des Arabers
Störmer machte dazu ein sehr zweifelhaftes Gesicht.
»Ich bitte Sie, Herr Harst«, meinte er, »wir leben doch nicht wie vor einigen fünfzig Jahren! Da mag etwas Derartiges möglich gewesen sein. Jetzt aber …«
Harst ging weiter. »Schnell zurück an Bord«, unterbrach er den Kapitän. »Ich werde Ihnen beweisen, dass ich recht habe.«
Um halb zehn stiegen wir das Fallreep der Westerland wieder empor.
Aus dem Speisesaal, der gleichzeitig Spiel- und Gesellschaftsraum war, erklangen die Töne des Pianinos. Jemand spielte den Fledermauswalzer.
Wir fragten einen Matrosen, ob Fräulein Held und der Doktor an Bord seien.
Die verneinende Antwort war Harsts erster Beweis für die volle Berechtigung seiner Sorgen.
Wir eilten die Treppe zum Speisesaal hinab. Es ging hier sehr vergnügt her. Benjamin Krögel hatte Sekt auffahren lassen. Morgen feierte seine dicke Gattin Geburtstag. Da sollte schon der Vorabend recht heiter sein.
In diese ahnungslose Gesellschaft platzten wir drei mit unseren todernsten Gesichtern hinein.
»Nanu, brennt es irgendwo? Sie machen ja …«
Harst war schnell auf den dicken Zahnarzt zugegangen, der in einem Klubsessel lehnte und sich den arabischen Dolch wie eine Busennadel durch die Krawatte geschoben hatte.
Harst blieb dicht vor ihm stehen. Ein Griff, und er hatte den Dolch in der Hand. Ein zweiter Griff, und Müller flog lang auf den Teppich, mit dem Gesicht nach unten.
Da begriff ich, sprang trotz des allgemeinen empörten Geschreis mit zu und half Harald dem Zahnarzt die Arme auf den Rücken fesseln.
Um uns herum der reine Hexensabbat. Selbst Störmer brüllte uns grob an.
»Zum Teufel, sind Sie denn verrückt geworden! So lassen Sie doch den kleinen Doktor in Ruhe!«
Harst nahm »Müller« beim Kragen und zwang ihn in den Sessel zurück.
Wieder ein Griff, und er hielt eine tadellos gearbeitete Scheitelperücke in der Hand. Noch ein Griff, und des Zahnarztes buschiger Schnurrbart zierte nicht mehr das Gesicht eines großen Verbrechers.
»Kapitän«, sagte Harst nun sehr laut zu Störmer, »ich übergebe Ihnen hier den vielfachen Mörder Cecil Warbatty, den ich jetzt noch beschuldige, bei der Beseitigung des Oberlehrers und der Entführung Fräulein Helds mitgewirkt zu haben.«
Totenstille folgte diesen Worten.
Dann – und es war dies etwas, das niemand vermutet hätte – dann hob Warbatty den bisher tief gesenkten Kopf und verbeugte sich mit einem zynischen Grinsen vor Harst: »Mein Kompliment! Ich hätte nicht gedacht, dass Sie mich erkennen würden. Nun, ich habe eben Pech gehabt! Damit, Ihnen hier auf der Westerland zu begegnen, hatte ich nicht gerechnet!« Und zu Störmer gewandt: »Kapitän, ich bin Cecil Warbatty! Ich verlange aber als englischer Untertan den englischen Behörden in Aden ausgeliefert zu werden. Lassen Sie mich in Eisen legen. Es ist Ihr gutes Recht.«
Ich war sprachlos. Ich hatte diesen geradezu unheimlichen Menschen doch schon von den verschiedensten Seiten kennen gelernt. Aber diese ungeheure, kaltblütige Frechheit überstieg denn doch alles, was ich diesem Mann zugetraut hatte.
Harst beobachtete Warbatty scharf. Als dieser nun schwieg, fragte er hastig: »Wo ist Fräulein Held geblieben? Wo Doktor Schlicht?«
Warbatty hob die Schultern. »Keine Ahnung!« Er beherrschte auch das Deutsche tadellos, sprach es ganz wie ein geborener Berliner.
