Hannikel – 3. Teil
Christian Friedrich Wittich
Hannikel
oder die Räuber- und Mörderbande, welche in Sulz am Neckar in Verhaft genommen und daselbst am 17. Juli 1787 daselbst justifiziert wurde
Verlag Jacob Friderich Heerbrandt, Tübingen, 1787
Hannikel und seine Brüder Geuder und Wenzel kamen auch wirklich so weit abwegs, dass sie zuletzt Ungesittetheit und Rohheit vor Schnellkraft und Geistesstärke, Tücke für feine Klugheit, und das Bewusstsein, Böses getan zu haben, für edles Selbstgefühl hielten.
Sollte nun wohl der geneigte Leser, der vorläufig schon Hannikel und seinen Brüdern das Wiedervergeltungsrecht angekündigt und sie mit zornigen Gebärden und aufgeschwollenem Busen entweder unter das Rad gelegt oder an vier Pferde gespannt hat, wann er diese ihre traurige Erziehungsgeschichte hört, seine Affekten nicht ein bisschen mäßigen und gelinder über sie urteilen? Einmal müssen wir über uns selbst erschrecken, wenn wir uns vorstellen, was bei einer ähnlichen Erziehung aus uns geworden wäre.
Da wir wissen, wie viele Anstrengung bei aller Kultur und bei den besten Hilfsmitteln dazu nötig ist, nur eine heftige Neigung zu besiegen, die scheinbaren Vorteile, die bisweilen mit der Sünde verknüpft sind, zu verschmähen und die großen Schwierigkeiten, die man nicht selten auf dem Weg der Tugend antrifft, zu übersteigen.
Wie vieles ließe sich hier nicht auch über Erziehung anmerken, allein, da mich dieses von meinem Hauptzweck, bloß Hannikels Geschichte zu erzählen, abführt, so schalte ich sogleich wieder in dieselbe ein.
Hannikel und seine Brüder beschäftigten sich nun ihre ganze Kindheit und einen großen Teil ihrer Jünglingsjahre hindurch mit nichts Wichtigerem, wie mit Betteln und Müßiggehen. Nur je und je halfen sie den Leuten, bei welchen sie mit ihrer Mutter Quartier nahmen, eine kleine Arbeit zu verrichten, die ihnen aber gleich beschwerlich wurde, sobald sie nur etliche Stunden dauerte.
Die alte Geisin war nun Witwe und im Grunde ein armes Weib. Des unaufhörlichen Bettelns endlich auch müde, entschloss sie sich, den ihr zu Laar im Breisgau gemachten Antrag anzunehmen und mit Wenzel die Gänse zu hüten, Hannikel ihrem älteren Buben aber die Schweineherde dort neben sich zu überlassen, welches Geschäfte sie dann auch etliche Monate hindurch trieben. Allein eben das war die unglückselige Periode, in welcher Hannikel und seine Brüder gleich einem Kieselstein mitten in den Strom des Verderbens hineingeschleudert wurden.
Als Hannikel eben etlichen Schweinen nachsprang, welche von der Herde ausreißen wollten, und die Geisin ihrem Wenzel das Haar auf ihrem Schoß in Ordnung brachte, liefen unversehens vier Männer querfeldein und gerade auf sie zu. Es waren der große Bochowiz der kleine Lauratti, Bronetscha und Clemens, welcher Letztere bald darauf zu Eisersthal erschossen worden war. Sie waren lauter Zigeuner und teils Anverwandte von der Geisin, teils gute Bekannte von ihrem verstorbenen Mann her. Sie gingen in der Absicht aus, um die Geisin, mit der sie schon ehedem Umgang hatten, nebst ihren Kindern aufzusuchen und ihnen Schutz und Unterstützung anzubieten, wenn sie ihnen folgen und sich unter ihr Kommando begeben würden.
Da die Geisin eine Witwe war und bei ihrem Gänsehüten eben wenig gute Bissen zu kosten hatte, so war sie sogleich entschlossen, diesen Antrag anzunehmen. Sie packte ihre Sachen in etliche Bündel zusammen, schlang den einen davon um ihren eigenen Rücken, packte die anderen auf ihre Jungen, machte sich mit ihnen auf den Weg und bekümmerte sich nicht mehr um Gänse und Schweine.
Niemand war hierüber freudiger als die jungen Burschen. Sie glaubten eine Reise ins Gelobte Land zu tun und hüpften immer voraus. Nach etlichen Tagen waren sie da, wo sie hin wollten.
Sie trafen die ganze Vetter- und Basengesellschaft in einem abgelegenen dichten Wald an, in welchem sie sich um ein Feuer gelagert und allerlei Zurüstungen auf die Ankunft ihrer lieben Gäste gemacht hatten.
Ihre Umarmung war feurig. Bald nach ihrer Bewillkommnung hielten sie offene Tafel, verzehrten etliche gebratene fette Igel, mehrere Schüsseln voll Gebackenes und stießen auch die Becher weidlich aneinander. Zuletzt reihten sie sich zum Tanz, Dudelsack und Schalmei ertönten und sie ließen folgendes Stückchen aufspielen:
Das Völklein, das Zigeuner heißt
beurteilt man oft schiefer
als andere Leute, weit und breit
nennt man es Ungeziefer.
Und doch gleicht uns an Brauchbarkeit
wohl niemand auf der Erden.
Was jedes wünscht, das kann ihm leicht
durch uns’re Künste werden.
Wir zeigen um ein Groschenstück,
wo noch, seit alten Kriegen,
im Keller, oder unterm Dach
verborgene Schätze liegen.
Der junge Herr kriegt einen Dienst
von uns, und auch ein Bräutgen,
reich, artig, jung, flink wie ein Topf
mit einem feinen Häutgen.
Der Jungfer, gibt sie gute Wort
dem braunen Streifermädchen,
bescheren wir den besten Mann
im Dorfe oder Städchen.
S’ist schlampig, liegt in einem Haus
oft alles durcheinander;
wir räumen auf, sind säuberlich,
und lernen es einander.
Schon mancher glaubte toll und kühn,
es gäbe keinen Teufel.
Er sah, er hörte, fühlte uns,
und weg war aller Zweifel.
Oft wurde schon der liebste Gast,
blieb er zu lang, zuwider;
wir bleiben nirgends Tag und Nacht,
gleich trollen wir uns wieder.
Wir suchen unser Stücklein Brot,
wie andre durchs Hausieren.
Drum lasse man Zigeunerleut
als brave Leut passieren.