»Sie lügen!«, sagte Harst mit eisiger Ruhe. »Sie waren es, der mit dem arabischen Händler drüben im Negerdorf sich zusammengetan hat, um die junge Dame zu rauben, die Sie zu irgendwelchen schändlichen Zwecken ausnutzen wollen!«
»Hirngespinste!«, erklärte Warbatty unbekümmert. »Ihre rege Detektivfantasie spielt Ihnen einen Streich. Was geht mich ein blondes Mädel wie die Held an? Meine Ziele sind andere.«
Harst nahm den Dolch vom Tisch auf. »Warbatty, diese Waffe hat eine besondere Bedeutung«, meinte er. »Ich habe jetzt nicht die Zeit, mich mit Ihnen noch weiter zu befassen. Ich werde Hilde Held finden – tot oder lebendig!«
Dann sagte er zu Störmer: »Kapitän, ich rate Ihnen dringend, diesen Mann so zu bewachen, dass jeder Fluchtversuch von vornherein unmöglich ist. Und dann: Geben Sie auf Ihren Dampfer acht! Ich vermute, Warbatty wird die Neger überredet haben, Ihr Schiff zu überfallen, auszuplündern und zu versenken, alle Weißen aber nach dem Sudan hin als Sklaven zu verkaufen. Lächeln Sie nicht so ungläubig! Bedenken Sie: Die Westerland liegt hier in einer ganz entlegenen Bucht. Kein Mensch weiß, dass Sie diese Bucht haben ansteuern müssen! Und kein Mensch wird je erfahren, wo der Dampfer geblieben ist, wenn er hier erst zehn Meter unter Wasser liegt!«
Störmer wurde nachdenklich, meinte dann: »Sie haben recht, Herr Harst! Vorsicht kann nicht schaden.«
Zehn Minuten später brachte ein Boot uns beide in aller Stille an einer Stelle mehr nach der offenen See zu an Land.
Und wieder eine halbe Stunde drauf hatte Harst dem Dorfältesten für eine hohe Summe, die den Schwarzen ganz gefügig machte, zwei Reitkamele nebst Sattelzeug abgekauft.
Wir hatten nur kleine Bündel mit dem Allernotwendigsten von der Westerland mitgenommen. Inzwischen war der Mond aufgegangen. Harst fand auch bald die Fährte der vier Kamelreiter. Wir folgten ihr, so schnell es ging. Dann etwa gegen zwei Uhr morgens bogen die Spuren aus der sandigen Wüste in ein steiniges Tal ein. Gleichzeitig sahen wir links vor uns ein paar helle Lichter.
Die Fährte war auf dem harten Boden nicht mehr zu erkennen. Wir hielten also auf die Lichter zu. Und nach zehn Minuten trafen wir auf ein paar moderne Häuser, trafen zwei Neger, die uns sagten, der Ort vor uns sei die kleine Hafenstadt Imadri.
Wir jagten den Hafenanlagen zu, wo bei elektrischem Licht gerade ein großer Dampfer seine Ladung löschte.
Eine Stunde brauchte Harst, bis wir herausgebracht hatten, dass ein Schoner, der dem arabischen Händler Selim Mustafa gehörte, soeben erst den Hafen verlassen hatte, nachdem dessen Besitzer von einer Handelstour die Küste entlang zurückgekehrt war.
Mehr war nicht zu erfahren. Harst mietete sofort ein gedecktes, großes Motorboot, welches Eigentum eines holländischen Kaufmanns war, auf unbestimmte Zeit, hinterlegte als Sicherheit eine größere Summe und erreichte, dass wir gegen vier Uhr morgens mit dem Benzinkutter die Verfolgung des Schoners aufnehmen konnten.
Der Holländer Reikmer hatte uns zwei seiner Leute, die mit der Bedienung des Bootes vertraut waren, mitgegeben. Die beiden waren Mulatten und machten einen recht intelligenten Eindruck. Harst versprach ihnen eine hohe Belohnung, wenn wir den Schoner einholen würden.
Wir begegneten ein paar Küstenseglern, die wir anriefen. Der Schoner war fraglos nach Süden zu unterwegs. Das hatten wir in Kurzem mit aller Sicherheit festgestellt.
Es wurde heller und heller. Harst stand auf dem Kajütaufbau mit seinem Fernglas und suchte den Horizont ab. Bei dem schwachen Wind konnte der Schoner keinen zu großen Vorsprung haben. Bisher hatten wir nicht die Zeit gehabt, uns in Ruhe aussprechen zu können. Mir brannten hundert Fragen auf der Zunge. Wenn ich je Harald Harsts geradezu an das Übernatürliche grenzendes Kombinationstalent bewundert hatte, dann war es bei den Vorgängen auf der Westerland gewesen. So einfach diese Geschehnisse auch schienen: Überlegte man sie sich genauer, so stieß man überall auf die Beweise für meines Freundes scharfe Beobachtungsgabe und Fähigkeit, Dinge miteinander in logische Verbindung zu bringen, die dem gewöhnlichen Sterblichen nie beachtenswert erschienen wären. Ganz unerklärlich war mir zum Beispiel, wie er Warbatty in der Verkleidung des Zahnarztes Müller so schnell hatte durchschauen können und wie er sogleich auch über das Schicksal Hilde Helds das Richtige vermutet hatte. Nun, ich wusste: Wenn er die Zeit für gekommen hielt, würde er schon sprechen.
Nun setzte er das Glas ab und sagte fast verzweifelt: »Nichts von dem Schoner – keine Spur! Und wir hätten ihn längst überholt haben müssen! Das arme Mädchen! Sie hat mir anvertraut, dass sie heimlich verlobt ist. Der Bräutigam gehört einer schwerreichen Hamburger Patrizierfamilie an, die natürlich mit allen Mitteln sich gegen diese Heirat wehrt. Hilde ist einfacher Leute Kind. Und Hamburger Patrizier sind hochmütiger als ein frischgeadelter Herr »von« Meir, dessen Ahnen noch im Judenviertel von Warschau hausten. Eine verdrehte Welt, mein lieber Schraut! Überall lächerliche Vorurteile und kurzsichtige Überhebung! Was tun wir nur, um das Mädchen diesen arabischen Halunken zu entreißen! Hier sehe ich meine Ohnmacht ein. Das Wasser der Meere verwischt jede Spur. Der Schoner kann den Kurs geändert und schnell in eine der zahlreichen Buchten der Küste hineingeschlüpft sein! Was tue ich nur?«
Müde und hoffnungslos hob er das Fernglas wieder an die Augen. Dann – sein Körper straffte sich.
»Schraut, halbrechts ein Schoner! Er muss es sein! Die Takelung verrät ihn, auch der knallgelbe Anstrich!«
Er rief dem Mulatten am Steuer zu, direkt südwärts zu steuern.
Zehn Minuten drauf jagte unser Motorkutter im Bogen um den Schoner herum, an dessen Deck sich acht Leute befanden, drei Araber und fünf Neger.
Harst brüllte hinüber: »Wir wollen an Bord! Dreht sofort bei!«
Ich hatte nimmermehr geglaubt, dass die farbige Bande gehorchen würde. Aber der Schoner ließ wirklich die Großsegel fallen und lief in den Wind, schaukelte bald träge auf den schwachen Wellen.
»Willst du etwa hinüber und das Schiff durchsuchen?«, meinte ich warnend. »Bedenke, es sind ihrer acht und sicherlich Leute, denen es auf einen Mord nicht ankommt.«
Er hörte gar nicht hin, fragte vielmehr: »Schraut, erkennst du dort drüben den Händler, der in dem Negerdorf war?«
»Nein. Der Mann befindet sich nicht unter den acht. Er war auffallend groß und trug den schwarzen Bart spitz geschnitten.«
»So. Dann wage ich es!«, meinte er. »Begleite mich. Tritt sicher auf. Ich hoffe die Schufte zu überlisten.«
Der Kutter legte an dem kleinen Fallreep an. Harst kletterte an Deck. Ich folgte ihm auf dem Fuße. Einer der Araber kam uns entgegen, ein kleiner Kerl mit furchtbaren O-Beinen. Der Mensch sah aus, als hätte er soeben eine Tracht Prügel bekommen.
»Schlechtes Gewissen!«, murmelte Harst.
Der Säbelbeinige bücklingte sehr europäisch und kauderwelschte auf Englisch-Französisch: »Master, was steht zu Diensten?«
»Dieser Schoner ist doch Selim Mustafas Eigentum? Er sagte mir, das Schiff sei gelb gestrichen.«
»Sehr richtig, Master. Er gehört Selim Mustafa.«
»Ah, das freut mich. Ich habe mit deinem Herrn – du bist doch wohl der Kapitän – ein kleines Geschäft abgeschlossen. Du weißt, was dieser Dolch bedeutet?«
Er hatte in die Brusttasche gefasst und die kostbare Waffe, deren Griff in einen Petschaftknopf auslief, hervorgezogen.
Der Araber nickte eifrig. »Master, ich sehe, dass Selim Euch großes Vertrauen schenkt.«
Harst lächelte freundlich. »Das tut er. Er hat mir nahegelegt, dir den Dolch wieder auszuhändigen, sobald du mir die junge Weiße übergeben hast. Ich habe sie ihm abgekauft. Die Verfolger sind hinter euch her, lässt Selim Euch sagen. Ihr sollt daher sofort einen Schlupfwinkel aufsuchen und dort mindestens acht Tage bleiben. Bringe das Mädchen mit verhülltem Kopf auf Deck. Es darf uns beide nicht sehen, meinen Handelsfreund und mich. Vorwärts nun. Wir müssen eilen. Eine englische Privatjacht, die 24 Knoten läuft, ist auf unserer Spur.«
Der Säbelbeinige bücklingte wieder, ging zu seinen Kumpanen, beriet mit diesen und kam dann zu uns zurück und meinte: »Master, wenn Ihr ein Vertrauter Selims seid, so werdet Ihr auch wissen, wohin wir das Mädchen bringen sollten. Gewiss: Der Dolch ist der beste Ausweis für Euch. Aber wir müssen vorsichtig sein!«
Harst klopfte ihm auf die Schulter. Ich aber dachte: Nun kommt der Reinfall! Harst hat keine Ahnung über das Fahrtziel des Schoners!
Doch Harald erklärte sehr ruhig: »Nach Steamer Point in Aden.« (Der Handelshafen Adens liegt auf der Westseite der gleichnamigen Halbinsel in der Tuwaji-Bai).
Der Säbelbeinige war befriedigt. »Gut, Master, wir bringen das Mädchen!«
Sie brachten Hilde Held mit dicht verhülltem Kopf an Deck, wo wir sie absichtlich recht grob scheinbar mit fort in den Kutter und dessen kleine Kajüte zerrten.
Harst nahm Hilde Held schnell die Decke vom Kopf.
»Keine Angst weiter, liebes Kind«, sagte er zu der Bedauernswerten, die halb tot vor Angst war. »Sie sind gerettet.«
Der Kutter raste bereits davon. Hinter uns her hagelte die Schmähflut der Flüche der Araber, denen Harst den Dolch nicht übergeben hatte und die jetzt merkten, dass sie die Hineingelegten waren. Denn Harst war sofort wieder an Deck geeilt und hatte ihnen ironisch zugerufen: »Ich werde dafür sorgen, dass ihr Schufte aufgehängt werdet! So wahr ich kein Mädchenhändler bin!«
Hilde erholte sich schnell. Bald konnte sie ein wenig lächeln. Sie meinte, sie hätte gewusst, dass Harst sie befreien würde. »Ein Mann wie Sie bringt alles fertig«, fügte sie in ehrlicher Bewunderung hinzu.